Samstag, 19. Juli 2014

Biederkeit

Predigt am 5. Sonntag nach Trinitatis, 20. Juli 2014, über 2.Thessalonicher 3,1-5:

Des weiteren: betet für uns, liebe Geschwister, damit das Wort des Herrn flott vorankommt und Bewunderung findet, so wie bei euch. Und damit wir errettet werden von den unsittlichen und verkommenen Menschen. Denn der Glaube ist nicht jedermanns Sache.
Treu aber ist der Herr, der euch fest machen und bewahren wird vor dem Bösen. Wir vertrauen aber im Herrn auf euch, dass ihr tut, was wir anordnen, auch in Zukunft. Der Herr aber lenke eure Herzen auf die Liebe Gottes und auf die Erwartung Christi.


Liebe Gemeinde,

"spiel nicht mit den Schmuddelkindern,
sing nicht ihre Lieder,
geh doch in die Oberstadt,
mach's wie deine Brüder!"
(Franz-Josef Degenhardt, Spiel nicht mit den Schmuddelkindern)

Immer schon übten Menschen, die sich nicht an die Regeln und Normen der Gesellschaft hielten, einen besonderen Reiz aus - gerade auf Heranwachsende. Ob das früher die Sinti und Roma waren, die Zigeuner, die von Ort zu Ort zogen; oder die langhaarigen Hippies, die barfüßigen Blumenkinder; oder die Punks "mit Kniff im Ohr und rote Haar" (Wolf Biermann, Willkommenslied für Till). Die braven Bürger misstrauten ihnen, der Polizei waren sie verdächtig oder gar ein Dorn im Auge. Manche Eltern sorgten sich, ihr Kind könnte auch so ein Rebell werden, der sich gegen die Gesellschaft stellt, aus ihr aussteigt und ihr den Stinkefinger zeigt. Nicht so sehr, weil sie sich etwa ihres Kindes schämten. Sondern weil es zum Weiterkommen in unserer Gesellschaft nun einmal nötig ist, sich anzupassen, "anständig" zu sein und einen "ordentlichen Beruf" zu erlernen.
Wie müssen solchen geplagten Eltern die Worte des heutigen Predigttextes aus dem Herzen sprechen: "damit wir errettet werden von den unsittlichen und verkommenen Menschen. Denn der Glaube ist nicht jedermanns Sache".

Ja, diese Punks, die sich Bier und Zuckerwasser in die Haare gossen, damit sie wie Igelstacheln nach oben standen; die sich "No future" auf die Lederjacke malten - die schienen wirklich an nichts mehr zu glauben. In der Kirche waren sie nie zu sehen - für sie war Kirche geradezu der Inbegriff des Spießertums, das sie ablehnten und gegen das sie ankämpften.
Aber es war ausgerechnet die Kirche - hier, in Meiningen, jedenfalls -, die den Punks einen Raum anbot, ihnen eine Heimat gab. Das gefiel sicherlich nicht jedem Gemeindeglied, und noch weniger gefiel es dem Staat; der beobachtete Punks und Gemeinde ganz genau.
Warum machte die Kirche das? Warum ließ sie sich mit Menschen ein, die so offensichtlich gegen alles waren, wofür Kirche stand: Anstand und Moral; Bescheidenheit, die sich in zurückhaltendem Wesen äußert; Freundlichkeit, die nicht anecken und niemanden provozieren will. Ein stilles und genügsames Leben im Frieden mit den Nachbarn und der Obrigkeit.

Sind die Punks, sind die Menschen am Rand der Gesellschaft, die oft genug nicht freundlich von der Kirche denken und reden - sind das wirklich die Bösen, die der Predigttext meint und vor denen ein braver Christ sich hüten muss? Ist der Glaube tatsächlich nicht ihre Sache oder, andersherum gefragt: ist der Glaube tatsächlich so, dass er Menschen zu braven, biederen Bürgern erzieht?

"Der Glaube ist nicht jedermanns Sache". So, wie dieser Satz im Predigttext steht, in direktem Zusammenhang mit Unsittlichkeit und Verkommenheit, scheint es beim Glauben tatsächlich um Anstand und Sitte zu gehen. Dann wäre der Gläubige derjenige, der die Moral hoch hält, Unmoral dagegen wäre ein klares Zeichen von Unglauben. - So wurde der Glaube auch über Jahrhunderte gesehen und verstanden. Besonders die Obrigkeit hatte ein Interesse, dass ihre Untertanen den Glauben in dieser Weise verinnerlichten: als Wohlverhalten dem Staat und den Mitbürgern gegenüber, das nicht aufbegehrt und nicht aus der Reihe tanzt. Und das einen ordentlichen Abstand hält zu denjenigen, die sich nicht ein- und unterordnen können.

Heute hat sich vieles geändert - und dennoch tut sich Kirche bis heute schwer mit Menschen, die anders sind. Das zeigen die Debatten um die Segnung von gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften oder um das Kirchenasyl. Nach wie vor haftet der Kirche ein Hauch von Biederkeit und Spießertum an. Und es gibt nicht wenige Christen, denen ist so ein bisschen Biederkeit und Spießertum gar nicht unrecht; denen wäre es lieber, Kirche kümmerte sich um ihre Leute, statt sich in Dinge einzumischen, die sie nichts angehen, und sich um Leute zu sorgen, die gar keine Christen sind. Denen wäre es lieber, Kirche hielte einen sicheren Abstand zu den Asylanten und Migranten, den Obdachlosen und Drogensüchtigen, den verwahrlosten Kindern, jugendlichen Müttern und verwirrten Alten.

Der Predigttext selbst, so fromm und bieder er daherkommt, zeichnet ein anderes Bild vom Glauben: "Der Herr aber lenke eure Herzen auf die Liebe Gottes und auf die Erwartung Christi". Glaube bedeutet *Herzenslenkung*, man könnte auch sagen: Manipulation. Aber nicht durch menschliche Schliche und Tricks; Gott selbst soll und wird die Herzen lenken; Gott soll uns fremdbestimmen, fernsteuern. Und zwar auf zwei Ziele hin. Das erste Ziel ist: die Liebe Gottes.

Die Liebe Gottes - was soll das sein? Ein ziemlich schwammiger Begriff, der für alles mögliche stehen kann. Schließlich meinte man früher auch: "Wer sein Kind liebt, der züchtigt es" - und empfand in perverser Verkehrung der Tatsachen Schicksalsschläge, Krankheit und Leid als Zeichen der Liebe Gottes, die sich eben darin zeige, dass er uns durch Leiden "züchtigt". Aber schon damals hätte man wissen können, dass Liebe und das Zufügen von Schmerz niemals zusammengehören- es ist schon schlimm genug, wenn man Liebeskummer, ein gebrochenes Herz erleben und erleiden muss. Man hätte es auch deshalb wissen können - wissen *müssen*, weil Jesus diese Liebe Gottes in einer Weise gepredigt und gelebt hat, dass gar kein Zweifel mehr daran bestehen kann, wie diese Liebe Gottes gemeint ist. Die Liebe Gottes ist nämlich eine Liebe, die den Menschen über das Gesetz stellt und notfalls eher eine Regel bricht, als einen Menschen zu brechen. 

Jesus hat oft Regeln gebrochen - vom Gebot der Sabbatheiligung, als er seine Jünger am Sabbat Ähren raufen ließ und als er am Sabbat Kranke heilte, bis hin zur Gotteslästerung, als er sich selbst zu Gottes Sohn machte. Jesus fand auch nichts dabei, zu den Schmuddelkindern zu gehen und mit ihnen öffentlich gesehen zu werden. Er ließ sich von einer Prostituierten die Füße waschen und küssen; er lud sich bei einem Gauner und Halsabschneider mit Namen Zachäus zum Essen ein. Jesus durchbrach die Regeln und Konventionen seiner Zeit, wenn sie der Liebe Gottes zuwider liefen, die er predigte. Und er predigte, dass diese Liebe Gottes allen Menschen gilt. Nicht nur den Frommen und Braven, sondern auch und besonders jenen, deren Sache der Glaube nicht ist, die nichts von Gott wissen oder die auf andere Weise glauben, als es in der Gesellschaft üblich und schicklich ist.

Folgen wir der Liebe Gottes, so, wie Jesus sie gelebt hat, dann gelangen wir immer wieder zu Menschen, die wenig oder selten Liebe erfahren, Menschen, die am Rand der Gesellschaft stehen. Menschen, die nicht beachtet werden, weil sie noch zu klein sind oder schon zu alt. Menschen, die aufgrund einer Behinderung nicht mit der Mehrheit mithalten können. Menschen, die anders aussehen, anders leben, anders lieben als die Mehrheit. Menschen, die Schuld auf sich geladen haben und auf diese Schuld festgenagelt werden. Die Liebe Gottes drängt uns dazu, diesen Menschen mit Respekt und Mitgefühl zu begegnen. Sie als Menschen *erster* Klasse anzusehen, als Mitmenschen. Sie drängt uns dazu, ihnen die Liebe zu erweisen, die Gott uns erweist, und ihnen zu zeigen, dass sie unter uns willkommen sind.

Das zweite, worauf der Herr unser Herz lenken will, ist die Erwartung Christi, die Parusie, wie sie mit einem Fachbegriff genannt wird. Christus wird wiederkommen, um, wie wir im Glaubensbekenntnis sprechen, "zu richten die Lebenden und die Toten". Und um sein Reich aufzurichten. Das Reich, von dem er schon zu Lebzeiten sagte, dass es nahe herbeigekommen sei.
Weil Jesus sein Reich aufrichtet, reden wir ihn als "Herr" an. Dieses "Herr" ist keine Höflichkeitsfloskel wie bei "Herr Dr. Klöbner". Dieses "Herr" meint auch nicht, dass wir unfreie Sklaven wären, die einem Sklavenhalter - eben: unserem Herrn - gehören, der mit uns und unserem Leben tun und lassen kann, was er will. Nein, "Herr" ist ein Titel - so wie "Kaiser, König, Edelmann", wie "Kanzlerin" oder "Bundespräsidentin". Christus ist das Staatsoberhaupt seines Reiches, deshalb *heißt* er "Herr". Und weil sein Reich von dieser Welt ist und wir schon mit einem Bein darin stehen, deshalb *nennen* wir ihn "Herr". Und darum, weil wir bereits Bürgerinnen und Bürger seines Reiches sind, haben die anderen sogenannten Herrn uns gar nichts zu sagen!

Diese Tatsache, dass wir, obwohl wir Bürger sind mit ihren Rechten und Pflichten, einem anderen Reich angehören, hat Christen zu allen Zeiten immer etwas aufmüpfig sein lassen. Es fiel ihnen schwer, sich anzupassen und unterzuordnen - besonders dann, wenn sie erkannten, dass die sogenannten Herrn Unrecht taten. Dass ihre Herrschaft ungerecht war, weil sie Menschen Leid zufügte. Dann haben sich Christen zwar kein Bier und Zucker ins Haar getan, um sich eine Stachelfrisur zu machen. Aber manche haben es gewagt, ein Stachel im Fleisch des Staates zu sein, haben versucht, dem Rad der Geschichte, das die sogenannten Herrn in Schwung bringen wollten, in die Speichen zu fallen. Nicht, weil sie gegen alles gewesen wären - ganz im Gegenteil: Sie glaubten an etwas Großes: an Gottes Reich.

Das Reich Gottes, das Jesus einst aufrichten wird und das bereits jetzt im Werden ist, ist ein besonderes Reich. Die Bilder, die die Bibel vom Reich Gottes zeichnet, erinnern an den Ruf der französischen Revolution: Freiheit, Gleichheit, Geschwisterlichkeit. Die Bibel spricht davon, dass Menschen Gerechtigkeit widerfährt. Dass sie keine Angst mehr vor dem Bösen haben müssen. Dass der Mensch nicht mehr des Menschen Wolf ist, sondern die Wölfe bei den Lämmern weiden und Gras fressen wie das liebe Vieh.

Das Reich Gottes bedeutet nicht Revolution, und es kommt auch nicht schneller, wenn wir Revolution machen. Es selbst *ist* die Revolution, denn es stürzt unser Leben um. Wenn wir meinen, es genüge, still zu halten und anständig zu sein, lenkt Gott unsere Herzen auf seine Liebe und auf die Erwartung Christi: Gott entzündet sie in Liebe zu unseren Mitmenschen und in der Hoffnung auf einen neuen Himmel und eine neue Erde. Wenn der Glaube unsere Herzen entzündet hat, brennen wir für die Sache Gottes. 
Dann kann es sein, dass es uns egal ist, wenn andere sagen:
"Spiel nicht mit den Schmuddelkindern".
Wir gehen trotzdem zu ihnen, reichen ihnen die Hand, lernen, ihre Lieder zu singen und tragen so einen Stein zum Bau des Reiches Gottes bei.

Amen.