Sonntag, 2. September 2012

Kainszeichen

Predigt am 13. Sonntag nach Trinitatis, 2.9.2012, über Genesis 4,1–16

Liebe Gemeinde,

nach einer gewissen Zeit im Urlaub - nach zwei Wochen oder drei, bei manchen schon nach zehn Tagen - kommt der Moment, an dem man sich wieder auf Zuhause freut. Eine Weile hat man es genossen, “unstet und flüchtig” zu leben, als Fremde oder Fremder unter Einheimischen. Zwar nicht mit einem Kainszeichen versehen, und doch sofort als “nicht von hier” erkannt. Aber dann kehrt ganz sacht die Sehnsucht zurück nach der vertrauten Umgebung, nach den Begegnungen mit Nachbarn und Freunden, den liebgewordenen Dingen, dem eigenen Garten. Die Sehnsucht, heimisch zu sein und dazuzugehören. Im Lande Heimatlos zu leben erfreut nur für begrenzte Zeit.

I
Wenn man zurückkehrt aus dem Urlaub, muss man sich einer Gesichtskontrolle unterwerfen. Kommt man aus dem Ausland, findet sie schon an der Grenze statt: Die Übereinstimmung der Person mit dem Foto auf dem Ausweis wird festgestellt. Zugleich wird auch überprüft, ob man vielleicht ein gesuchter Straftäter oder eine Terroristin ist. Weil man das weiß, blickt man dem Zollbeamten offen und gerade ins Gesicht. Denn man hat ja nichts verbrochen. Erst bei der Frage, ob man etwas zu verzollen hat, wird der Blick manchmal unsicher, die Augen senken sich unwillkürlich; nur gute Schauspieler behalten die Unbekümmertheit bei, die es braucht, um keinen Verdacht zu erwecken.

Alle anderen werden zuhause kontrolliert: Familienmitglieder, Nachbarn, Freunde prüfen am Bräunungsgrad des Gesichtes die behauptete Erholung nach. Und auch hier zeigt sich am offenen oder ausweichenden Blick, ob das, was in der Urlaubspost behauptet wurde, mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Es zeigt sich auch, ob der Urlaub ein gestörtes Verhältnis, einen Streit oder eine Verletzung heilen konnte, oder ob da noch immer etwas zwischen den Personen steht, das einen geraden, offenen Blick verhindert, weil es einen oder beide belastet.

Wer nichts verbrochen, wer nichts zu verbergen hat, kann einem offen in die Augen sehen. Wer dagegen dem Blick ausweicht, wer sich gar vermummt, dem ist Böses zuzutrauen. Mit diesem Argument sammeln staatliche Stellen mehr und mehr Informationen, sammeln und speichern immer mehr Daten, denn ein braver Bürger, eine rechtschaffene Bürgerin hat schließlich nichts zu verbergen.

II
Kain senkt seinen Blick. Er kann Gott nicht ins Gesicht sehen. Wir müssen uns bei dieser Geschichte, die ja noch in paradiesischen Zeiten, wenn auch nicht mehr im Paradies spielt, Gott als leibhaftiges Gegenüber vorstellen, wie eine Mutter oder ein Vater. Kain kann diesem Vater Gott nicht in die Augen sehen. Es steht etwas zwischen ihm und Gott: dass er Abels Opfer ansieht, seins aber nicht.

Wir müssen uns bei dieser Geschichte auch von unserem modernen Interesse an der Rolle trennen, die Gott in dieser Geschichte spielt. Wir stören uns an der Willkür, mit der Gott das eine Opfer ablehnt und das andere annimmt und so die Wut Kains erst weckt, die zu der schrecklichen Tat, zum Mord an seinem Bruder Abel, führt. Aber diese Willkür Gottes war für den Erzähler der Geschichte kein Problem. Und wer von Ihnen Geschwister hat, wird solche Willkür vielleicht auch schon erlebt haben. Denn bei aller Liebe zu ihren Kindern gelingt es Eltern nicht immer, ihre Liebe gerecht zu verteilen. Sie haben manchmal ein Kind lieber als das andere, bevorzugen - willentlich oder unwillkürlich - eines ihrer Kinder, freuen sich mehr über ihre oder seine Leistungen als über die der anderen. Auch von Vorgesetzten kann man solche - scheinbar oder tatsächlich - willkürliche Behandlung erleben, die Bevorzugung einer Kollegin oder eines Kollegen.

III
Die Geschichte von Kain und Abel ist deshalb eigentlich eine ganz alltägliche Geschichte, trotz ihres kriminellen Endes. Sie handelt vom Neid auf den, der besser behandelt wird als man selbst. Dieser Neid entlädt sich in Zorn, im Hass, in Gewalt - zum Glück nur selten in einem Mord. Aber wer die Worte Jesu im Ohr hat: “Wer mit seinem Bruder zürnt, der ist des Gerichts schuldig; wer aber zu seinem Bruder sagt: Du Nichtsnutz!, der ist des Hohen Rates schuldig; wer aber sagt: Du Narr!, der ist des höllischen Feuers schuldig” (Matthäus 5,22), der ahnt, dass Jesus nicht warten will, bis Blut fließt. Jesus fasst den Tatbestand des Tötens viel weiter, als es unser Empfinden oder das Strafgesetzbuch tun. Er sieht - wie übrigens auch Gott in der Geschichte von Kain und Abel - den Vorsatz als die Tat an. So wie Gott bereits auf den Zorn und den gesenkten Blick Kains reagiert, so stellen für Jesus Streit und abwertenden Worte bereits eine Vernichtung des Gegenübers dar.

Aber wenn Jesus so radikal denkt - dann wären wir ja alle wie Kain! Denn jede und jeder von uns hat wohl schon einmal einem Mitmenschen die Krätze - oder schlimmeres - an den Hals gewünscht, hat sich mit Bruder oder Schwester böse gestritten. Wohl jede und jeder hat im Laufe seines Lebens Beziehungen, Freundschaften zu Menschen beendet, denen man niemals wieder begegnen will. Und nur zu leicht rutscht einem eine abwertende Bemerkung über jemanden heraus - auch und gerade über Menschen, die man nicht kennt. Diese Ausländer zum Beispiel ... die Arbeitslosen ... diese schmuddligen Penner in der Fußgängerzone ...

Immer wieder werden Menschen von uns ausgegrenzt und mit einem Makel behaftet. Immer wieder würdigen wir Menschen herab, wissentlich oder unwillkürlich, weil wir Vorurteile oder Gerüchte über sie weiterverbreiten, weil es Spaß macht, über andere zu lästern, weil man sich von ihnen abheben, abgrenzen möchte. Aber nicht die, die unstet und flüchtig leben müssen, weil sie keinen Platz in der Gesellschaft finden oder bekommen, tragen das Kainszeichen. Kain, das sind wir.

IV
Kain, dem die Last seiner Schuld zu schwer ist, wird von Gott mit einem Zeichen versehen, das ihn schützen soll. Der Täter soll nicht zum Opfer werden. Die Populisten argumentieren anders: “Todesstrafe für Kinderschänder!”, heißt es auf Plakaten der NPD. Und die Nachricht, dass Anders Breivik, der die Morde von Oslo und Utoya beging, “nur” die Höchststrafe von 21 Jahren erhielt, hat nicht bei allen Zustimmung gefunden; manche hätten ihn härter bestraft.

Wenn es uns gelänge, den Blick von den schrecklichen Extremen tatsächlichen Mordes hin auf den alltäglichen Totschlag im Kleinen: auf die verletztenden Bemerkungen, die Erniedrigungen und Ausgrenzungen zu lenken; wenn wir uns bewusst würden, dass wir selbst Kain sind, auch wenn wir niemals einen Menschen töten könnten, dann würden wir bemerken, dass wir selbst das Kainszeichen tragen. Jede und jeder von uns ist damit gezeichnet.

Aber anders als Judenhut und Judenstern aus düsteren Zeiten ist das Kainszeichen nicht sichtbar. Es bezeichnet auch nicht einen Makel. Es zeigt, dass Gott uns nicht zu Opfern werden lassen will, obwohl wir so oft Täterinnen und Täter sind. Es soll uns doch nicht dasselbe widerfahren, das wir anderen Menschen antun. Wir sollen verschont bleiben, wir sollen leben, sollen neu und anders leben können. Das Kainszeichen ist für uns ein Zeichen von Gottes Vergebung.

V
Unstet und flüchtig muss Kain leben - das ist der Preis, den er für seine Tat bezahlen muss. Er zieht ins Land “Nod”, ein sprechender Name, er heißt übersetzt: heimatlos. Kain im Lande Heimatlos findet kein Zuhause, bleibt Flüchtling, Asylbewerber, Gastarbeiter, Fremder.

Wir, die wir aus dem Urlaub, aus einem kurzen Abstecher in das Land Heimatlos, in dem wir gern gesehene und geachtete Gäste waren, wieder in unsere vertraute Umgebung zurückgekehrt sind, wir sollten nicht vergessen, dass wir wie Kain sind. Wir sollten Mitgefühl haben mit allen, die unstet und flüchtig leben müssen, mit allen, die kein Zuhause haben. Die keine Familie, Freunde oder Nachbarn haben, die sich auf sie freuen. Wir sollten denen ins Gesicht sehen, an denen unser Blick sonst achtlos vorbeigleitet oder bei denen wir absichtlich wegsehen, und ihnen ein Lächeln schenken: Ein Zeichen unseres Respektes und unserer Wertschätzung. Wir sollten voller Mitgefühl und Solidarität sein mit allen, die wie Kain leben müssen, weil auch wir wie sie, weil auch wir wie Kain sind: wir sind Menschen, denen Gott vergeben hat.
Amen.