Samstag, 21. Juni 2014

Das höchste Gebot

Predigt am 1. Sonntag nach Trinitatis, 22. Juni 2014, über 5. Mose 6,4-9:

"Höre, Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr allein. Und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft. Und diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollst du zu Herzen nehmen und sollst sie deinen Kindern einschärfen und davon reden, wenn du in deinem Haus sitzt oder unterwegs bist, wenn du dich niederlegst oder aufstehst. Und du sollst sie binden zum Zeichen auf deiner Hand, und sie sollen dir ein Merkzeichen zwischen deinen Augen sein, und du sollst sie schreiben auf die Pfosten deines Hauses und an die Tore."


Liebe Gemeine,

auf die Frage, was das höchste Gebot sei, antwortet Jesus: 
"Höre, Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr allein. 
Und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, 
von ganzer Seele und mit all deiner Kraft."

"Du sollst Gott lieben". Kann man Liebe befehlen? 
Schon, wenn man sie stellt, merkt man, wie unsinnig diese Frage ist. Liebe und Zwang passen überhaupt nicht zusammen. Liebe ist ein Geschenk, das man freiwillig gibt, aus vollem, überfließendem Herzen.
Stellen Sie sich vor, jemand träte vor Sie hin, hielte Ihnen quasi die Pistole vor die Brust und forderte Sie auf: "Du sollst mich lieben!" Wenn man in einer solch verrückten Situation nicht ängstlich oder verunsichert wäre, könnte man gar nicht anders, als über diese Aufforderung zu lachen.
Und doch - wenn man Liebesgedichte liest - solche, in denen der Dichter darüber klagt, dass seine Liebe nicht erwidert wird -, und wenn man sich an die Szenen erinnert, in denen man selbst einen "Korb bekam"; Momente, in denen die Liebe zurückgewiesen wurde, oder, wie es Erich Kästner so traurig formuliert, die Liebe "abhanden kam" - in solchen Situationen hätte man wohl selbst gern den anderen Menschen am Kragen gepackt und ihn beschworen: "Du sollst mich lieben!". 
Obwohl man weiß, dass niemand zur Liebe gezwungen werden kann - manchmal versucht man wider besseres Wissen, mit allen Mitteln, den geliebten Menschen zu halten, der dabei ist, sich abzuwenden. Nur, um hinterher um so schmerzhafter festzustellen, dass der Versuch vergeblich war.

Liebe lässt sich nicht befehlen, sie lässt sich nicht zwingen, sie lässt sich weder mit Geld noch mit guten Worten "erkaufen". - Dann aber wäre das Gebot: "Du sollst Gott lieben" ebenso unsinnig wie der Versuch, einen Menschen, der nicht lieben will, zur Liebe zu zwingen. Oder, anders herum gesagt: Dass es Menschen gibt, die Gott lieben - dass wir Gott lieben - oder, wenn Ihnen der Ausdruck "Liebe" vielleicht zu groß erscheint: dass Gott uns sehr viel bedeutet - das ist geradezu ein Wunder. Ein ebensolches Wunder wie die große, die wahre Liebe, die einem angeblich nur einmal im Leben begegnet. 

Ein Hinweis darauf, dass man Liebe zu Gott nicht befehlen kann, dass sie ein Wunder ist, dass einem einfach so widerfährt, könnte auch sein, dass wir vergleichsweise Wenige sind, die sich sonntäglich zum Gottesdienst zusammenfinden. Nicht, weil die anderen nicht wollten, weil sie zu faul wären oder nicht interessiert. Sondern weil ihnen dieses Wunder nicht widerfahren ist, das wir erlebt haben: das Wunder, dass wir Gott lieben, dass Gott uns sehr viel bedeutet.

Ist es etwas so Seltenes und Besonderes, dass ein Mensch die Liebe zu Gott entdeckt? - Sagen wir mal so: es ist nicht selbstverständlich. Aber doch auch nicht so außergewöhnlich oder schwierig, dass die Fähigkeit, Gott zu lieben, nur wenigen Auserwählten zuteil würde. Im Gegenteil: ich meine, dass jeder Mensch - zumindest jede und jeder Getaufte - in der Lage ist, Gott zu lieben.
Die Liebe ist ja gar nicht so selten, wie wir angesichts unserer manchmal enttäuschenden Erfahrungen mit dem Verlieben meinen. Wenn nicht etwas ganz schrecklich schief gegangen ist, lieben wir unsere Kinder und Enkelkinder. Ja, selbst einem fremden Baby gegenüber kann man gar nicht anders, als vor Liebe zu zerfließen, wenn es einen anlächelt. Wir lieben unsere Eltern und Großeltern, wie lieben unsere Geschwister - manchmal lieben wir sie sogar, obwohl sie uns sehr weh getan haben.
Die Liebe ist ein Gefühl, das uns sehr vertraut und nicht nur auf die Partnerin, den Partner oder unsere Familie beschränkt ist. Selbst Menschen, die uns fern stehen, so wie das fremde Baby, das uns anlächelt, können wir lieben. Jesus traut uns zu, unsere "Nächsten", also unsere Nachbarn und Mitmenschen zu lieben, ja, sogar unsere Feinde.

Bei der Nächstenliebe spürt man kein Kribbeln im Bauch; man bekommt keine feuchten Hände, wie beim ersten Verliebtsein. Aber auch die Liebe zu den Kindern, zu den Eltern ist nicht so - und trotzdem ist sie nicht geringer, nicht weniger wert als die Liebe zum Partner oder zur Partnerin.
Wenn wir beschreiben sollten, was diese Liebe ist, die wir gegenüber den Menschen, die wir lieben, empfinden - gegenüber der Partnerin oder dem Partner, den Kindern, den Eltern und Großeltern - könnte man sagen: Es ist ein Gefühl der Dankbarkeit. Dankbarkeit, dass sie für uns da sind, dass wir zu ihnen und sie zu uns gehören. Es ist die Freude darüber, dass sie die Menschen sind, die sie sind - die uns immer wieder überraschen, uns immer wieder neue Seiten sehen lassen. Und wir empfinden Glück, wenn sie uns ansehen und uns ein Lächeln schenken.

Dankbarkeit, Freude, Glück empfinden wir, wenn wir einen anderen Menschen lieben. Es sind Gefühle, die wir auch Gott gegenüber empfinden: Dankbarkeit, dass Gott uns ins Leben rief und für uns da ist, dass wir zu ihm gehören. Freude darüber, dass Gott uns so mag und haben will, wie wir sind. Glück, dass Gott uns ansieht und sein Angesicht dabei leuchtet, wie es im Segen heißt. Dass wir Dankbarkeit, Freude, Glück empfinden, wenn wir im Gottesdienst sind, wenn wir an Gott denken, zeigt: wir lieben Gott. Wir lieben Gott, weil wir wissen, dass Gott uns liebt, und wir deswegen Dankbarkeit, Freude und Glück empfinden.

Woher aber wissen wir das?
Woher wissen wir, dass unser Partner, unsere Partnerin uns liebt, dass unsere Kinder, unsere Eltern und Großeltern uns lieben? Oft genug machen wir Erfahrungen, die uns daran zweifeln lassen - wenn Kinder in die Pubertät kommen und sich mit ihren Eltern streiten, manchmal so sehr, dass böse Worte fallen. Wenn Eltern ihre Kinder nicht verstehen oder nicht für sie da sind, wenn sie sie brauchen, weil sie durch ihren Beruf, ihre Sorgen abgelenkt sind. Woher wissen wir, dass Eltern ihre Kinder, Kinder ihre Eltern trotz alledem über alles lieben?

Wir können es nicht wissen. So wenig man Liebe herbeireden, erkaufen oder erzwingen kann, so wenig kann man sie beweisen. - Liebe kann man aber spüren. Dankbarkeit, Freude, Glück sind die Signale, die uns zeigen, dass der andere uns liebt.
Oft deckt der Alltag diese Gefühle zu. - Dass wir für den anderen da sind, und was wir für den anderen tun, wird zur Selbstverständlichkeit, die der andere gar nicht mehr wahrnimmt. Er vergisst, dankbar zu sein. - Wenn man sich jeden Morgen ungewaschen und ungekämmt begegnet, wenn man den anderen immer wieder ungeschminkt sieht und erlebt, wie er seinen Frust, seinen Ärger zuhause ablädt, ist es manchmal schwer, Freude zu empfinden. - Und wenn es Reibereien oder gar Streit gibt, wenn einem die Macken und Eigenheiten des anderen auf die Nerven gehen - wo bleibt da das Glück?

Sehen Sie - dafür gibt es das Gebot "Du sollst Gott lieben". Das Gebot will uns nicht zur Liebe zwingen - das könnte es auch gar nicht. Sondern es will uns daran erinnern, die Liebe nicht zu vergessen. Die Liebe soll uns in Fleisch und Blut übergehen. Wir sollen sie im Herzen tragen - was damals nicht dasselbe meinte wie heute, wenn wir vom Herzen als Sitz der Liebe sprechen: das Herz war im Altertum, als man es noch nicht besser wusste, der Ort der Gedanken und des Willens. Also: die Liebe soll unser Denken und Wollen bestimmen. Aber auch das, was uns ausmacht, die Seele. Und wir sollen uns für die Liebe anstrengen und ins Zeug legen, weil wir an sie glauben - deshalb: mit aller Kraft.
Die Liebe soll unser Leben so bestimmen, dass wir sie immer vor Augen haben, dass sie die Grundlage unseres Handelns wird - darum soll sie ein Merkzeichen zwischen unseren Augen und auf unserer Hand sein. Die Liebe ist so grundlegend für unser Leben, dass sie nicht nur unser Handeln, sondern auch unser Reden bestimmen soll. Die Liebe soll ebenso Grundlage der Erziehung unserer Kinder wie unseres Verhaltens im Alltag sein.

Schön und gut, ich weiß also, dass und warum ich lieben soll. Aber damit weiß ich noch immer nicht, dass ich geliebt werde. Oder, besser gesagt - weil ich es ja nicht wissen kann - ich spüre diese Liebe nicht.
Dafür sind die Merkzeichen da. Die Tefillin, die Gebetsriemen, die  sich gläubige Jüdinnen und Juden beim Gebet an Stirn und Arm binden. Und die Mesusa, eine kleine Kapsel mit den Worten des "Höre, Israel", die am Türpfosten angebracht wird. Tefillin und Mesusa erinnern eine gläubige Jüdin immer wieder daran, dass und wie sehr Gott sein Volk liebt. Bei jedem Gebet, bei jedem Gang durch die Tür. 

Auch wir haben ein Merkzeichen. Manche tragen es an einer Kette um den Hals. Es ist so schlicht, dass es überall begegnen kann - oft unerwartet und unverhofft. Auch heute steht es uns vor Augen. Unser Merkzeichen ist das Kreuz. Es erinnert uns daran, wie sehr Gott auch uns liebt - so sehr, dass sein Sohn Leiden und Tod für uns auf sich genommen hat. Damit wir vor niemandem und nichts mehr Angst haben müssen. Denn wir wissen, dass Leben auf uns wartet - Leben nach dem Tod, und Leben vor dem Tod. Leben, das Jesus nicht durch überlegene Stärke oder Macht gewann, sondern durch das Vertrauen auf die ohnmächtige Macht der Liebe. Das Kreuz, ein Folterinstrument, das für uns zum Glaubens- und Hoffnungszeichen wurde, erinnert uns, so oft wir es ansehen, an die Liebe, die so hilflos und ohnmächtig zu sein scheint und doch die größte Macht ist, die es gibt. Weil Gott die Liebe ist.

Die Liebe hat eine so unglaubliche Macht, weil sie eine göttliche Kraft ist. Gott greift nicht in den Lauf der Welt ein und auch nicht in unser Leben, jedenfalls nicht so, wie wir es uns manchmal wünschen: mit starker Hand das böse Schicksal abwendend, mit eiserner Faust dreinschlagend, wenn Menschen nicht zum Frieden bereit sind. Gott ist die ohnmächtige Macht der Liebe, und manchmal ergreift diese Liebe Menschen, die dann alles auf eine Karte setzen und blind auf die Macht dieser Liebe vertrauen. Diese Liebe Gottes hat auch uns ergriffen. An einem Punkt in unserem Leben, an dem die meisten von uns noch gar nichts wissen oder wollen konnten, hat sie uns mit Beschlag belegt. Damals wurde uns das Zeichen des Kreuzes zwischen die Augen gemalt, das uns als Merkzeichen ein Leben lang daran erinnert, dass Gott uns liebt, was auch immer wir tun, denken oder sagen. Die Taufe lässt uns sicher sein, dass wir von Gott Geliebte sind. Das kann uns nichts und niemand nehmen.

Weil Gott uns liebt, sitzen wir quasi an der Quelle der Liebe. Es ist eine ganz wundersame Quelle, denn sie fließt um so stärker, je mehr man aus ihr schöpft. Je stärker wir die Liebe unser Leben bestimmen lassen und versuchen, allen Menschen mit der Liebe zu begegnen, mit der Gott uns liebt, desto stärker fühlen und wissen wir, dass wir von Gott Geliebte sind. 

"Du sollst Gott lieben" - das ist kein Gebot. Es ist die Antwort auf Gottes Liebe zu uns, die wir mit unserem Leben geben. Nicht mit Worten, sondern mit unserem Herzen, unserer Seele und mit all unserer Kraft.

Amen.