Samstag, 12. Januar 2013

Ein Fingerzeig


Predigt am 1. Sonntag nach Epiphanias, 13.1.2013, über Johannes 1,29-34:

Am nächsten Tag sieht Johannes, dass Jesus zu ihm kommt, und spricht: Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt! Dieser ist's, von dem ich gesagt habe: Nach mir kommt ein Mann, der vor mir gewesen ist, denn er war eher als ich. Und ich kannte ihn nicht. Aber damit er Israel offenbart werde, darum bin ich gekommen zu taufen mit Wasser. Und Johannes bezeugte und sprach: Ich sah, dass der Geist herabfuhr wie eine Taube vom Himmel und blieb auf ihm. Und ich kannte ihn nicht. Aber der mich sandte zu taufen mit Wasser, der sprach zu mir: Auf wen du siehst den Geist herabfahren und auf ihm bleiben, der ist's, der mit dem Heiligen Geist tauft. Und ich habe es gesehen und bezeugt: Dieser ist Gottes Sohn.
(Lutherbibel)






Liebe Gemeinde,

woher wissen wir, wer Jesus ist?
Woher wissen wir, dass er der Christus ist,
der Messias, der Sohn Gottes?
Immerhin sah Jesus damals aus 
wie jeder x-beliebige Einwohner Judäas seiner Zeit.
Die wunderbare Schwangerschaft seiner Mutter,
die Geburt in einem Stall,
der Besuch der drei Weisen aus dem Morgenland -
all das hat ihn nicht zu einem Anderen gemacht.
Jesus war äußerlich nicht als Messias zu erkennen.
Würde er heute leben, er sähe nicht anders aus als wir:
ein Typ in Jeans und Turnschuhen,
ein Herr mit Krawatte und Anzug, 
ein Arbeiter im Blaumann - wer weiß?
Es gäbe keinen Hinweis, woran man ihn erkennen könnte,
kein geheimes Zeichen, kein überirdisches Leuchten,
keine langen Haare, Bart und Jesuslatschen,
keine messiasmäßige Erscheinung.


I
Mit anderen Worten:
Jesus war und ist durchaus verwechselbar.
Wir wissen, dass er Gottes Sohn war und ist,
aber wir könnten ihn nicht aus einer Menge herausfinden.
Wir machen uns Bilder von ihm,
aber wenn er uns tatsächlich auf der Straße begegnete,
würden wir ihn nicht erkennen.
Die britische Komikertruppe Monty Python 
hat dieses Dilemma in ihrem Film 
"Das Leben des Brian" auf die Spitze getrieben:
Ein Junge, Brian, wird zur selben Zeit geboren wie Jesus
und ständig mit ihm verwechselt.
Folgerichtig wird auch Brian gekreuzigt,
zusammen mit vielen anderen.
Die Botschaft dieser Szene:
Seid ihr sicher, dass der, an den ihr glaubt,
tatsächlich der Messias ist?

Eine ähnliche Szene,
in der es um Verwechslung oder Austauschbarkeit geht, 
kommt auch bei Harry Potter vor:
Als Harry endlich erfährt, warum der Böse, Lord Voldemort,
ihm nach dem Leben trachtet, 
stellt sich heraus, dass sein Freund und Mitschüler Neville
die selben Bedingungen erfüllt wie er;
auch Neville hätte das Opfer Voldemorts werden können.
Er wurde es aber nicht - warum?
Weil Voldemort Harry wählte,
ohne zu überlegen und ohne zu wissen, warum.
Dadurch wurde Harry zum einzigen Menschen,
der Voldemort besiegen konnte, und nicht sein Mitschüler.

Also noch einmal die Frage:
Woher wissen wir, dass Jesus der lang erwartete Christus, 
dass er der Messias, ist?


II
Auf dem berühmten Isenheimer Altar von Matthias Grünwald
steht Johannes rechts vom Kreuz und zeigt mit dem Finger auf Jesus.
Es ist wie eine Illustration unseres Predigttextes,
nur, dass es hier nicht der lebendige Christus ist,
auf den Johannes zeigt, sondern der bereits am Kreuz Gestorbene.
Unten, zu den Füßen des Johannes, ist tatsächlich ein Lamm gemalt,
aus dessen Wunde Blut in einen Kelch schießt:
Jesus, das Lamm Gottes.

Ein Fingerzeig begleitet die Worte des Johannes:
Siehe, das ist Gottes Lamm.

"Man zeigt nicht mit dem Finger!",
hat mir meine Großmutter eingeschärft,
weil schon Kinder genau das tun:
Sie zeigen mit dem Finger auf andere Leute -
auf solche, die ihnen auffallen,
weil sie ungewöhnlich dick oder dünn sind,
ungewöhnlich groß sind oder klein, kurz:
weil sie anders aussehen als die Menschen,
die so ein Kind bisher kennen gelernt hat.

Wenn man mit dem Finger auf jemanden zeigt,
tut man das, damit der andere sieht, wen man meint:
Guck mal, wie der aussieht - oder wie die aussieht!
Aber den Fingerzeig sieht auch der, über den gesprochen wird.
Und weil der dann merkt, dass man über ihn spricht,
gilt das als peinlich, und darum soll man nicht mit dem Finger zeigen.
Aber man tut es natürlich trotzdem.
Wenn man älter wird, braucht man ja den Finger nicht mehr dazu.
Dann genügt es, den Gemeinten näher zu beschreiben,
damit der andere weiß, wer gemeint ist.
Man kann dann in Ruhe über sein oder ihr Anderssein sprechen,
ohne dass er oder sie überhaupt bemerkt,
dass sie gerade das Thema einer Unterhaltung ist.
Da ist das Zeigen mit dem Finger schon ehrlicher ...


III
Ein Fingerzeig hebt einen Menschen aus der Masse heraus
als eine oder einen, der anders ist.
Meistens geht es dabei darum, dass er nicht so ist wie man selbst.
Ein Fingerzeig kann aber auch jemanden
aus der Masse herausheben
und sie, ihn zu etwas bestimmen.
Wenn wir früher die Mannschaften für ein Fußballspiel zusammenstellten, 
dann zeigten die beiden Anführer,
die die Mannschaft auswählten, auf den,
den sie in ihrer Mannschaft haben wollten.
Oder beim Auszählen: Ene, mene, miste ...,
da wurde bei jedem Wort mit dem Finger auf ein Kind gezeigt,
bis bei "... und raus bist du!" ein Kind "raus" war,
das dann suchen musste, oder mit dem Kriegen dran war.

So ein Fingerzeig hat eigentlich nie etwas Gutes zu bedeuten.
Wenn es nicht um die Wahl der Fußballmannschaften geht,
muss der oder die, die durch Fingerzeig bestimmt wird,
eigentlich immer etwas Unangenehmes tun -
sie ist "dran" mit Suchen, mit Kriegen oder damit,
die Tafel abzuwischen oder den Müll herauszubringen.
Auch der Fingerzeig des Johannes,
der Jesus aus der Menge heraushebt als den,
der das Lamm Gottes ist,
bestimmt ihn zu einem bitteren Schicksal:
"Siehe, das  ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt!
Wohin dieses Tragen der Sünde der Welt führt,
das ist auf dem Isenheimer Altar drastisch dargestellt:
ans Kreuz führt es, zu einem grausamen, leidvollen Tod.


IV
Ist es also mit Jesus wie bei Harry Potter:
Hat Johannes der Täufer Jesus erst zum Lamm Gottes bestimmt?
Hätte es auch einen anderen treffen können -
vielleicht nicht gerade einen "Brian" -,
aber hätte auch ein anderer junger Mann sein Schicksal erleiden,
hätte da auch ein anderes Kind in der Krippe liegen können?

Johannes betont zweimal: "Ich kannte ihn nicht."
Johannes taufte Menschen im Jordan und wusste,
eines Tages würde er den Messias taufen.
Aber er wusste nicht, wer es sein würde.
Und er merkte es selbst dann nicht, 
als Jesus ihm gegenüberstand.
Dabei haben die beiden sich gekannt,
wenn man dem Evangelisten Lukas glauben darf -
ihre Mütter, Elisabeth und Maria, waren sogar miteinander verwandt.
Trotzdem sagt der Täufer hier im Johannesevangelium:
"Ich kannte ihn nicht."
Vielleicht bedeutet das:
Ich wusste nicht, dass Jesus der Messias sein sollte.
Erst im Moment der Taufe wurde es offenbar,
dass Jesus der Christus, der Messias ist:
als der Geist Gottes wie eine Taube auf ihn herabkam.

Es ist nicht die Entscheidung des Johannes,
die Jesus zum Christus macht,
sondern es ist Gott selbst, der ihn dazu bestimmt,
das wird hier besonders betont.
Jesus ist der, der den Heiligen Geist hat:
das konnte Johannes erkennen.
Und darum brauchen wir den Fingerzeig des Johannes:
Er sah den Geist Gottes kommen
und bei Jesus bleiben,
wo wir vielleicht nur eine Taube gesehen hätten.


V
Johannes macht Jesus nicht zum Messias,
aber er ist unser Zeuge dafür, dass Jesus es ist.
Er ist, wenn man so will, nicht nur der Täufer,
sondern zugleich auch der Taufpate Jesu.

Bleibt die Frage:
ist einer, der Heuschrecken und wilden Honig isst;
der wie ein Landstreicher in der Wüste lebt;
der sich selbst für damalige Zeiten recht eigenwillig kleidet
und der erzählt, dass das Reich Gottes nahe ist,
der also das nahe Weltende verkündet -
ist so einer als Zeuge glaubwürdig?

Wenn wir ehrlich sind:
So einem würden wir gar nichts glauben.
Wir würden ihn bestenfalls belächeln,
wenn wir ihn in der Stadt sehen,
und mit dem Finger auf ihn zeigen,
oder schnell weitergehen.

In einem Gedicht von Shalom Ben-Chorin heißt es:

Freunde, dass der Mandelzweig 
wieder blüht und treibt,
ist das nicht ein Fingerzeig,
dass die Liebe bleibt?

Freunde, dass der Mandelzweig
sich in Blüten wiegt,
bleibe uns ein Fingerzeig,
wie das Leben siegt.
(EG Niedersachen-Bremen, Nr. 620)
Shalom Ben-Chorin gehörte auch zu denen,
auf die mit dem Finger gezeigt wurde,
er war Jude.
Juden mussten sich Mandel- oder Rosenzweig nennen,
Mendels- oder Levinssohn.
In der Zeit des Nationalsozialismus
mussten Juden ständig mit Fingern auf sich zeigen lassen,
ja, sie mussten diesen Fingerzeig ständig bei sich tragen
in Form eines gelben Davidsterns, des "Judensterns",
den sie auf ihre Kleidung nähen mussten.

Für Shalom Ben-Chorin ist der blühende Mandelzweig
ein Fingerzeig dafür, dass das Leben über Blutvergießen,
Menschenverachtung, Krieg und trübe Zeit siegt
und dass die Liebe stärker ist als aller Hass der Menschen.
Dieser Fingerzeig ist kein Beweis,
und er kann missdeutet werden -
was ist schon ein blühender Mandelzweig?
Und was ist ein blühender Mandelzweig gegen all die Gräuel,
gegen die unvorstellbare Grausamkeit und Gewalt?
Für ihn aber, der das alles selbst erlebt und erlitten hat,
ist er ein Fingerzeig auf den Sieg der Liebe.
Und er lehrt uns, ihn ebenso zu sehen.


VI
Johannes, der verrückte und etwas zweifelhafte
Heilige aus der judäischen Wüste,
gibt uns einen Fingerzeig, in Jesus den Messias zu sehen.
Dass er es tatsächlich ist, dafür gibt es keinen Beweis.
Es gibt nur diesen Fingerzeig,
dass der Messias ganz anders ist, als wir ihn erwarten:
Kein strahlender Held, kein Supermann,
keiner, der alles gut macht, der alles richten wird.
Sondern einer wie du und ich; einer vielleicht, 
der beim Fußball nicht unbedingt als erster gewählt wird,
einer vielleicht, der öfter als andere die Tafel wischen muss,
einer vielleicht, auf den andere mit dem Finger zeigen.

So zeigt sich die Liebe:
in einem armseligen Stall,
bei einer Frau aus einfachen Verhältnissen,
durch den Sohn eines Zimmermanns,
der sich mit Fischern und irren Propheten abgibt,
mit Huren und Zöllnern und all denen,
auf die andere mit dem Finger zeigen.
Man übersieht sie leicht, die Liebe,
weil man zwar auf solche Leute mit dem Finger zeigt,
aber nicht so genau hinguckt,
weil sie so anders sind als wir.
Ebenso, wie man die zarten Blüten des Mandelzweiges übersieht,
die den Sieg des Lebens über den Tod verkünden.

Wir brauchen diese Fingerzeige.
Wir brauchen Menschen, die uns wie der Taufpate Johannes
Fingerzeige geben auf das Große im Kleinen,
auf die Macht der Liebe in der Schwachheit,
auf den Sieg des Lebens über den Tod.

Amen.