Predigt
am 16. Sonntag nach Trinitatis, 23. September 2012, über
Apostelgeschichte 12,1–12:
Um
diese Zeit begann König Herodes, die Gemeinde in Jerusalem zu
verfolgen, und ging mit Gewalt gegen einige ihrer Mitglieder vor.
Jakobus, den Bruder des Johannes, ließ er mit dem Schwert
hinrichten. Als er sah, dass er den Juden damit einen Gefallen tat,
setzte er den eingeschlagenen Kurs fort und ließ auch Petrus
festnehmen, und zwar gerade während der Zeit, in der das Passafest
gefeiert wurde, das Fest der ungesäuerten Brote. Herodes ließ
Petrus ins Gefängnis bringen und beauftragte vier Gruppen zu je vier
Soldaten mit seiner Bewachung; nach den Festtagen wollte er ihn dann
vor allem Volk aburteilen. Während Petrus nun also streng bewacht im
Gefängnis saß, betete die Gemeinde intensiv für ihn zu Gott. In
der Nacht vor der von Herodes geplanten öffentlichen Verurteilung
schlief Petrus zwischen zwei Soldaten, mit je einer Kette an sie
gefesselt; und vor der Tür seiner Zelle waren Posten aufgestellt und
hielten Wache. Mit einem Mal stand ein Engel des Herrn in der Zelle,
und helles Licht erfüllte den Raum. Der Engel gab Petrus einen Stoß
in die Seite, um ihn zu wecken. »Schnell, steh auf! «, sagte er. Im
selben Augenblick fielen die Ketten, die Petrus um die Handgelenke
trug, zu Boden. Der Engel sagte: »Binde den Gürtel um und zieh
deine Sandalen an!«, Petrus tat es. »Und jetzt wirf dir den Mantel
über und komm mit!«, sagte der Engel. Petrus folgte ihm nach
draußen, allerdings ohne zu wissen, dass das, was er mit dem Engel
erlebte, Wirklichkeit war; er meinte vielmehr, er hätte eine Vision.
Sie passierten den ersten Wachtposten, ebenso den zweiten, und als
sie schließlich zu dem eisernen Tor kamen, das in die Stadt führte,
öffnete es sich ihnen von selbst. Sie traten ins Freie und gingen
eine Gasse entlang – und plötzlich war der Engel verschwunden. Da
erst kam Petrus zu sich. »Wahrhaftig«, sagte er, »jetzt weiß ich,
dass der Herr seinen Engel gesandt hat! Er hat mich Herodes und
seiner Macht entrissen und hat mich vor all dem bewahrt, was das
jüdische Volk so gern gesehen hätte.« Nachdem er über seine Lage
nachgedacht hatte, ging er zum Haus von Maria, der Mutter des
Johannes, der den Beinamen Markus trägt. Dort war eine große Zahl
von Christen zum Gebet versammelt.
Liebe
Gemeinde,
wann
kommt der Engel mal zu uns?
Oder
darf man diese Frage nicht stellen?
Hieße
das, Gott zu versuchen - was man bekanntlich nicht darf -,
wenn
man sich wünschte,
dass
man selbst auch einmal das erlebt,
was
Petrus erfahren durfte?
I
Unglaublich,
die Geschichte dieser Befreiung.
Noch
unwahrscheinlicher als die sensationellen Tricks,
mit
denen es James Bond jedes Mal gelingt,
seinen
Kopf im letzten Moment aus der Schlinge zu ziehen,
oder
mit denen die phantastischen Coups
von
Ocean’s 11, 12 oder 13
wider
Erwarten und wider alle Vernunft doch noch gut gehen.
Es
wird wirklich alles aufgeboten,
um
ein Ausbrechen aus diesem Gefängnis unmöglich zu machen.
Petrus
wird wie ein hoch gefährlicher Schwerverbrecher bewacht.
Er
schläft zwischen zwei Wachen,
an
die er mit Handschellen gekettet ist.
Zwei
weitere stehen direkt vor der Zellentür.
Bis
zum - natürlich verschlossenen - schmiedeeisernen Ausgang
gibt
es noch einmal einen Wachtposten.
„Hier
kommst du nit ’raus“,
ist
die Botschaft dieser Beschreibung.
Dass
es doch gelingt,
ist
sozusagen ein Akt höherer Gewalt.
Plötzlich
taucht ein Engel auf,
der
Petrus aus dem Gefängnis befreit.
Er
muss dazu keinen Finger krümmen.
Alles
geschieht automatisch:
Handschellen
fallen ab, Türen öffnen sich.
Die
Wachen sind gar nicht mehr da,
verschwunden,
schlafend, tot - einfach fort.
Plötzlich
taucht ein Engel auf.
Das
passiert selbst einem Petrus nicht alle Tage.
Man
könnte meinen:
Wo
der Engel schon mal da ist,
hat
er dem Petrus doch bestimmt auch etwas auszurichten.
Schließlich
bedeutet das Wort Engel “Bote”.
Aber
der Engel hat keine Botschaft für Petrus.
Er
spricht nur das Nötigste,
nur
das Selbstverständliche und Offensichtliche:
Beeil
dich. Zieh dich an. Komm mit.
Petrus
bekommt von all dem gar nichts mit.
Er
ist nicht bei sich,
er
befindet sich wie in Trance, wie in einem Traum.
Ein
Traum, der Wirklichkeit wird:
Als
er zu sich kommt,
findet
er sich vor den Toren des Gefängnisses wieder.
II
Ist
das nicht eigenartig?
Da
passiert so ein unglaubliches Wunder,
das
jede Autorin, jeder Autor
auf
dutzenden von Seiten ausführlich schildern würde.
Lukas
aber teilt uns nur dürre Fakten mit.
Es
ist unserer Phantasie überlassen,
uns
die Szene auszumalen.
Die
Phantasie lässt sich auch nicht lange bitten:
Sie
stellt sich das schrecklich dunkle Gefängnis,
stellt
sich den strahlenden Engel vor
und
überbrückt das, was Lukas ausgelassen hat,
mit
eigenen Theorien.
Was
ist mit den Wachen?
Sie
werden in Ohnmacht gefallen
oder
vom Engel in Tiefschlaf versetzt worden sein.
Wie
öffneten sich die Türen?
Es
wird ein Erdbeben gegeben haben, usw.
Lukas
scheint das alles nicht zu interessieren.
Es
kommt ihm nicht so darauf an.
Lukas
berichtet von der wunderbaren Zeit der Apostel,
berichtet
vom Entstehen der Kirche,
das
von außergewöhnlichen Ereignissen begleitet ist.
Aber
schon seinen Zeitgenossen
wird
es gegangen sein wie uns heute.
Auch
sie werden sich und Lukas gefragt haben:
Wann
kommt der Engel mal zu uns?
Nun
kann man einwenden,
dass
für die Menschen der Antike die Vorstellung vertraut war,
dass
Erde und Himmel
nicht
nur von sichtbaren Wesen belebt und bewohnt sind,
sondern
auch von Geistern und Engeln;
dass
in jeder Quelle und in jedem Baum eine Nymphe lebte,
dass
Menschen von Dämonen besessen werden konnten.
Aber
schon damals werden sie die gleiche Erfahrung gemacht haben,
die
wir heute auch machen:
Wunder
und ähnliche Formen des Eingreifens einer höheren Gewalt,
so
viele Geschichten es auch darüber gibt,
-
man selbst erlebt sie nie.
Obwohl
man sie manchmal wirklich dringend brauchen könnte.
Aber
Engel machen sich rar, und zu uns kommen sie nie.
III
Aber
warum erzählt Lukas dann diese Geschichte?
Um
uns zu zeigen, wozu Gott in der Lage wäre,
wenn
er nur wollte - bloß, dass er nicht will?
Um
uns Respekt einzuflößen
vor
dem heiligen Petrus,
dem
Wunder widerfuhren,
die
wir nie erleben werden?
Es
muss einen anderen Grund geben,
aus
dem Lukas diese Geschichte erzählt.
Wenn
wir uns die Geschichte daraufhin noch einmal anschauen,
fallen
zwei Dinge auf,
die
bemerkenswert sind:
Der
Engel redet mit Petrus über Selbstverständlichkeiten.
Und
von der Gemeinde heißt es,
dass
sie nach Petrus’ Verhaftung intensiv zu Gott betete.
In
einem amerikanischen Gefängnis sitzt ein Deutscher
seit
über zwanzig Jahren in Haft.
Er
soll die Eltern seiner Freundin ermordet haben.
Er
selbst bestreitet die Tat,
wurde
auch nur aufgrund von Indizien verhaftet,
deren
Beweiskraft von manchen angezweifelt wird.
Er
versucht wieder und wieder,
eine
Aufnahme des Verfahrens zu erwirken - ohne Erfolg.
In
der Süddeutschen Zeitung wurde mehrfach über seinen Fall berichtet
- Sie haben vielleicht davon gehört.
Mir
geht es jetzt nicht darum,
ob
dieser Mann zu Unrecht oder zu Recht im Gefängnis sitzt.
Mir
geht es darum, wie er das aushält,
im
Bewusstsein, unschuldig zu sein,
ohne
Hoffnung auf Entlassung
sein
Leben in diesem Gefängnis zubringen zu müssen.
Zwei
Dinge sind es,
die
ihn die Hoffnung nicht aufgeben lassen
und
die ihn am Leben halten:
Die
tägliche Routine - die selbstverständlichen,
die
notwendigen Dinge, die eben jeden Tag getan werden müssen,
vom
Aufstehen und Zähneputzen
bis
hin zum Studium der Akten,
zum
Einreichen einer neuen Petition.
Und
die Tatsache, dass Menschen außerhalb des Gefängnisses
an
ihn denken, über ihn schreiben,
sich
für ihn einsetzen
und
ihm so zeigen, dass er ihnen etwas bedeutet.
IV
Niemand
von uns wird wahrscheinlich je in ein Gefängnis kommen.
Und
trotzdem können wir uns vorstellen,
wie
man sich da fühlen muss.
Weil
wir ähnliche ausweg- und aussichtslose Situationen erlebt haben.
Situationen, in denen wir uns gefangen, gefesselt fühlten.
Sei
es durch eine Krankheit, die uns ans Bett fesselte,
sei
es durch einen Fehler, ein schuldhaftes Verhalten,
das
uns jemanden in die Hand gab,
auf
dessen Vergebung wir angewiesen waren.
Man
kann in einem Irrtum befangen sein
oder
an den Alkohol oder eine andere Droge gekettet.
Allen
diesen Situationen gemeinsam ist,
dass
es eigentlich ein Wunder braucht,
das
Eingreifen einer höheren Gewalt,
um
uns daraus zu erretten.
Aber
dieses Wunder bleibt aus,
der
Engel kommt nicht zu uns.
Man
muss da durch, irgendwie,
und
das ist manchmal sehr hart und schmerzhaft.
Oft
genug gibt es keinen Ausweg,
scheint
es unmöglich, da je wieder herauszukommen.
Was
kann dann helfen?
Es
hilft, die tägliche Routine beizubehalten, soweit es geht.
Sich
nicht hängen, nicht fallen zu lassen,
sondern
das Selbstverständliche und Nötige zu tun.
Darin
steckt ein Funken Hoffnung,
darin
steckt ein Stück alltäglichen Lebens,
das
der Dunkelheit, der Vergeblichkeit, dem Tod die Stirn bietet.
Vor
allem aber helfen Menschen,
die
an einen denken,
die
an einen glauben,
die
für einen beten
und
manchmal auch für einen glauben
und
an der Hoffnung festhalten,
die
man selbst schon verloren hat.
Die
einen nicht aufgeben,
auch
wenn man sich selbst schon aufgegeben hat.
Die
einen dann aber nicht vertrösten:
“Wird
schon wieder”,
“Nun
reiß dich aber mal zusammen”,
“Andern
geht’s noch schlechter als dir”.
Sondern
diese Hoffnung in ihrem Herzen tragen
und
intensiv daran glauben.
Die
Intensität, die Dringlichkeit, die Stärke,
mit
der andere an einen glauben,
für
einen beten und hoffen,
die
ist es, die sich auf den überträgt,
der
in seiner Verzweiflung gefangen ist.
Sie
bringt Licht in die Dunkelheit,
sie
sprengt Fesseln und öffnet Türen,
die
verschlossen schienen.
V
Wann
kommt der Engel mal zu uns?
Er
war doch schon da.
Er
kam durch Menschen,
die
an uns glaubten, die für uns beteten,
für
uns hofften, die uns liebten.
Er
hat uns an das Selbstverständliche,
das
Notwendige erinnert, dieser Engel,
und
uns zum Aufstehen gebracht,
zum
Weitermachen, Weitergehen, Weiterleben.
Weil
hinter den Gefängnistoren,
am
Ende der dunklen Gasse eine Tür ist,
hinter
der Menschen auf uns warten.
Menschen,
die sich Sorgen machten um uns,
die
sich freuen, dass wir wieder da sind,
und
die für uns Engel waren.
Amen.