Mittwoch, 30. Dezember 2015

Ihr Horoskop für 2016

Predigt am Altjahrsabend, 31.12.2015, über Römer 8,31b-39:

Wenn Gott für uns ist, wer ist dann noch gegen uns? Er hat ja seinen eigenen Sohn nicht verschont, sondern ihn für uns alle dem Tod übergeben. Wir könnte er uns da nicht mit ihm alles schenken?
Wer will die Erwählten Gottes anklagen? - Gott rechtfertigt.
Wer verurteilt? - Christus Jesus, der gestorben ist, vielmehr, der auferweckt ist, der zur Rechten Gottes ist, der tritt für uns ein.
Wer will uns trennen von der Liebe Christi? Bedrängnis oder Ausweglosigkeit oder Verfolgung oder Hunger oder Blöße oder Gefahr oder Bedrohung durch Waffen? Wie geschrieben steht:
"Deinetwegen schweben wir den ganzen Tag hindurch in Lebensgefahr.
Wir werden als Schlachtvieh betrachtet." -
Aber all diese Widrigkeiten meistern wir gänzend durch den, der uns liebt.
Denn ich weiß, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Obrigkeiten, weder Gegenwärtiges, noch Zukünftiges, noch überirdische Wesen, weder Hochstand, noch Tiefstand der Gestirne, noch eine andere Kreatur, uns trennen kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn.
(Eigene Übersetzung)

Liebe Schwestern und Brüder,

haben Sie schon Ihr Horoskop für 2016 gelesen? Was das neue Jahr wohl bringen wird? Hoffentlich nur Gutes!
Im Supermarkt konnte man sich zu Silvester Glückssymbole aus Blei kaufen, die man heute Abend über der Kerzenflamme in einem Löffel schmilzt. Wenn man sie anschließend in eine Schüssel mit Wasser gießt, ergeben sich bei einigem Glück Figuren, die etwas über das kommende Jahr verraten.

Natürlich sind wir nicht abergläubisch! Wir würden nie eine Entscheidung vom Ausgang des Bleigießens oder vom Horoskop in der Zeitung abhängig machen! Und trotzdem ist man neugierig, was wohl drinsteht im Horoskop, hält alle Jahre wieder geduldig den Löffel über die Kerzenflamme, gespannt, was wohl diesmal herauskommen wird.

II
Auch Paulus stellt uns ein Horoskop, sozusagen. Was er uns vorhersagt, klingt aber gar nicht erfreulich: Bedrängnis, Ausweglosigkeit, Verfolgung, Hunger, Blöße, Gefahr und Bedrohung durch Waffen. Das waren die alltäglichen Bedrohungen der Christinnen und Christen zur Zeit des Paulus. Als Christ war man damals ein Geächteter, ein Staatsfeind. So wie zu Paulus' Zeiten die Christen, so mag sich heute ein Muslim in den Vereinigten Staaten fühlen, oder auch in unserem Land.

Die Erfahrung, jeden Tag in Lebensgefahr zu schweben, machte aber schon der Beter des 44. Psalms, den Paulus zitiert. Er machte sie lange vor den ersten Christinnen und Christen. Es sind also nicht die politischen Umstände, die einen Gläubigen in Gefahr bringen; es ist der Glaube selbst: "Deinetwegen schweben wir den ganzen Tag hindurch in Lebensgefahr", betet der Psalmist.

III
In unseren Breiten befindet man sich als Christin oder Christ nicht in Lebensgefahr. Die schlimmste Gefahr, die einem als Gläubigen droht ist die, sich lächerlich zu machen; nicht für voll genommen zu werden, weil man an einen Gott glaubt, den es doch gar nicht gibt! Die moderne Gesellschaft hat Gott abgeschafft; sie kommt bestens ohne ihn aus. Sie befindet sich nicht einmal mehr in Gegnerschaft zum Glauben. Die Mehrheit vertritt keinen Atheismus, der den schlimmen Irrtum des Gottesglaubens, das mittelalterliche Weltbild der Kirche bekämpfen will. Gott und der Glaube sind für die meisten Menschen schlicht bedeutungslos; sie bemerken nicht einmal mehr, dass ihnen Gott fehlt.

Das Horoskop, das Paulus stellt: Bedrängnis, Ausweglosigkeit, Verfolgung, Hunger, Blöße, Gefahr und Bedrohung durch Waffen, gilt zur Zeit nicht uns. Die erleben es am eigenen Leib, die aus Kriegs- und Krisengebieten zu uns geflohen sind. Durch ihr Schicksal wird uns bewusst, wie gefährdet und zerbrechlich auch unser Glück, unser Wohlstand sind. Ihr Schicksal erinnert uns an die Zeit, in der auch unser Land ein Kriegs- und Krisengebiet war. Die meisten von uns kennen diese Zeit nur aus Erzählungen und aus dem Geschichtsunterricht. Aber es hat sie gegeben, und an den Flüchtenden sehen wir, dass der Krieg leider kein Märchen aus uralter Zeit ist.

Unser Glück ist zerbrechlich. Daran werden wir auch im kommenden Jahr erinnert werden - durch die Nachricht vom Tod einer Nachbarin, eines Verwandten oder eines geliebten Menschen. Durch Schicksalsschläge in der eigenen Familie. Durch den eigenen Körper, der schmerzt und uns Sorgen macht.

IV
Wenn Paulus den 44. Psalm zitiert: "Deinetwegen schweben wir den ganzen Tag hindurch in Lebensgefahr", dann will er damit sagen, dass es das Schicksal der Gläubigen ist, in Widerspruch und im Gegensatz zur Welt zu sein. Der Glaube an sich widerspricht der Welt, weil er ihr eine andere Wirklichkeit entgegen hält, die für den Glaubenden sogar wirklicher ist als das, was man sehen und mit Händen greifen kann.

Solange sich die Welt für den Glauben nicht interessiert, solange er ihr gleichgültig ist, haben die Glaubenden nichts zu befürchten. Es kann aber jederzeit Situationen geben, die uns in Widerspruch zur Welt bringen - z.B., wenn es darum geht, Flüchtlingen zu helfen, was nicht alle Menschen in Deutschland befürworten. Dann kann es sein, dass man selbst angegriffen wird. Wir suchen solche Situationen nicht, aber manchmal gebietet das Gewissen, anders zu handeln als die Mehrheit. Es sind diese Situationen, wegen derer wir im Vaterunser beten: "führe uns nicht in Versuchung".

V
Solche Situationen treten unweigerlich ein. Dazu muss man nicht als Missionarin zu den Heiden gehen, dazu braucht man sich nicht mit Neonazis anzulegen. Es genügt, vor die Haustür zu treten und den Mitschülern oder den Nachbarn zu begegnen. Sobald wir unsere eigenen vier Wände verlassen, geraten wir in Situationen, die unseren Glauben herausfordern: 
Stehen wir dem bei, der von den anderen gemobbt wird? Melden wir uns, wenn wir meinen, jemand wird vom Lehrer ungerecht beurteilt, auch wenn wir sie nicht mögen und finden, es geschieht ihr ganz recht?
Lassen wir uns mit der Nachbarin sehen, mit der niemand etwas zu tun haben will? Widersprechen wir dem Gerücht, das hinter dem Rücken eines Menschen erzählt wird, oder geben wir es zumindest nicht weiter?

VI
Paulus traut uns zu, dass wir dazu in der Lage sind: "Alle diese Widrigkeiten meistern wir glänzend", prophezeit er uns für 2016.
Wir meistern sie, weil wir geliebt werden.

Natürlich werden wir geliebt: Von unseren Eltern. Von unserer Partnerin, unserem Partner. Von unseren Kindern. Aber diese Liebe hat einen Makel: Auch, wenn wir es uns nicht vorstellen können, kann es sein, dass diese Liebe abhanden kommt, aufhört: 
Paare zerstreiten sich untereinander so sehr, dass die Beziehung zerbricht. 
Kinder verlassen das Elternhaus im Zorn und brechen alle Brücken hinter sich ab. 
Geschwister sprechen nicht mehr miteinander.
Manchmal heilt die zerbrochene Liebe. Aber es bleibt immer eine schmerzende Narbe zurück.

Gottes Liebe zu uns dagegen hört niemals auf. Nicht einmal, wenn wir uns im Zorn von Gott abwenden, wenn wir nichts mehr von Gott und dem Glauben wissen wollen. Wir können nichts tun, was Gottes Liebe zu uns beenden könnte. Auch, wenn wir meinen, wir hätten diese Liebe nicht verdient, Gott liebt uns dennoch. Denn Gott liebt uns nicht, wenn und weil wir etwas geleistet hätten, besonders fromm gewesen wären, es zu etwas gebracht hätten. Gott liebt uns seit unserer Geburt, als wir noch gar nichts geben konnten und trotzdem die allerliebenswertesten Geschöpfe waren, die man sich vorstellen kann.

VII
Trotz seiner düsteren Prognosen hat Gott für 2016 eine gute Nachricht für uns: Auch 2016 sind und bleiben wir von Gott geliebt. Auch 2016 haben wir diese Liebe im Rücken, die nichts uns niemand uns nehmen kann.

Das gibt uns Kraft, das macht uns Mut, den Schritt über die Schwelle ins neue Jahr zu wagen und es mit den Problemen und Schwierigkeiten aufzunehmen, die es sicher bringen wird. Denn wir wissen: Wir werden sie meistern. Nicht nur irgendwie, nicht nur gerade so eben. Sondern gänzend.
Amen.