Samstag, 22. September 2012

Intensität


Predigt am 16. Sonntag nach Trinitatis, 23. September 2012, über Apostelgeschichte 12,1–12:

Um diese Zeit begann König Herodes, die Gemeinde in Jerusalem zu verfolgen, und ging mit Gewalt gegen einige ihrer Mitglieder vor. Jakobus, den Bruder des Johannes, ließ er mit dem Schwert hinrichten. Als er sah, dass er den Juden damit einen Gefallen tat, setzte er den eingeschlagenen Kurs fort und ließ auch Petrus festnehmen, und zwar gerade während der Zeit, in der das Passafest gefeiert wurde, das Fest der ungesäuerten Brote. Herodes ließ Petrus ins Gefängnis bringen und beauftragte vier Gruppen zu je vier Soldaten mit seiner Bewachung; nach den Festtagen wollte er ihn dann vor allem Volk aburteilen. Während Petrus nun also streng bewacht im Gefängnis saß, betete die Gemeinde intensiv für ihn zu Gott. In der Nacht vor der von Herodes geplanten öffentlichen Verurteilung schlief Petrus zwischen zwei Soldaten, mit je einer Kette an sie gefesselt; und vor der Tür seiner Zelle waren Posten aufgestellt und hielten Wache. Mit einem Mal stand ein Engel des Herrn in der Zelle, und helles Licht erfüllte den Raum. Der Engel gab Petrus einen Stoß in die Seite, um ihn zu wecken. »Schnell, steh auf! «, sagte er. Im selben Augenblick fielen die Ketten, die Petrus um die Handgelenke trug, zu Boden. Der Engel sagte: »Binde den Gürtel um und zieh deine Sandalen an!«, Petrus tat es. »Und jetzt wirf dir den Mantel über und komm mit!«, sagte der Engel. Petrus folgte ihm nach draußen, allerdings ohne zu wissen, dass das, was er mit dem Engel erlebte, Wirklichkeit war; er meinte vielmehr, er hätte eine Vision. Sie passierten den ersten Wachtposten, ebenso den zweiten, und als sie schließlich zu dem eisernen Tor kamen, das in die Stadt führte, öffnete es sich ihnen von selbst. Sie traten ins Freie und gingen eine Gasse entlang – und plötzlich war der Engel verschwunden. Da erst kam Petrus zu sich. »Wahrhaftig«, sagte er, »jetzt weiß ich, dass der Herr seinen Engel gesandt hat! Er hat mich Herodes und seiner Macht entrissen und hat mich vor all dem bewahrt, was das jüdische Volk so gern gesehen hätte.« Nachdem er über seine Lage nachgedacht hatte, ging er zum Haus von Maria, der Mutter des Johannes, der den Beinamen Markus trägt. Dort war eine große Zahl von Christen zum Gebet versammelt.



Liebe Gemeinde,

wann kommt der Engel mal zu uns?
Oder darf man diese Frage nicht stellen?
Hieße das, Gott zu versuchen - was man bekanntlich nicht darf -,
wenn man sich wünschte,
dass man selbst auch einmal das erlebt,
was Petrus erfahren durfte?

I
Unglaublich, die Geschichte dieser Befreiung.
Noch unwahrscheinlicher als die sensationellen Tricks,
mit denen es James Bond jedes Mal gelingt,
seinen Kopf im letzten Moment aus der Schlinge zu ziehen,
oder mit denen die phantastischen Coups
von Ocean’s 11, 12 oder 13
wider Erwarten und wider alle Vernunft doch noch gut gehen.

Es wird wirklich alles aufgeboten,
um ein Ausbrechen aus diesem Gefängnis unmöglich zu machen.
Petrus wird wie ein hoch gefährlicher Schwerverbrecher bewacht.
Er schläft zwischen zwei Wachen,
an die er mit Handschellen gekettet ist.
Zwei weitere stehen direkt vor der Zellentür.
Bis zum - natürlich verschlossenen - schmiedeeisernen Ausgang
gibt es noch einmal einen Wachtposten.
Hier kommst du nit ’raus“,
ist die Botschaft dieser Beschreibung.

Dass es doch gelingt,
ist sozusagen ein Akt höherer Gewalt.
Plötzlich taucht ein Engel auf,
der Petrus aus dem Gefängnis befreit.
Er muss dazu keinen Finger krümmen.
Alles geschieht automatisch:
Handschellen fallen ab, Türen öffnen sich.
Die Wachen sind gar nicht mehr da,
verschwunden, schlafend, tot - einfach fort.
Plötzlich taucht ein Engel auf.
Das passiert selbst einem Petrus nicht alle Tage.
Man könnte meinen:
Wo der Engel schon mal da ist,
hat er dem Petrus doch bestimmt auch etwas auszurichten.
Schließlich bedeutet das Wort Engel “Bote”.
Aber der Engel hat keine Botschaft für Petrus.
Er spricht nur das Nötigste,
nur das Selbstverständliche und Offensichtliche:
Beeil dich. Zieh dich an. Komm mit.

Petrus bekommt von all dem gar nichts mit.
Er ist nicht bei sich,
er befindet sich wie in Trance, wie in einem Traum.
Ein Traum, der Wirklichkeit wird:
Als er zu sich kommt,
findet er sich vor den Toren des Gefängnisses wieder.

II
Ist das nicht eigenartig?
Da passiert so ein unglaubliches Wunder,
das jede Autorin, jeder Autor
auf dutzenden von Seiten ausführlich schildern würde.
Lukas aber teilt uns nur dürre Fakten mit.
Es ist unserer Phantasie überlassen,
uns die Szene auszumalen.
Die Phantasie lässt sich auch nicht lange bitten:
Sie stellt sich das schrecklich dunkle Gefängnis,
stellt sich den strahlenden Engel vor
und überbrückt das, was Lukas ausgelassen hat,
mit eigenen Theorien.
Was ist mit den Wachen?
Sie werden in Ohnmacht gefallen
oder vom Engel in Tiefschlaf versetzt worden sein.
Wie öffneten sich die Türen?
Es wird ein Erdbeben gegeben haben, usw.

Lukas scheint das alles nicht zu interessieren.
Es kommt ihm nicht so darauf an.
Lukas berichtet von der wunderbaren Zeit der Apostel,
berichtet vom Entstehen der Kirche,
das von außergewöhnlichen Ereignissen begleitet ist.
Aber schon seinen Zeitgenossen
wird es gegangen sein wie uns heute.
Auch sie werden sich und Lukas gefragt haben:
Wann kommt der Engel mal zu uns?

Nun kann man einwenden,
dass für die Menschen der Antike die Vorstellung vertraut war,
dass Erde und Himmel
nicht nur von sichtbaren Wesen belebt und bewohnt sind,
sondern auch von Geistern und Engeln;
dass in jeder Quelle und in jedem Baum eine Nymphe lebte,
dass Menschen von Dämonen besessen werden konnten.
Aber schon damals werden sie die gleiche Erfahrung gemacht haben,
die wir heute auch machen:
Wunder und ähnliche Formen des Eingreifens einer höheren Gewalt,
so viele Geschichten es auch darüber gibt,
- man selbst erlebt sie nie.
Obwohl man sie manchmal wirklich dringend brauchen könnte.
Aber Engel machen sich rar, und zu uns kommen sie nie.

III
Aber warum erzählt Lukas dann diese Geschichte?
Um uns zu zeigen, wozu Gott in der Lage wäre,
wenn er nur wollte - bloß, dass er nicht will?
Um uns Respekt einzuflößen
vor dem heiligen Petrus,
dem Wunder widerfuhren,
die wir nie erleben werden?

Es muss einen anderen Grund geben,
aus dem Lukas diese Geschichte erzählt.
Wenn wir uns die Geschichte daraufhin noch einmal anschauen,
fallen zwei Dinge auf,
die bemerkenswert sind:
Der Engel redet mit Petrus über Selbstverständlichkeiten.
Und von der Gemeinde heißt es,
dass sie nach Petrus’ Verhaftung intensiv zu Gott betete.

In einem amerikanischen Gefängnis sitzt ein Deutscher
seit über zwanzig Jahren in Haft.
Er soll die Eltern seiner Freundin ermordet haben.
Er selbst bestreitet die Tat,
wurde auch nur aufgrund von Indizien verhaftet,
deren Beweiskraft von manchen angezweifelt wird.
Er versucht wieder und wieder,
eine Aufnahme des Verfahrens zu erwirken - ohne Erfolg.
In der Süddeutschen Zeitung wurde mehrfach über seinen Fall berichtet - Sie haben vielleicht davon gehört.
Mir geht es jetzt nicht darum,
ob dieser Mann zu Unrecht oder zu Recht im Gefängnis sitzt.
Mir geht es darum, wie er das aushält,
im Bewusstsein, unschuldig zu sein,
ohne Hoffnung auf Entlassung
sein Leben in diesem Gefängnis zubringen zu müssen.

Zwei Dinge sind es,
die ihn die Hoffnung nicht aufgeben lassen
und die ihn am Leben halten:
Die tägliche Routine - die selbstverständlichen,
die notwendigen Dinge, die eben jeden Tag getan werden müssen,
vom Aufstehen und Zähneputzen
bis hin zum Studium der Akten,
zum Einreichen einer neuen Petition.
Und die Tatsache, dass Menschen außerhalb des Gefängnisses
an ihn denken, über ihn schreiben,
sich für ihn einsetzen
und ihm so zeigen, dass er ihnen etwas bedeutet.

IV
Niemand von uns wird wahrscheinlich je in ein Gefängnis kommen.
Und trotzdem können wir uns vorstellen,
wie man sich da fühlen muss.
Weil wir ähnliche ausweg- und aussichtslose Situationen erlebt haben. Situationen, in denen wir uns gefangen, gefesselt fühlten.
Sei es durch eine Krankheit, die uns ans Bett fesselte,
sei es durch einen Fehler, ein schuldhaftes Verhalten,
das uns jemanden in die Hand gab,
auf dessen Vergebung wir angewiesen waren.
Man kann in einem Irrtum befangen sein
oder an den Alkohol oder eine andere Droge gekettet.
Allen diesen Situationen gemeinsam ist,
dass es eigentlich ein Wunder braucht,
das Eingreifen einer höheren Gewalt,
um uns daraus zu erretten.
Aber dieses Wunder bleibt aus,
der Engel kommt nicht zu uns.
Man muss da durch, irgendwie,
und das ist manchmal sehr hart und schmerzhaft.
Oft genug gibt es keinen Ausweg,
scheint es unmöglich, da je wieder herauszukommen.

Was kann dann helfen?
Es hilft, die tägliche Routine beizubehalten, soweit es geht.
Sich nicht hängen, nicht fallen zu lassen,
sondern das Selbstverständliche und Nötige zu tun.
Darin steckt ein Funken Hoffnung,
darin steckt ein Stück alltäglichen Lebens,
das der Dunkelheit, der Vergeblichkeit, dem Tod die Stirn bietet.

Vor allem aber helfen Menschen,
die an einen denken,
die an einen glauben,
die für einen beten
und manchmal auch für einen glauben
und an der Hoffnung festhalten,
die man selbst schon verloren hat.
Die einen nicht aufgeben,
auch wenn man sich selbst schon aufgegeben hat.
Die einen dann aber nicht vertrösten:
Wird schon wieder”,
Nun reiß dich aber mal zusammen”,
Andern geht’s noch schlechter als dir”.
Sondern diese Hoffnung in ihrem Herzen tragen
und intensiv daran glauben.

Die Intensität, die Dringlichkeit, die Stärke,
mit der andere an einen glauben,
für einen beten und hoffen,
die ist es, die sich auf den überträgt,
der in seiner Verzweiflung gefangen ist.
Sie bringt Licht in die Dunkelheit,
sie sprengt Fesseln und öffnet Türen,
die verschlossen schienen.

V
Wann kommt der Engel mal zu uns?
Er war doch schon da.
Er kam durch Menschen,
die an uns glaubten, die für uns beteten,
für uns hofften, die uns liebten.
Er hat uns an das Selbstverständliche,
das Notwendige erinnert, dieser Engel,
und uns zum Aufstehen gebracht,
zum Weitermachen, Weitergehen, Weiterleben.
Weil hinter den Gefängnistoren,
am Ende der dunklen Gasse eine Tür ist,
hinter der Menschen auf uns warten.
Menschen, die sich Sorgen machten um uns,
die sich freuen, dass wir wieder da sind,
und die für uns Engel waren.

Amen.