Predigt am Sonntag Palmarum, 24. März 2013, über Johannes
17,1–8
Liebe Gemeinde,
Liebe Gemeinde,
der Begriff der “Ehre” spielt heutzutage keine Rolle mehr - zum
Glück. Vor zwei Generationen, zur Zeit des Nationalsozialismus,
war die “Ehre” der zentrale Begriff schlechthin. Um der “Ehre”
willen wurden die schlimmsten Verbrechen begangen. Wenn die
Zeit des Nationalsozialismus nicht gereicht haben sollte, denn
Begriff zu desavouieren, dann hat die Affäre um das “Ehrenwort”
Uwe Barschels und zuletzt die Debatte um den “Ehrensold” des
Bundespräsidenten dem Wort “Ehre” den letzten Stoß gegeben.
Es liegt an dieser schlimmen Geschichte, dass der Begriff der
“Ehre” aus der Mode gekommen ist und nur noch von den Ewig
Gestrigen im Munde geführt wird.
Ewig Gestrige? Sind wir das auch? Schließlich sprechen wir das
Wort “Ehre” jede Woche aus. Wir singen zu Beginn des
Gottesdienstes - den heutigen Palmsonntag ausgenommen - “Ehre
sei Gott in der Höhe” und - außer in der Passionszeit - “Allein
Gott in der Höh’ sei Ehr’ ”. Und auch im heutigen Predigttext aus
dem Johannesevangelium ist viel von Ehre die Rede:
Jesus erhob seine Augen zum Himmel und betete: "Vater, die
Stunde ist gekommen. Ehre deinen Sohn, damit der Sohn dich
ehre. du hast ihm ja Vollmacht über jedermann gegeben, damit er
jedem, den du ihm anvertraut hast, ewiges Leben gebe. Das aber
ist das ewige Leben, dass sie dich, den einzigen wahren Gott,
kennen und Jesus Christus, den du gesandt hast. Ich habe dich
auf Erden geehrt und das Werk vollendet, das du mir zu tun
gabst; und jetzt ehre du mich, Vater, bei dir mit der Ehre, die ich
bei dir hatte, bevor die Welt war.
Ich habe dich den Menschen bekannt gemacht, die du mir aus der Welt anvertraut hast. Dein waren sie, und mir hast du sie
anvertraut, und auf dein Wort haben sie geachtet. Jetzt haben sie
erkannt, dass alles, was du mir anvertraut hast, von dir kommt.
Denn die Worte, die du mir gabst, habe ich ihnen mitgeteilt und
sie haben sie aufgenommen und wahrhaftig erkannt, dass ich von
dir ausgegangen bin, und sie glauben, dass du mich gesandt
hast."
(Eigene Übersetzung)
I
Der Begriff der “Ehre” ist zwar aus der Mode gekommen, doch
können wir alle, glaube ich, uns etwas darunter vorstellen. Wir
kennen das “Ehrenwort”, das “Ehrenamt”, das “Ehrenmitglied”,
den “Ehrenbürger” und den “Ehrendoktor”. Aber was genau ist
diese “Ehre”, die in all den Begriffen steckt und um die es hier
geht?
In einem alten Lexikon habe ich eine Definition gefunden, die ich
für sehr einleuchtend halte: “Die Ehre ist die Geltung der
Persönlichkeit im Urteil der Gesellschaft.” (RGG II, 2.Bd.,
Tübingen 1928, Sp. 40) Mit anderen Worten: “Ehre” hat, wer in
den Augen der anderen etwas “gilt”. Im “Gelten” bzw. im Wort
“Urteil” zeigt sich aber sogleich der Pferdefuss des Ehrbegriffs:
“Ehre” ist keine feste Größe wie das Kilogramm oder der Meter,
sondern hängt vom Urteil einer Mehrheit ab. Eine Gruppe
entscheidet, was Ehre ist. Falls ich anderer Meinung sein sollte,
werde ich überstimmt, und dann habe ich keine Ehre - nicht, weil
ich etwa ein ehrloser Gesell wäre, sondern weil die anderen
behaupten, dass ich keine hätte. Unsere jüdischen Mitbürger
haben in der deutschen Geschichte auf schreckliche, mörderische
Weise erleben müssen, wie ihnen die Ehre genommen, wie sie
ihnen regelrecht abgeschnitten wurde. Die, die gestern noch
geachtete Mitbürger waren, deren Leistungen und deren Bildung
man respektierte, die man als Mitbürger schätzte, deren Meinung
wichtig war, galten plötzlich als “ehrlos”, waren aus der
Gemeinschaft ausgeschlossen und vogelfrei - niemand setzte sich
für sie, ihre Ehre, ihre Würde - ihr Leben - ein.
II
In dieser Zeit des Nationalsozialismus wollten sogar viele
Pastoren nichts mehr davon wissen, dass auch Jesus selbst Jude
war und zu denen gehörte, denen man die Ehre abgesprochen, die
man aus der “Volksgemeinschaft” ausgeschlossen hatte.
Als “König der Juden”, als Messias zieht Jesus in Jerusalem ein.
Er handelt nach den Worten des Propheten, der angekündigt
hatte, dass der Messias auf einem Esel und einem Eselsfohlen in
Jerusalem einreitet (Sacharja 9,9), und nimmt bewusst in Kauf,
dass man ihn als Messias ansieht, als “König der Juden”. “Iesus
Nazarenus, Rex Iudaeorum”, INRI, “Jesus von Nazareth, König
der Juden” steht denn auch bald als Hinrichtungsgrund auf
einem Schild über seinem Kreuz.
Aber Jesus ist gar nicht der “König der Juden”. Die, die dabei ein
Wörtchen mitzureden hätten, wollten ihn nämlich auf keinen Fall
als König haben: Von seinen Glaubensbrüdern wird er ebenfalls
ausgeschlossen. Pharisäer und Schriftgelehrte wollen nichts mit
diesem radikalen Rabbi zu tun haben. Sie verfolgen ihn sogar und
wollen ihn zum Schweigen gebracht sehen. Jesus ist selbst mit
daran schuld. Er provoziert die frommen Juden immer wieder,
indem er sich wenig messiasmäßig verhält: Er übertitt absichtlich
Gebote - arbeitet, heilt Menschen am Sabbat -, und gibt sich mit
Menschen ab, die aus gutem Grund aus der Gemeinde
ausgeschlossen sind - Zöllner, Prostituierte, Ehebrecher.
Seinen Zeitgenossen muss Jesus wie ein Hippie vorgekommen
sein, ein Aufmüpfiger, ein Herumtreiber, vielleicht sogar ein
Terrorist. Mit “Ehre” hat man diesen Menschen nicht in
Verbindung gebracht - davon weiß auch der Philipperhymnus ein
Lied zu singen, wenn er davon spricht, dass Jesus “sich selbst
entäußerte”, “Knechtsgestalt annahm” und “sich selbst
erniedrigte”. Die Ehren, die man ihm beim Einzug in Jerusalem erwies, galten denn auch nicht ihm persönlich, sondern dem
Messias, den man in ihm sehen wollte - und der er ja auch war.
Aber ganz anders, als die Menschen ihn sich erträumten. Als sie
merkten, dass er nicht der war, den sie haben wollten, wurde aus
dem Ruf “Hosianna!” der Schrei “Kreuzige ihn!”.
III
Wie kann Jesus, der die Erfahrungen machte, dass er
keineswegs wohlgelitten war; den man bat, doch schnell
weiterzuziehen, sobald er irgendwo auftauchte; der sich
verstecken musste, um nicht vor der Zeit gelyncht zu werden -
wie kann Jesus von sich behaupten, dass er Gott geehrt habe? Er
hat sich anstößig und wenig anständig verhalten, jedenfalls so
gar nicht ehrenwert, so gar nicht jesusmäßig, wie man es von
einem Mann Gottes erwarten muss. Ein Widerspruchsgeist, ein
Aufmüpfiger, der die Autoritäten nicht anerkennt - wie soll der
die Autorität Gottes anerkennen, gar vertreten können? Wie soll
so einer Gott ehren können?
Für Jesus bestand das Ehren Gottes darin, ihn den Menschen
bekannt zu machen. Ein unkonventionelles Verständnis von
“ehren”. Aber wenn wir das für den Moment gelten lassen wollen,
müssen wir leider feststellen: auch dabei hat er es wieder
übertrieben. Wenn man sich ansieht, wie Jesus Gott den
Menschen bekannt gemacht hat, schüttelt man erneut entsetzt
den Kopf: Jesus hat die Menschen nicht Ehrfurcht vor Gott
gelehrt. Er hat ihnen nicht die Scheu vor dem Allmächtigen, die
Furcht vor Gottes unerbittlicher Gerechtigkeit eingepflanzt. Er
hat vielmehr Gott vom Himmel auf die Erde geholt, aus dem
Allerheiligsten des Tempels mitten unter die Leute gezerrt. Er
hat den Menschen alle Scheu vor Gott genommen und sie sogar
dazu gebracht, Gott so anzureden, wie ein Kind seine Eltern
anspricht: “Papa”.
Schockierend ist schließlich auch, was das für Menschen waren,
denen Jesus Gott bekannt gemacht hat: Jesus ging nicht zu denen, zu denen er hätte gehen sollen und müssen: den
Honoratioren, den Stützen der Gesellschaft, den Machern und
Mächtigen, denen, die man ihrer Beziehungen wegen kennen und
mit denen man sich gut stellen muss. Jesus erzählte ganz
anderen Leuten von Gott; Leute, auf die wir niemals gekommen
wären: Fischern, Widerstandskämpfern, Prostituierten,
Kollaborateuren - all dem ehrlosen Pack, dem man nicht trauen
kann, nicht trauen darf, die Obrigkeit und Gott nicht fürchten
und von vornherein keine Ehrfurcht kennen.
IV
“Die Ehre ist die Geltung der Persönlichkeit im Urteil der
Gesellschaft.” Auch Jesus hatte eine Gesellschaft, die ihn
respektierte, denen er etwas galt und die ihn ehrten - so sehr,
dass eine seiner Freundinnen eine ganze Flasche kostbares
Parfum vergoss, um Jesus damit zu salben. Es war nicht die feine
Gesellschaft, die ihn umgab. Uberhaupt war keine und keiner von
denen, die er seine Jüngerinnen und Jünger nannte, ein Mitglied
der Gesellschaft - es waren die, die an ihrem Rand lebten. Die
nicht dazugehören wollten, nicht dazugehören durften. Die keine
Riddagshäuser waren, weil sie nicht da geboren waren. Keine
Deutschen, weil ihnen die deutsche Abstammung fehlte. Keine
Adligen, weil sie keinen Stammbaum hatten. Keine
Respektspersonen, weil sie weder ein hohes Einkommen hatten,
noch Mitglied in einem der Clubs waren, zu denen man gehören
muss.
Aber daran hängt die Ehre Gottes ja auch nicht. Die Ehre Gottes
hängt nach Ansicht Jesu daran, Gott den Menschen bekannt zu
machen. Andersherum ehren also die Menschen Gott, die sich für
ihn interessieren und die Gott anderen bekannt machen wollen.
Es war und es ist die Gemeinde, die Jesus ehrt und mit ihm Gott.
Die Gemeinde, die sich sonntags zum Gottesdienst trifft und
immer wieder selbst überrascht ist, wer heute gekommen ist. Die
sich nicht selbst aussucht, wer zu ihr gehören darf und wer nicht.
Gott sucht sich aus, wer zur Gemeinde gehört: alle, die zum
Gottesdienst kommen. Große, Kleine, Reiche, Arme,
Einflussreiche und Außenseiter, Hell- und Dunkelhäutige,
Ausländer und Deutsche, Macher und Loser, Kluge und Dumme,
Alte und Junge. Nicht wir entscheiden, wer zur Gemeinde gehört,
Gott entscheidet, wer dazugehört. Wir haben das nicht zu
kommentieren oder zu kritisieren, wir sollen nur unsere Reihen
öffnen und unsere Arme und jeden begrüßen, den Gott
dazugehören lässt.
Die Ehre Gottes ist eine andere Ehre als die, die eine Gesellschaft
oder eine Gruppe definiert. Denn hier legt nicht eine Gruppe fest,
wer als ehrenwert gilt, sondern Gott. Gott fragt uns nicht, was
wir von seiner Wahl halten, ob wir damit einverstanden sind.
Gott hat jede und jeden von uns Jesus anvertraut - auch die
Menschen, denen wir das nicht gönnen; die wir nicht bei uns
haben wollen; die wir ausschließen möchten, weil wir sie nicht für
ehrenwert halten.
Durch Jesus kennen wir Gott, wir kennen ihn als Papa oder
Mama, als liebevolle, liebende Mutter oder Vater, die stolz ist auf
uns, wie Eltern es auf ihre Kinder sind, jede ihrer Kinder über
alles liebt, wie Eltern es tun, und möchte, dass wir glücklich sein
und das Leben genießen können. Jede und jeder von uns. Ohne
Ausnahme. Ohne dass wir uns fragen müssen, ob uns das zusteht,
ob wir das verdient haben.
V
Weil Gott so zu uns ist, darum singen wir jeden Sonntag: “Ehre
sei Gott”. Vielleicht singen wir es jetzt noch ein bisschen
inbrünstiger, noch ein bisschen lauter als ohnehin schon, weil wir
jetzt wissen, wie Gott für uns ist. Welche große Ehre lässt er uns
zuteil werden, dass wir seine Kinder heißen dürfen und es auch
sind! Das ist mehr wert, als Riddagshäuser zu sein,
Braunschweiger, Deutscher zu sein, Ehrenbürger, Ehrenmitglied,
oder einen Ehrendoktor zu haben. Das ist mehr wert als jedes
denkbare Amt, jeder denkbare Titel, jede denkbare Ehrung. Weil
Gott uns damit das ewige Leben schenkt: seine Gegenwart, seine
Nähe und den Sinn für unser Leben. Amen.