Donnerstag, 19. November 2015

Die Fremden willkommen heißen

Predigt in der Marienkirche Ingersleben zum Buß- und Bettag/ zum Ende der Friedensdekade am 18.11.2015 über Matthäus 2,13-15:

Als die drei Weisen fortgezogen waren, da erschien Josef ein Bote des Herrn im Traum und sprach: Steh auf, nimm das Kind und seine Mutter und flieh nach Ägypten; bleib dort, bis ich dir's sage. Denn Herodes will das Kind suchen, um es zu töten.
Er aber stand auf, nahm das Kind und seine Mutter bei Nacht und floh nach Ägypten und lebte dort bis zum Tod des Herodes, damit erfüllt würde, was der Herr durch den Profeten sagte, der spricht: "Aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen" (Hosea 11,11).
(Eigene Übersetzung)


Liebe Schwestern und Brüder,

"Grenzerfahrung" war das Motto der diesjährigen Friedensdekade. In den Friedensandachten hier in der Marienkirche haben wir über unsere persönlichen Erlebnisse mit der Grenze nachgedacht, haben ost- und westdeutsche Erfahrungen ausgetauscht. Aus der Partnergemeinde Wolfschlugen kam eine Andacht von Birgit Stoll über Pater Jacques, Priester der katholischen Gemeinde Qaryatein in Syrien, dessen Gemeinde viele hundert muslimische Flüchtlinge beherbergt hatte, bevor Pater Jaques von Terroristen des sog. "Islamischen Staates" entführt wurde. Er wurde von Muslimen aus den Händen der Terroristen befreit. Seine Arbeit und sein Schicksal: eine Ermutigung, dass unterschiedlicher Glaube nicht nur trennen und als Verbrämung terroristischer Grausamkeit dienen muss, sondern dass der Glaube die Grenzen zwischen den Religionen überwinden kann.

Heute, am letzten Tag der Friedensdekade und zugleich am Buß- und Bettag, hören wir von der Familie Jesu, die über die Grenze flieht, um der Verfolgung durch Herodes zu entgehen.
Wahrscheinlich sind Ihnen, wie mir, bei dieser Geschichte die Menschen eingefallen, die aus Syrien, dem Irak oder Afghanistan zu uns fliehen. Wie der Familie Jesu sitzt auch ihnen eine Todesdrohung im Nacken, weil sie dem angeblich falschen Glauben angehören, der falschen Volksgruppe, oder weil die Kämpfe in ihrem Heimatort keine Rücksicht auf das Leben von Zivilisten nehmen.
Mancher hat vielleicht auch zum ersten Mal bewusst wahrgenommen, dass am Anfang des Lebens Jesu eine Fluchterfahrung steht, die er mit vielen von uns, unseren Eltern oder Großeltern gemeinsam hat.

Flucht ist eine Grenzerfahrung im engsten Sinne: Erst, wenn man die Grenze eines anderen Landes überschritten hat, ist man in Sicherheit. Grenze ist hier etwas Gutes: Sie trennt Unrecht von Recht, Verfolgung von Sicherheit, Armut von Wohlstand, Diskriminierung von Gleichberechtigung, Unbehaustheit von Schutz.
Jesus' Eltern fliehen nicht in irgendein Land. Wie die Flüchtlinge heute wählen sie bewusst ein Land, das ihnen Sicherheit verspricht, gute Versorgung, eine Perspektive für die ungewisse Zeit, die sie in diesem Land zubringen werden.

Die Wahl des Fluchtortes ist in unserer Geschichte auch dseshalb nicht zufällig, weil dadurch ein Profetenwort erfüllt wird. Mit der Flucht nach Ägypten soll sich das Wort des Propheten Hosea bestätigen, der sagt: "Aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen".
Nun ist dieses Wort Hoseas aber gar keine Prophezeihung, sondern eine Feststellung. Hosea erinnert damit an den Exodus, die Flucht des Volkes Israel aus der Knechtschaft in Ägypten unter Moses' Führung. Hosea erinnert Israel daran, dass es damals noch auf Gott hörte, sich von ihm rufen ließ, während es jetzt nichts mehr von Gott wissen will.

Matthäus reißt nun diesen Satz Hoseas aus seinem Zusammenhang und tut damit so, als stünde die Erfüllung des Profetenwortes noch aus; als sei die Flucht nach Ägypten teil eines göttlichen Plans. Man kann dadurch den Eindruck gewinnen, Gott habe das alles bloß inszeniert und sei letztlich sogar für den Kindermord des Herodes verantwortlich.
Aber so ist es natürlich nicht. Was sollte es für einen Sinn ergeben, Jesus in Ägypten aufwachsen zu lassen, wo Ägypten in der Geschichte Israels zwar immer wieder Asyl geboten hat, aber vor allem als Land der Knechtschaft in Erinnerung geblieben ist?
Wenn man denn von einem "Plan" Gottes sprechen will und kann; wenn Menschen überhaupt etwas von Gottes Absichten wissen oder auch nur vermuten könnten, dann spielt Ägypten in dieser Geschichte eine ganz andere Rolle: Es ist Ausland. Jesus, der Messias Israels, kommt nicht aus Israel. Er kommt nicht aus den Kreisen der Hohenpriester und Schriftgelehrten, nicht aus den Kreisen der Sadduzäer oder Pharisäer und nicht aus dem terroristischen Zirkel der Zeloten. Jesus ist ein Fremder.

Jesus muss aus der Fremde kommen, um ein Fremder zu sein.
Er muss ein Fremder sein, um nicht verquickt zu sein in die Kreise, wo die Strippen gezogen und die Politik gemacht wird.
Jesus muss ein Fremder sein, weil die Leute in Nazareth dem Sohn des Zimmermanns nicht zutrauen, der Messias zu sein, weshalb Jesus feststellt: "Ein Prophet gilt nichts in seinem Heimatland" (Matthäus 13,57).

Es ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert, dass die ältesten Schriften des Neuen Testaments nicht von den Geschwistern Jesu oder seinen Jüngern stammen, also weder von seiner Familie, noch von seinen Freunden, sondern von jemandem, der Jesus gar nicht persönlich kennen gelernt und ihn nur einmal gesehen hat, dazu noch in einer Vision: von Paulus. Paulus war für die christlichen Gemeinden ein Fremder; er hat sie sogar verfolgt. Aber gerade von ihm haben wir die meisten und wichtigsten Schriften über unseren Glauben!

Jesus ging in die Fremde, um als Fremder zurück zu kehren.
Nur ein Fremder nimmt keine Rücksicht auf alte Freunde und alte Feinde; er geht auf alle mit der selben Offenheit und Unbefangenheit zu.
Nur ein Fremder muss niemandem gefallen, niemandem nach dem Munde reden.
Nur ein Fremder sieht, was wir alles besitzen; wie reich wir sind an Gütern und an Begabungen.
Nur ein Fremder sieht, wie bedürftig wird sind, was wir vor anderen verbergen möchten, was uns fehlt.

Deshalb sollen wir die Fremden bei uns willkommen heißen.
Und sie sind vielleicht gerade deshalb nicht willkommen: Weil sie nicht mitspielen bei unseren Freund-Feind-Spielen. Weil sie uns einen Spiegel vorhalten, der unser Klagen als Jammern entlarvt, der aber auch unsere kleinen und großen Schwächen aufdeckt.
Die Flüchtlinge, die als Fremde zu uns kommen, zeigen uns, wie gut es uns in Wahrheit geht, wie viel wir besitzen, wie klein unsere Sorgen eigentlich sind, verglichen mit ihren.
Die Terroranschläge in Paris waren schrecklich und grausam, sie haben in ganz Europa Mitgefühl und Solidarität geweckt. Was die Augenzeugen dieser Anschläge erleben und mit ansehen mussten: diese Bilder und Erfahrungen werden sie ihr Leben lang verfolgen.
Aber das, was an diesem einen, schrecklichen Abend in Paris geschah, erleben Menschen in Syrien Tag für Tag. Die Bewohner Israels leben jeden Tag mit der Angst vor einem Raketenangriff, einem Selbstmordattentat.

Vielleicht ziehen die Flüchtlingen gerade deshalb den Hass derer auf sich, die sich von unserer Gesellschaft benachteiligt fühlen. Es sind ja nicht die Flüchtenden, die sie benachteiligen, sondern es ist unsere Gesellschaft, es sind wir alle, die einer Frau, die ihr Leben lang schwer gearbeitet hat, nur eine lächerlich kleine Rente zugestehen; die nicht genug dafür tun, Jugendlichen, gerade in ländlichen Gebieten, eine Perspektive zu geben; die Senioren mit den gravierenden Veränderungen unserer Gesellschaft allein lassen. 
Aber im Vergleich zu den Ländern, aus denen die Flüchtlinge fliehen, geht es selbst diesen benachteiligten Menschen noch ausgesprochen gut. Durch die Flüchtenden werden sie Tag für Tag daran erinnert, dass sie - wie wir alle - auf hohem Niveau jammern.

Die Flüchtenden machen Menschen wütend, weil sie ihnen ungewollt den Spiegel vorhalten und ihnen zeigen, wie gut sie es haben, und wie viel besser sie es haben könnten, wenn sie nicht nur jammern würden.
Und sie machen Menschen wütend, weil sie angeblich unsere Kultur zerstören, indem sie ihre fremde Kultur mitbringen. Schon bald, so das Szenario mancher Unheilspropheten, wird Deutschland muslimisch sein, und niemand wird mehr ein Gedicht von Goethe zitieren können.
Aber das Gegenteil ist der Fall. Die vielen katholischen Flüchtlinge, die nach dem Krieg aus Schlesien in die evangelischen Stadtteile zogen, haben auch nicht zu einer Rekatholisierung Deutschlands geführt. Sie haben den Gemeinden, in die sie kamen, oft gut getan, sie bereichert und ihnen neues Leben eingehaucht; aber die Reformation haben sie denn doch nicht rückgängig gemacht …
Die Fremden lassen uns erkennen was uns unsere Kultur bedeutet, was uns so wertvoll ist, dass wir es erhalten und pflegen wollen. Durch sie werden wir uns bewusst, was wir an unserer Kultur schätzen, welche Werte uns wichtig sind.

So ist es auch in der Kirche. Auch hier gibt es Grenzen zwischen den Konfessionen, aber es gibt auch Grenzerfahrungen wie diesen Gottesdienst, es gibt die Ökumene. Wenn wir als Katholiken und Protestanten zusammen feiern, zeigen wir uns, was uns an unseren jeweiligen Glaubenstraditionen wichtig ist und was wir auf keinen Fall aufgeben wollen. So können wir zusammenkommen und gemeinsam Gottesdienst feiern: wir schätzen wert, was der andere hat, ohne es ihm zu neiden, aber auch, ohne es abzuwerten oder schlecht zu reden.

Der Fremde, die Fremde ist unser Spiegel. In ihr erkennen wir, wer wir wirklich sind. In ihr erkennen wir, was wir haben, worauf wir stolz sein können. In ihr erkennen wir, was uns fehlt, was sie uns lehren und geben kann.
Am Buss- und Bettag erinnern wir uns an Gottes Gebot, die Fremden nicht zu unterdrücken, sondern sie zu achten und ihnen die gleichen Rechte zuzugestehen wie uns.
So sollen wir die Fremden achten und willkommen heißen.
Weil sie unser Gegenüber sind, durch das wir erst ganz und vollkommen die werden, die wir sind.
Weil Gott die Fremden besonders liebt und schützt und sie uns wieder und wieder ans Herz legt.
Weil wir selbst immer wieder Fremde sind - nicht nur in unserem Alltag, in den Kreisen und Gruppen, denen wir begegnen, sondern auch und vor allem als Christen in dieser Welt: "Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir" (Hebräer 13,14).
Und schließlich, weil Jesus selbst ein Fremder wurde, um wahrhaft unser Bruder sein zu können.
Amen.