Donnerstag, 24. Juli 2014

Glaubensweg

Predigt am 6. Sonntag nach Trinitatis, 27. Juli 2014, über 1.Petrus 2,2-10: 

Verlangt, wie die neugeborenen Kinder, nach der geistigen, reinen Milch, damit ihr durch sie zunehmt zum Heil, wenn ihr denn geschmeckt habt, wie freundlich der Herr ist. Zu ihm geht hin, dem lebendigen Stein, der zwar von den Menschen verworfen wurde, bei Gott aber erwählt und wertvoll ist, und lasst euch selbst als lebendige Steine zu einem geistigen Haus erbauen, zu einer heiligen Priesterschaft, um geistliche Opfer darzubringen, die Gott gefallen durch Jesus Christus. Denn es steht in der Schrift:
"Schau, ich lege in Zion einen auserwählten und wertvollen Eckstein, und wer an ihn glaubt, wird nicht zuschanden." Für euch, die glauben, hat er Wert. Für die nicht Glaubenden aber ist er "der Stein, den die Bauleute verworfen haben". Dieser wurde zum Eckstein und zum Stein des Anstoßes und zum Fels, durch den sie zu Fall kamen. Sie stoßen sich, weil sie dem Wort nicht gehorchen, wozu sie auch bestimmt sind. Ihr aber seid ein erwähltes Geschlecht, ein Königshaus, eine Priesterschaft, ein heiliges Volk, ein Volk zum Eigentum, damit ihr die Taten dessen verkündet, der euch aus der Finsternis in sein wunderbares Licht rief. Die ihr einst "Nicht-Volk" wart, jetzt aber Volk Gottes seid; die nicht Erbarmen fanden, jetzt aber Barmherzigkeit erlangten.
(Eigene Übersetzung)


Liebe Gemeinde,

verlangen - zunehmen - hingehen - sich erbauen lassen - Opfer bringen - verkünden. Wenn man die Verben aus dem Predigttext aneinanderreiht, ergibt sich ein sehr lebendiges Bild. 

Verlangen - zunehmen - hingehen - sich erbauen lassen - Opfer bringen - verkünden - das sieht aus wie eine große, ausladende Bewegung, wie ein Weg. 

Die Bewegung, die der Predigttext nachzeichnet, ist der Glaubensweg einer Christin, eines Christen. Lassen Sie uns in diesem Gottesdienst, wo wir über die Taufe und damit über unseren eigenen Lebensweg als Christin oder Christ nachdenken, der Glaubensbewegung folgen, die der Predigttext beschreibt. Wir werden uns an manches erinnern, das wir selbst erlebt haben; anderes, das wir bisher nicht sahen oder verstanden, mag dadurch vielleicht Gestalt gewinnen.


#verlangen

"Nach dir, Herr, verlanget mich", so beginnt der 25. Psalm. Und so beginnt auch die Glaubensbewegung einer Christin, eines Christen. Der Predigttext spricht davon, dass man ähnlich ungeduldig hungrig nach Gott sein soll wie Neugeborene nach der Brust ihrer Mutter. Wir können uns selbst nicht daran erinnern, wie wir als Säuglinge waren. Aber wer Kinder hat oder hatte, weiß, in wie kurzen Abständen sie in den ersten Monaten Tag und Nacht an die Brust gelegt werden wollen.

Wenn wir auf unser Glaubensleben zurückblicken: war da jemals ein so heftiges, dringendes Verlangen nach Gott? Sind wir nicht eher irgendwie "reingerutscht" in den Glauben? Als Säuglinge getauft, ohne dass es uns bewusst geworden wäre, ohne dass wir gefragt wurden, und dann in wechselnder Nähe und Distanz zur Kirche aufgewachsen. Irgendwann, irgendwie ist er uns wichtig geworden, der Glaube. Irgendwann, irgendwie haben wir gefühlt und innerlich bejaht, dass wir Christen sind. Aber Verlangen nach Gott - haben wir das je so intensiv empfunden?

"Da wohnt ein Sehnen tief in uns, o Gott, 
nach dir, dich zu seh'n, dir nah zu sein. 
Es ist ein Sehnen, ist einWunsch nach Glück, 
nach Liebe, wie nur du sie gibst", 

singt ein modernes Kirchenlied. Manchmal, da spüren wir ein solches Sehnen in uns.  Die Sehnsucht ist die Schwester des Verlangens. Die Sehnsucht, dass das doch nicht alles gewesen sein kann, dass da noch Leben ins Leben muss. "Unruhig ist unser Herz", sagt Augustinus, "bis es Ruhe findet ihr dir".
Diese Unruhe, diese Sehnsucht stehen, wie das Verlangen, am Anfang des Glaubens. Irgendwann empfindet man diese Sehnsucht nach "mehr", diese innere Unruhe. Irgendwann entdeckt man, dass Gott das Ziel der Sehnsucht ist, dass Gott Ruhe geben, das Verlangen stillen kann. Dann möchte man tatsächlich immer wieder zu ihm, mit ihm zu tun haben, seiner gewiss werden.

#zunehmen

Die Babys, so der Predigttext, nehmen von der Milch zu, die sie trinken. Unglaublich, wie schnell so ein kleines Wurm, das bei der Geburt noch in die Armbeuge passt, aus seinen Sachen herauswächst und bald schon groß und richtig schwer zu tragen ist. Als Christen nehmen wir im übertragenen Sinne zu - wir nehmen natürlich auch an Gewicht zu, was uns ärgert, aber darum geht es beim Glauben ausnahmsweise mal nicht. Die Milch, die wir in uns aufnehmen und die uns zunehmen lässt, ist das Wort Gottes. Es spricht uns an in Geschichten der Bibel, in den täglichen Losungen, im Vers eines Gesangbuchliedes, in einer Predigt. Manchmal stoßen wir auf Gottes Wort, wo wir gar nicht mit ihm rechnen, wo wir es nicht erwarten. Im Urlaub in den Bergen sehen wir das wunderschöne Panorama der Gipfel, und plötzlich kommen uns Worte in den Sinn: 

"Die Himmel erzählen die Ehre Gottes,
und die Feste verkündigt seiner Hände Werk.
Ein Tag sagt's dem andern,
und eine Nacht tut's kund der andern,
ohne Sprache und ohne Worte;
unhörbar ist ihre Stimme."
(Psalm 19,2-3)

In solchen Momenten fühlen wir uns Gott ganz nah. Etwas wächst in uns, wie eine Pflanze eine Wurzel treibt, die sie ernährt und durch die sie größer wird. So treiben auch wir Wurzeln, die uns immer tiefer im Glauben verankern, immer fester mit Gott verbinden; das ist das Zunehmen durch die Milch des Wort Gottes.

#hingehen

Wenn man oben in den Bergen seinem Gott ganz nahe ist, könnte man meinen, der Glaube sei eine einsame und innerliche Sache. Eine Sache zwischen mir und Gott allein, die keinen anderen etwas angeht. Aber so sehr wir den Glauben innerlich empfinden, und so glücklich uns das Gefühl machen kann, Gott nahe zu sein: der Glaube ist nichts, was ich für mich allein haben kann. Jesus hat zwar versprochen: "Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende", aber bei uns, da ist Jesus, wo "zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind". Die Gemeinde ist der Ort, an dem wir Jesus begegnen. 
Und auch in den Mitmenschen begegnen wir ihm. Jesus hat gesagt: "Was ihr einem der geringsten unter meinen Schwestern und Brüdern getan habt, das habt ihr mir getan". Wir wissen nicht, in welchem der vielen Menschen, mit denen wir täglich zu tun haben, uns Jesus begegnet. Ist es die Verkäuferin an der Supermarktkasse? Der alte Herr, der mühsam am Stock die Straße überquert? Der Penner, der uns um Geld anschnorrt? Unsere Nachbarin, die schon wieder die Musik zu laut aufgedreht hat? Das Kind, dem wir morgens, von seinem schweren Ranzen gebeugt, auf seinem Schulweg begegnen? Wir können es nicht wissen. Und vor allem können wir uns den Menschen nicht aussuchen, in dem uns Jesus begegnen will. Meistens denken wir auch gar nicht daran, dass einer der vielen Menschen, an denen wir achtlos vorbeigehen, für uns Jesus hätte sein können. Nur manchmal, wenn merken, dass wir sie übersehen, dass wir vergessen haben, zu helfen, weil wir in Gedanken, in Eile waren oder anderes uns wichtiger schien, - manchmal erinnern wir uns an die Worte Jesu und daran, was wir versäumten. 
Deshalb gehört zum Glauben das Hingehen - hingehen zum Gottesdienst, wo Jesus mitten unter uns ist. Und hingehen zum Mitmenschen, in dem Jesus uns incognito begegnet.

#erbauen lassen

Wenn wir zum Gottesdienst, wenn wir zum Mitmenschen gehen, bauen wir Gemeinde. Das kommt uns nicht so vor, weil die Gemeinde ja quasi immer schon da ist. Wir gehören zu einer Kirchgemeinde, manche seit ihrer Geburt. Weil die Gemeinde immer schon da zu sein scheint, kommt uns gar nicht in den Sinn, dass sie nicht so beständig und unverrückbar ist, wie die aus Stein gebaute Kirche. Gemeinde ist lebendig. Sie besteht nicht aus Steinen, wie die Kirche, sondern aus Menschen, die der Predigttext lebendige Steine nennt. 
Aber nur, weil es Menschen gibt, gibt es noch lange keine Gemeinde. Gemeinde entsteht aus lebendigen Steinen: aus Menschen, die sich zur Gemeinde erbauen lassen und gemeinsam Gemeinde bauen. Das geschieht, wenn Menschen hingehen - in das Haus der Kirche, und zu anderen Menschen. Der lebendige Bau der Gemeinde ist das Gegenüber zum steinernen Bau der Kirche. Während es für eine Kirche fatal wäre, wenn ihre Steine in Bewegung gerieten, weil dann der ganze Bau einstürzen würde, ist es bei der Gemeinde geradezu Voraussetzung, das wir uns vom Wort Gottes bewegen lassen, dass wir aufeinander zu gehen. 

Wenn wir uns zu einer Gemeinde erbauen lassen, dann geschieht mit uns auch das andere, das in dem Wort "erbauen lassen" mitschwingt: wir werden "erbaut". Wir werden gestärkt, werden zuversichtlich, nehmen im Glauben zu dadurch, dass uns andere Menschen mit ihrem Glauben zum Vorbild werden. Dass sie mit uns einstimmen in die selben, alten Worte. Dass sie uns freundlich begegnen, mit und für uns beten. Wir tun dasselbe für sie. So ist Christus mitten unter uns lebendig, so wird durch uns für andere sichtbar, wie sehr Gott uns liebt.

#Opfer bringen

Hinsehen und hingehen zu anderen Menschen - das ist das Opfer, das wir als Christen bringen. Das hört und fühlt sich aber gar nicht wie ein Opfer an. Müssen Opfer nicht weh tun, müssen sie nicht mühsam sein und etwas kosten? Muss man sich als Christin, als Christ nicht etwas abverlangen? Glaube kann doch nicht so einfach, so billig zu haben sein!?
Wenn mir solche Gedanken durch den Kopf gehen, fällt mir ein Wort Jesu ein, und ich stelle mir vor, dass er ein wenig müde aussieht, wenn er es sagt: "Geht aber hin und lernt, was das heißt (Hosea 6,6): 'Ich habe Wohlgefallen an Barmherzigkeit und nicht am Opfer'." (Matthäus 9,13) 
Wir meinen, man müsse Opfer bringen - für die Familie, für die Beziehung, für die Ausbildung, für den Beruf, und dementsprechend auch für den Glauben. Unser Wirtschaftssystem funktioniert so, dass Opfer gebracht und gebraucht werden, damit wir unsere Kleidung, unser Essen, unsere Smartphones möglichst preiswert kaufen können. Dafür arbeiten Menschen in anderen Ländern für einen Lohn, der ihnen kaum zum Leben reicht. Dafür werden bei uns Schweine und Rinder in Massen "produziert".
Wir sind das Opfern gewohnt. Auch wenn wir keine Tiere mehr auf dem Altar schlachten und verbrennen, müssen Menschen und Tiere für unsere Art zu Leben leiden und sterben. Jesus aber hat sich selbst geopfert, damit wir endlich mit dem Opfern aufhören. Jesus hat ein für allemal Schluss gemacht mit der Opferei. Darum müssen wir uns selbst nicht mehr aufopfern. Wir dürfen und sollen Menschen sein mit ihren Unvollkommenheiten und Schwächen, mit ihren Grenzen und ihrem Bedürfnis, zuerst an sich zu denken, zuerst für sich zu sorgen. Das ist die Barmherzigkeit, die wir gefunden haben. Die andere Seite der Barmherzigkeit aber ist die Gerechtigkeit. Denn so, wie wir Barmherzigkeit erfahren haben und erfahren, sollen wir auch anderen gegenüber - Menschen und Tieren - barmherzig sein und sie nicht zu Opfern unseres Lebensstils machen.
Hinsehen und hingehen zu anderen Menschen, mit anderen Worten: Barmherzigkeit, ist das geistliche Opfer, das wir bringen. Barmherzigkeit und ihre Schwester, die Gerechtigkeit, sind nicht schwer - und doch schwerer, als wir glauben. Denn sie bedeuten, unseren Lebensstil zu ändern. Wir können nicht länger ignorieren, was unsere Art zu leben den Menschen in anderen Teilen der Welt, den Tieren und der Erde, auf der wir leben, antut.

#verkünden

Glaube ist also keine heimliche Sache, die man für sich im stillen Kämmerlein mit seinem Gott ausmacht. Glaube muss und will gelebt, gezeigt oder, wie der Predigttext sagt, verkündet werden. Das bedeutet nicht, dass wir uns alle auf dem Markt auf eine Apfelsinenkiste stellen und Predigten halten. Gottes Taten werden nicht allein durch Worte verkündet. Die Taten Gottes, von denen wir durch unser Leben erzählen, sind auch nicht die biblischen Geschichten von Wundern der Vergangenheit, wie dem brennenden Dornbusch oder die Teilung des Roten Meeres. Wir erfahren sie an uns selbst: Das Wunder, dass wir nach einer Enttäuschung, nach einer Krankheit oder trotz großer Verzweiflung Hoffnung gewinnen. Das Wunder, dass uns jemand, dem wir sehr weh getan haben, vergibt. Das Wunder, dass uns jemand liebt, dass wir für jemanden ein sehr wichtiger Mensch sind. Solche und andere Wunder sind Taten Gottes, die wir am eigenen Leib erfahren. Wir verkündigen sie, indem wir uns von ihnen bewegen lassen, anderen Menschen ebenso Gutes zu tun. Der Glaube ist die große, ausladende Bewegung, mit der die Liebe Menschen verbindet und umschließt. Diese Liebe, die wir von Gott erfahren, strahlen wir aus; mit ihr strahlen wir die Menschen an, die uns begegnen, sodass ihr Angesicht leuchtet wie unseres.

Verlangen - zunehmen - hingehen - sich erbauen lassen - Opfer bringen - verkünden. Wir sind in dieser Predigt einen Weg gegangen, der auch der Weg unseres Glaubens ist. Dieser Weg ist noch nicht zuende, im Gegenteil: jeden Tag neu stehen wir sozusagen mit geschnürtem Ranzen in der Türschwelle und gehen aufs Neue los. 
Lassen Sie uns gemeinsam gehen in der Gewissheit, dass wir nicht allein sind, sondern uns gegenseitig geleiten, stützen und ermutigen. 
Und dass der mit uns geht, der uns schon unser ganzes Leben begleitet und der bei uns sein wird, bis wir eines Tages bei ihm angekommen sein werden.


Amen.