Sonntag, 6. September 2015

Rettung

Predigt zur Einführung in die Gemeinde Ingersleben/ Neudietendorf 
am 14. Sonntag nach Trinitatis, 6. September 2015 
in St. Johannis, Neudietendorf
über Lukas 17,11-19:

Und es begab sich, während Jesus nach Jerusalem wanderte, da ging er mitten durch Samarien und Galiläa.
Und als er in ein Dorf kam, begegneten ihm zehn leprakranke Männer, die blieben in der Ferne stehen und riefen laut: Jesus, Meister, erbarme dich unser!
Und als er sie sah, sprach er zu ihnen: Geht, zeigt euch den Priestern! Und es begab sich, als sie weggingen, da wurden sie rein.
Einer aber von ihnen, als er sah, dass er geheilt war, kehrte um und lobte Gott mit lautem Schreien, und fiel auf sein Angesicht bei seinen Füßen nieder und dankte ihm; und dieser war ein Samaritaner.
Da sprach Jesus: Wurden nicht zehn rein? Aber die Neun anderen, wo sind sie? Sind sie nicht umgekehrt, um Gott Ehre zu geben, nur dieser Fremde?
Und er sprach zu ihm: Steh auf und geh! Dein Glaube hat dich gerettet.
(Eigene Übersetzung)


Liebe Schwestern und Brüder,

was einem die Leute so erzählen! Mancher weiß Dinge zu berichten, da klappt einem vor Staunen der Unterkiefer herunter, oder die Haare stehen einem zu Berge vor Schreck. In der Nähe solch begnadeter Erzähler kann das eigene Leben belanglos und langweilig wirken. Der eigene Alltag scheint angesichts dessen, was diese Leute erleben, vergleichsweise wenig Erzählenswertes bereit zu halten.

Die Geschichte, die Lukas erzählt, ist auch eine von diesen Staunen erregenden Stories - jedenfalls, wenn man sie auf der Straße von einer Nachbarin hören würde. Hier dagegen, in der Kirche, wirkt sie gar nicht soo aufregend. Wir haben wohl schon zu oft von solchen Taten Jesu gehört; zu vertraut sind uns diese Wundergeschichten, als dass wir noch darüber staunen würden

Und doch: wenn man genauer hinsieht und hinhört, erkennt man, dass diese Geschichte sehr besonders ist. 

I
Nur auf den ersten Blick handelt es sich um eine der vertrauten Heilungsgeschichten: Zehn Männer, die an Lepra leiden und durch ihre Krankheit am Rand der Gesellschaft leben müssen, werden von Jesus von ihrem „Aussatz“ befreit. „Gereinigt“, heißt es. In diesem „Gereinigt“ schwingt mit, dass die Zehn durch ihre Krankheit „unrein“ waren. Die Verfärbung ihrer Haut, die Entstellungen, die die Lepra verursacht, sind so auffällig, so sichtbar „anders“, dass sie deswegen von der Gesellschaft anderer ausgeschlossen werden - nicht etwa wegen der Ansteckungsgefahr, die von der Lepra ausging; die wurde erst Mitte des 19. Jahrhunderts entdeckt.

Zu allen Zeiten fallen Menschen auf, die eine andere Hautfarbe haben, die sich anders kleiden oder anders verhalten, als man es gewohnt ist. Sie werden gemieden, und oft werden ihnen schlechte Eigenschaften zugeschrieben - so werden sie zu Ausgegrenzten, zu Außenseitern - die Bibel nennt sie: „Aussätzige“. 

Die Unreinheit der zehn Leprakranken trennte sie nicht nur von der Dorfgemeinschaft und der Gemeinde, sondern - nach damaligem Verständnis - auch von Gott. Deshalb reichte es nicht, dass ihre Haut wieder heil wurde. Erst die erfolgreiche Begutachtung durch einen Priester machte sie wieder gesellschaftsfähig.
Wenn Jesus also die zehn Lepraprakranken zum Priester schickt, tut er das, was damals im Falle einer der seltenen Heilungen vom Aussatz üblich war. Und die Neun machen nichts verkehrt, wenn sie sich, statt zu Jesus umzukehren, den Priestern zeigen: Sie handeln so, wie man es von ihnen erwartete und wie Jesus es ihnen auftrug. So weit ist an der Geschichte noch nichts Besonderes.

Doch die zehn Leprakranken sind ja noch gar nicht geheilt, als Jesus sie zum Priester schickt! Sie werden es, als sie sich auf den Weg machen. Die Besonderheit dieser Geschichte ist, dass sich die Kranken auf ein bloßes Wort, auf das Wort Jesu hin, aufmachen, obwohl sie noch gar keine Veränderung an sich bemerken. Sie glauben an sein Wort, vertrauen da-rauf, ohne einen Beweis dafür bekommen zu haben. Sie glauben, und durch diesen Glauben werden sie geheilt.
Für Lukas steht nicht die wunderbare Heilung von einer damals unheilbaren Krankheit im Mittelpunkt. Sondern der Glaube, der diese Heilung ermöglicht. Lukas will sagen: Nicht das Befolgen von Geboten oder Ritualen macht rein, kein ordentlicher Lebenswandel und auch nicht die Bestätigung durch die religiöse Instanz, die Priester, sondern allein der Glaube - mit Luthers Worten: sola fide.

II
Eine zweite Besonderheit schließt sich an die erste an:
Jesus ist von den neun Kranken, die auf sein Wort hin schnurstracks zum Priester gingen, enttäuscht. Offenbar hatte er mehr von ihnen erwartet. Das, was Jesus erwartete, ist das Thema dieses 14. Sonntags nach Trinitatis: Dankbarkeit.
Allerdings erwartet Jesus kein Dankeschön für seine Hilfe. Was er erwartet, scheint auf den ersten Blick gar nichts mit Dankbarkeit zu tun zu haben: Jesus erwartet eine Umkehr, und zwar, „um Gott Ehre zu geben“.

Die Forderung zur Umkehr durchzieht die ganze Bibel. Die Propheten riefen das Volk Israel zur Umkehr auf; Johannes der Täufer predigte: „Kehrt um und glaubt an das Evangelium“ (Markus 1,15), und Jesus tut es ihm nach (Matthäus 4,17).
Umkehren bedeutet: nicht mehr weitergehen auf dem Weg, auf dem man sich gerade befindet. Man kehrt um, wenn man in eine Sackgasse geraten ist; wenn der Weg unwegsam wird; wenn man sich verlaufen hat, das Wetter sich verschlechtert oder die Puste knapp wird. Umkehren hat deshalb immer etwas von einer Niederlage an sich, weil man sich eingestehen muss, dass es auf dem eingeschlagenen Weg nicht weiter geht und man das gesteckte Ziel nicht erreicht.
Das entspricht ziemlich genau dem biblischen Sinn von „Umkehren“. Dort bedeutet „Umkehr“ das Eingeständnis, auf dem falschen Weg gewesen zu sein, einen Irrtum, einen Fehler begangen zu haben. An dieses Eingeständnis - die Bibel nennt es: „Buße tun“ - schließt sich an, dass man seinen bisherigen Weg aufgibt, eben: umkehrt, damit einem der selbe Fehler nicht noch einmal passiert.

III
Jesus erwartet von den zehn Aussätzigen die Umkehr. Wovon sollen sie umkehren? Was haben sie falsch gemacht? Ist die Lepra Strafe für eine Sünde, einen Fehler? - Diese Frage ist uns nicht unbekannt. Gerade, wenn man überraschend erkrankt oder von einem Schicksalsschlag heimgesucht wird, fragt man sich unwillkürlich, womit man das „verdient“, was man falsch gemacht hat. Wir suchen bei einer Krankheit, bei einem Schicksalsschlag nach dem Grund. Wir wollen verstehen, warum uns das zugestoßen ist. 
Aber wenn die Krankheit in unserer Geschichte Strafe für einen Fehler, eine Sünde gewesen wäre, dann hätten die neun Kranken nicht gesund werden dürfen, ohne vorher umzukehren. Jesus aber heilt sie ohne Bedingung, allein auf ihre Bitte hin. Erst dann erwartet er die Umkehr von ihnen. Umkehr ist keine Bedingung für die Heilung, denn Umkehr, wie Jesus sie hier versteht, ist Hinwendung zu ihm, so, wie es der Samaritaner tut: Er geht zu Jesus zurück und wirft sich ihm zu Füßen. 
Wer weiß, womit die neun anderen ihre Heilung erklären werden? Dieser eine jedenfalls hat erkannt und weiß, dass Jesus es war, der ihn geheilt hat. Diese Erkenntnis nennt Jesus „Glaube“, und dieser Glaube, sagt Jesus, hat ihn gerettet.

IV
Die Geschichte unterscheidet also zwischen Heilung und Rettung. Alle zehn Kranken werden geheilt, aber nur einer, der Samaritaner, wird gerettet. Rettung ist offenbar mehr oder anders als Genesung von einer schlimmen Krankheit.
Uns geht es meist so wie den neun anderen: Wir wären mit einer Heilung völlig zufrieden. Unsere Wünsche und Hoffnungen richten sich nicht auf Rettung. Das würde ja bedeuten, dass wir umkehren, dass wir unsere eingelaufenen Pfade verlassen und neue Wege ausprobieren, unser Leben ändern würden. Heilung dagegen bedeutet, dass alles wieder so wird, wie es war. 
Jesus möchte offenbar nicht, dass wir uns mit dem zufrieden geben, was ist, und uns im Bestehenden einrichten. Er möchte, dass wir umkehren, nach neuen Wegen suchen. 
Wir aber möchten am liebsten, dass alles so bleibt, wie es ist. Oder, besser noch, dass es wieder so wird „wie früher“. 
Wir wünschen uns Gesundheit; ein Leben in Frieden und Wohlstand. Wir wünschen uns eine Partnerin, einen Partner für's Leben, Kinder und Enkelkinder. 
Jesus lenkt unseren Blick weg von den Menschen und Dingen, die wir für unentbehrlich für unser Leben halten, auf das, was für unser Leben allein wichtig ist: unsere Rettung
Diese Rettung besteht offenbar nicht darin, eine Familie zu haben, Arbeit, eine Altersversorgung, ein Auto, Haus und Garten - obwohl wir wohl alle überzeugt sind, wir hätten es „geschafft“, wenn wir das erreicht haben. Jesus erklärt nicht, was „Rettung“ ist. Aber ich glaube, wir ahnen, an was er dabei denkt: 
Wir ahnen etwas davon, wenn wir auf unser Leben zurück schauen und uns fragen, was aus unseren Träumen und Hoffnungen geworden ist.
Wir ahnen es, wenn wir Bilder von flüchtenden Menschen sehen, die ihr Leben aufs Spiel setzen, um Krieg, Armut, einem Leben ohne Hoffnung und Zukunft, religiöser Verfolgung oder Rassenhass zu entgehen.
Wir ahnen es, wenn wir Momente erleben, die so unendlich viel schöner sind, uns so viel mehr bedeuten als alles Geld und aller Besitz.

Diese Ahnungen zu haben und zu wissen, wem wir das Wesentliche in unserem Leben verdanken: das meint Jesus, wenn er davon spricht, „Gott Ehre zu geben“. Dass unser Leben glücklich und erfüllt ist; dass unser Herz warm und weit wird für Menschen in Not; dass wir Hoffnungen und Träume haben für unsere Welt: das kommt nicht von uns. Gott lässt uns von einer neuen Welt träumen, in der alle Tränen abgewischt werden; Gott ergreift Partei für die Armen, die Verfolgten und Flüchtenden; Gott schenkt uns Augenblicke im Leben, die uns mit Glück erfüllen. Jesus möchte, dass wir das erkennen, eben: dass wir Gott Ehre geben. Das ist die Dankbarkeit, von der dieser Sonntag handelt. Sie ist nichts anderes als die Erkenntnis, dass uns das Beste im Leben von Gott geschenkt wird, und dass Gott es ist, der unserem Leben Mitte, Sinn und Glück verleiht. Wenn wir das erkennen: Dann sind wir gerettet. Dann sind wir bereit und in der Lage, andere zu retten. Weil wir unseren Wohlstand, unseren Frieden und unsere Freiheit nicht mehr für uns allein behalten müssen; wir können sie teilen.

V
Eine letzte Pointe hält die Geschichte noch für uns bereit: Der einzige, der zu Jesus umkehrt, ist ein Fremder, ein Ausländer. Es ist Lukas wichtig, dass ausgerechnet der uns den Glauben vorlebt, der nicht dazu gehört; der zur Zeit Jesu misstrauisch beäugt und ausgegrenzt wurde, allein deshalb, weil er anders war, unbeliebt, ein Fremder. Wie es bei Lukas auch ein Fremder ist, der als barmherziger Samaritaner zeigt, was Nächstenliebe bedeutet. Warum tut Lukas das? Warum ist ihm gerade dieses Detail wichtig?
Lukas will uns zeigen, worauf es ankommt: Wir sind nicht wertvoll durch das, was wir besitzen, wertvoll nicht durch unseren Ruf, unsere Herkunft, unsere Zugehörigkeit zu einem Verein, zu einem Dorf, einer Gemeinde oder einem Volk. Wir sind wertvoll durch das, was Gott uns schenkt. Weil wir alle bedingungslos zu Gott gehören; weil wir Gottes Kinder heißen und es wahrhaftig sind. Es gibt nichts Größeres als das, keinen Titel, kein Amt, nichts. Der Samaritaner erinnert uns daran, dass alle Menschen, auch die, mit denen wir nichts zu tun haben wollen, Gottes Kinder sind.

VI
Die besten Geschichten sind nicht die, die uns zum Staunen bringen oder uns Angst einjagen. Die besten Geschichten sind die, in denen Menschen gerettet werden. 
Auch wir haben Gelegenheit, an Rettungsgeschichten mitzuwirken. Es sind zum Beispiel die Geschichten der Rettung so vieler Flüchtlinge, die über das Meer kommen, um bei uns Asyl und Gastfreundschaft zu finden. 

Amen.