Montag, 14. September 2015

Sich sorgen

Dialogpredigt am 15. Sonntag nach Trinitatis, 13.9.2015 über Matthäus 6,25-34:

Jesus spricht: Darum sage ich euch: Seid nicht besorgt um euer Leben, was ihr essen oder trinken sollt, noch um euren Leib, was ihr anziehen sollt. Ist nicht das Leben mehr als die Nahrung, und der Leib mehr als die Kleidung? Schaut hinauf zu den Vögeln am Himmel: Sie säen nicht, noch ernten sie, noch sammeln sie in die Scheunen, und doch ernährt sie euer himmlischer Vater; unterscheidet ihr euch nicht erheblich von ihnen?
Wer von euch aber könnte durch Sorgen seinem Lebensalter eine Elle hinzusetzen?
Und warum sorgt ihr euch über die Kleidung? Betrachtet die Lilien des Feldes, wie sie wachsen. Sie rackern sich nicht ab, noch spinnen sie. Ich sage euch aber, dass nicht einmal Salomon in aller seiner Herrlichkeit angezogen war wie eine von ihnen. Wenn Gott aber das Unkraut, das heute noch da ist und morgen in den Ofen geworfen wird, so bekleidet, um wieviel mehr euch Kleingläubige? Macht euch also keine Sorgen, indem ihr sagt: Was werden wir essen? oder: Was werden wir trinken? oder: Was sollen wir anziehen? Nach all diesem streben nämlich die Ungläubigen. Denn euer himmlischer Vater weiß, dass ihr das alles nötig habt. Strebt aber zuerst nach dem Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit, und das alles wird euch hinzugegeben werden. Macht euch also keine Sorgen um morgen, denn Morgen wird für sich selber sorgen. Es reicht, dass jeder Tag seine eigene Plage hat.
(Eigene Übersetzung)

I
Güntzel:
Christian, ich mache mir Sorgen!

Christian:
Nanu, warum machst Du Dir denn Sorgen? Du hast doch gerade erst mit deinem Dienst angefangen; da wird es doch wohl noch keinen Grund zur Sorge geben?

Güntzel:
Nein, nein, um die Gemeinde oder um meine Arbeit mache ich mir auch keine Sorgen. Aber wenn ich die Zeitung lese und die Nachrichten höre, mache ich mir Sorgen wegen der vielen Flüchtlinge.

Christian:
Und, was bedrückt dich da?

Güntzel:
Ich frage mich, wo die alle unterkommen sollen. Ob sie genug zu Essen und zu Trinken bekommen, genug Kleidung. Und dann brauchen sie wahrscheinlich auch Geschirr. Bettzeug. Möbel - all das, was in einem Haushalt eben so nötig ist. Wo soll das denn alles herkommen?

Christian:
Da mach dir mal keine Sorgen!

Güntzel:
Ach, Du meinst wegen des Evangeliums, das wir gehört haben, wo Jesus sagt, dass wir uns keine Sorgen um unser Leben machen sollen? Glaubst du, das gilt auch für die vielen Flüchtlinge?

Christian:
Ich meinte gar nicht das Evangelium, sondern meine Erfahrungen mit den Menschen hier in Neudietendorf und Ingersleben. Du bist noch nicht lange hier, deshalb kannst du nicht wissen, wie hilfsbereit die Menschen hier sind! Jedes Jahr gehen von hier Transporte mit Hilfsgütern nach Rumänien ab, die auch aus unseren Gemeinden gespendet werden. Und neulich haben wir im Kindergarten zu Spenden für die Flüchtlinge in Gotha aufgerufen. Obwohl es nur ein kleiner Zettel am Aushang war, kamen unglaublich viele Sachen zusammen - Kleidung, Spielsachen, Geschirr. Noch immer bekommen wir Dinge, die meine Frau an die Flüchtlinge weitergibt.
Du musst dir also keine Sorgen machen: Bei einer so großen Hilfsbereitschaft vor Ort bin ich sicher, dass sich viele Menschen finden werden, die helfen, wenn Flüchtlinge zu uns nach Neudietendorf kommen sollten!

Güntzel:
Das wusste ich wirklich nicht! Das ist ja großartig! … 

II
Trotzdem, Sorgen mache ich mir noch immer.

Christian:
Was hast du denn noch?

Güntzel:
Ich glaube dir, dass die Flüchtlinge hier Hilfe finden, wenn es ums Essen und Trinken, um Kleidung und Wohnraum geht. Aber, wie heißt es im Evangelium: Das Leben ist mehr als die Nahrung, und der Leib ist mehr als die Kleidung. Ich frage mich, ob man diese Menschen auch freundlich empfangen wird, oder ob ihnen Misstrauen und offene Ablehnung entgegenschlagen werden, wie an so vielen Orten unseres Landes. Lebensnotwendig sind nicht nur Nahrung, Kleidung und Obdach. Es ist auch wichtig, willkommen zu sein, Freunde zu finden, oder zumindest Menschen, die mit einem sprechen, die sich für einen interessieren. Was hilft es, wenn man Essen, Kleidung und ein Dach über dem Kopf hat, aber niemanden, der einem freundlich begegnet, kein Gespräch, keine Einladung, keine Gemeinschaft?

Christian:
Na, du hast ja ein kurzes Gedächtnis!

Güntzel:
Wie meinst du das?

Christian:
Erinnere dich doch mal daran, wie du letzte Woche hier empfangen wurdest! War das nicht freundlich und herzlich? Alle deine Begegenungen bisher, so hast du es selbst letzten Sonntag erzählt, waren herzlich und offen und freundlich. Meinst du nicht, dass anderen Menschen auch eine solche Offenheit und Freundlichkeit entgegengebracht wird wie dir, auch, wenn sie aus einem anderen Land kommen?

Güntzel:
Oh, du hast recht! Ja, ich bin wirklich sehr herzlich empfangen worden - und werde es noch. Jetzt schäme ich mich fast ein wenig, dass ich den Neudietendorfern und Ingerslebern so wenig zugetraut habe …

III
Christian:
Ich kann deine Sorge verstehen: Es gibt sie ja, die Anschläge auf Wohnheime für Flüchtlinge, die mangelnde Gastfreundschaft vielerorts, die offenen Drohungen, auch gegen Helfer. Aber auf der anderen Seite gibt es auch die Menschen, die auf den Bahnhöfen auf die Züge mit den Flüchtlingen gewartet und sie herzlich willkommen geheißen haben.
Im Evangelium vergleicht Jesus die Jünger mit den Vögeln am Himmel und mit den Lilien auf dem Feld und fragt: Seid ihr nicht viel mehr als sie? Und natürlich antwortet jeder auf diese Frage: Ja, ein Menschenleben ist viel mehr wert als eine Pflanze oder ein Tier. Es ist eine rhetorische Frage. Der Wert eines Menschenlebens und die Menschenwürde sind selbstverständlich, und ebenso selbstverständlich ist es, dass man einem Menschen in Not hilft. Diese Hilfsbereitschaft ist uns Menschen angeboren; wir können gar nicht anders, als zu helfen, wenn wir darum gebeten werden. Jeder Mensch, wenn er nicht ganz und gar krank und verroht ist, wird ein Menschenleben über alles andere stellen und wird alles tun, um Leben zu retten.

IV
Güntzel:
Ich weiß nicht … Du hast mich noch nicht überzeugt. Ich denke gerade an die Stelle im Evangelium, wo Jesus sagt, dass die Ungläubigen nach Essen und Trinken und Kleidung trachten. Ich denke, er meint damit, dass es viele Menschen gibt, die ihren Besitz über alles andere stellen, ihren Status, ihr Eigenheim, ihr Auto. Ich bin mir nicht so sicher, dass Menschen, denen Besitz, Ansehen, Einfluss so wichtig sind - oft wichtiger als alles andere, selbst Freunde und Familie - dass diese Menschen dazu bereit sind, etwas abzugeben. Und sei es nur etwas von dem, was sie sowieso im Überfluss haben.
Ich frage mich, ob Mitmenschlichkeit, Nächstenliebe, Hilfsbereitschaft tatsächlich so selbstverständlich sind, wie du behauptest. Oder ob dazu nicht doch der Glaube an Gott gehört.

Christian:
Du meinst den Glauben, der sich an die Gebote hält und deshalb das "Liebe deinen Nächsten wie dich selbst" beherzigt?

Güntzel:
Daran habe ich jetzt gar nicht gedacht, aber du hast recht! Ich meinte aber eher das Evangelium. Mit seiner Aufforderung, sich keine Sorgen zu machen, sagt Jesus doch: Als Glaubender, als Kind Gottes kann ich darauf vertrauen, dass Gott für mich sorgen wird. Gott wird dafür sorgen, dass ich genug zu essen und zu trinken, dass ich etwas anzuziehen habe - und deshalb muss ich mir keine Sorgen machen, was morgen wird. Wie ein Kind, das, von seinen Eltern geborgen, keine Angst vor dem nächsten Tag hat, so kann ich darauf hoffen und mich darauf verlassen, dass Gott mir die Kraft geben wird, den nächsten Tag zu bestehen. Und auch Herausforderungen zu bestehen, wie zum Beispiel die, einer großen Zahl von Menschen schnell und unbürokratisch zu helfen.

Christian:
Ja, aber das ist doch meine Rede!

Güntzel:
Wie? Das verstehe ich nicht!

Christian:
Na, ich habe doch vorhin gesagt, dass es sich für uns Menschen quasi von selbst versteht, anderen zu helfen. Das ist es, was Jesus meint. Es ist ja nicht so, dass Gott nachts Heinzelmännchen schickt, die Kühlschrank und Kleiderschrank auffüllen, wenn sie leer sind. Sondern da ist der Nachbar, der einen zum Kaffee einlädt oder einem den Liter Milch borgt, den man vergessen hat. Immer wieder finden wir Hilfsbereitschaft, wenn wir sie nötig haben. Und als Christen glauben wir, dass Gott es ist, der uns diese Hilfe schickt, Hilfe durch unsere Mitmenschen.

V
Güntzel:
Ah, ich verstehe, was Du meinst! Das heißt also, wenn wir im Vaterunser beten: "Unser tägliches Brot gib uns heute", dann bitten wir im Grunde nicht darum, dass sich unser Kühlschrank jeden Tag auf's Neue füllt, sondern wir bitten  um diese Hilfsbereitschaft in Notfällen?

Christian:
So könnte man es sagen. Das "tägliche Brot" bedeutet ja nicht nur, dass ich jeden Tag satt werde und genug zu essen habe, sondern auch mein Nachbar - oder eben der Flüchtling, der zu uns kommt und unsere Hilfe braucht. Als Gemeinde leben wir in einem ständigen Geben und Nehmen. Wir geben von unserer Zeit, unserer Energie, unserem Wissen, oder ganz konkret von unserem Geld. Und wir bekommen Zeit geschenkt, Zuwendung, gute Worte, ein Lächeln, oder Hilfe, wenn wir sie nötig haben. Und manchmal bekommt ein Durchreisender ein paar Euro, um sich eine Fahrkarte oder etwas zu Essen zu kaufen. Auf diese Weise leben wir als Gemeinde, was Jesus lehrte und wie er selbst die Menschen angenommen hat.

VI
Güntzel:
Das meint Jesus also, wenn er sagt, dass wir zuerst nach dem Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit streben sollen! Das Reich Gottes ist nicht von dieser Welt. Und doch ist es uns so nah, dass man manchmal meint, es wäre nur eine dünne Haut zwischen uns und Gott.

Christian:
Das Reich Gottes besteht nicht in Essen und Trinken, sagt Paulus (Römer 14,17), sondern in dem, was mehr ist als die Nahrung und mehr als die Kleidung. Es besteht in einem Leben, das nicht so sehr nach dem Ertrag und dem Gewinn fragt, sondern danach, wie es meinen Nächsten, meinen Mitmenschen ergeht. Es besteht in einem Leben, das nach Gerechtigkeit fragt und sich um Gerechtigkeit für alle bemüht.

Güntzel:
Eine Kirche, die nach dem Reich Gottes fragt, besteht nicht in Zahlen und Geldbeträgen, sondern aus Menschen, die sich in ihr engagieren. Menschen, die vom Reich Gottes träumen. Die wissen, dass es nicht von dieser Welt ist, und doch etwas davon in dieser Welt verwirklichen wollen, indem sie sich für Nächstenliebe, Mitmenschlichkeit und Gerechtigkeit einsetzen. Wo solche Menschen sind, wird es auch nicht an Möglichkeiten fehlen, eine Kirche, ein Gemeindehaus zu öffnen und zu erhalten.

Christian:
Heute, am Tag des offenen Denkmals, haben wir unsere Kirche nicht nur zum Gottesdienst geöffnet. Wir öffnen sie auch für Menschen, die mit dem Glauben nichts zu tun haben wollen, vielleicht noch nie davon gehört haben. Vielleicht werden sie neugierig auf diesen besonderen Raum. Vielleicht werden sie berührt durch die Gebete, Worte und Lieder, mit denen die Steine dieser Kirche vollgesogen sind. Vielleicht beschließen sie, wiederzukommen, weil sie hier Menschen begegnet sind, die anders waren: Freundlich, herzlich und offen.

Amen.