Samstag, 26. Dezember 2015

An Engel glauben?!

Predigt am 2. Weihnachtstag, 26.12.2015, über Hebräer 1,1-6:

Die Predigt verdankt ihren Hauptgedanken der Predigt "Über alle Engel" von Manfred Josuttis, gehalten am 9.5.1982, veröffentlicht in: ders., Über alle Engel. Politische Predigten zum Hebräerbrief, München (Kaiser), 1990, S. 11-14.

Nachdem Gott früher vielgestaltig und mannigfaltig durch die Propheten zu den Vätern gesprochen hatte, sprach er am Ende dieser Tage zu uns durch den Sohn, den er zum Universalerben eingesetzt hat, durch den er auch die Welt geschaffen hat.
Er ist ein Abglanz seiner Herrlichkeit,
ein Abdruck seines Wesens;
er trägt das All durch sein Machtwort;
er reinigt von den Sünden;
er hat sich zur Rechten der Majestät im Himmel gesetzt;
er wurde so viel größer als die Engel,
wie der Name, der ihm verliehen wurde, sich von dem ihren unterscheidet.
Denn zu welchem Engel hat Gott jemals gesagt:
"Du bist mein Sohn,
heute habe ich dich gezeugt" ?
Und an anderer Stelle:
"Ich werde sein Vater sein,
und er wird mein Sohn sein" ?
Wenn er aber den Erstgeborenen wieder in die Welt einführen wird, spricht Gott:
"Und alle Engel Gottes sollen ihn anbeten".
(Eigene Übersetzung)

Liebe Schwestern und Brüder,

nun flattern sie wieder mit ihren kleinen Flügelchen, über der Krippe, am Weihnachtsbaum, auf Weihnachtskarten oder als Kerzenständer, allgegenwärtig in diesen Tagen: die Engel. Längst hat sich Rudolf Otto Wiemers Einsicht durchgesetzt, dass es nicht Männer mit Flügeln sein müssen, die Engel. Sie sind emanzipiert: es gibt inzwischen auch Engelinnen. Ob mit luftigem Leibchen, das den nackten Po gerade noch bedeckt, als nackte Putte, oder fast nur noch aus Kopf und Flügeln bestehend: vielgestaltig und mannigfaltig kommen sie daher. Und harmlos - wer würde sich vor solch einem süßen Engelchen fürchten? - Man versteht nicht, warum sowohl der Engel Gabriel, als er Maria die Schwangerschaft ankündigt, als auch die Engel, die den Hirten auf dem Felde die gute Nachricht von der Geburt des Gottessohnes bringen, ihre Hörer erschrecken und sie deshalb zuerst einmal beschwichtigen müssen: "Fürchtet euch nicht!"

Man versteht den Schrecken jedoch, wenn man sich die biblischen Schilderungen der Engel anschaut: da kann einen schon das Grausen überkommen. Zum Beispiel gibt es die Cherubim mit dem flammenden Schwert, die den Eingang zum Paradies bewachen - und die, wie alle Türsteher, allein durch ihr Äußeres deutlich machen sollen: "Du kommst hier nit rein". 
Da ist der Engel mit dem Schwert, der Bileam den Weg versperrt, aber nur von seiner Eselin gesehen wird, die ihm durch ihren Starrsinn das Leben rettet. 
Da ist der Todesengel, der in der Nacht vor dem Auszug des Volkes Israel aus der Knechtschaft durch die Straßen geht und jeden Erstgeborenen Ägypter tötet. 
Und da sind die Engel der Apokalypse, die ein katastrophales Inferno entfachen, als sie ihre Posaunen blasen. 
Sieht man sich diese biblischen Schilderungen von Engeln an, versteht man, warum der Engel sie erst einmal beschwichtigen musste, als er Maria und den Hirten gegenübertrat. Und kann Rainer Maria Rilke nur zustimmen: "Ein jeder Engel ist schrecklich"

II
Unser Verhältnis zu Engeln ist zwiespältig. Das liegt nicht daran, dass sie auf der einen Seite so niedlich und auf der anderen so schrecklich sind. Sondern daran, dass wir nicht wissen, ob wir an sie glauben sollen. Sie sind gerade jetzt allgegenwärtig, aber das muss ja nicht heißen, dass es sie wirklich gibt - der Weihnachtsmann ist jetzt ja auch allgegenwärtig. 
Andererseits tröstet uns die Vorstellung vom Schutzengel, der über den Menschen wacht, die wir lieben. Und wer schmölze nicht dahin bei Humperdincks Abendsegen aus der Oper "Hänsel und Gretel": 
"Abends, wenn ich schlafen geh, 
vierzehn Engel um mich stehn: 
zwei zu meinen Häupten, 
zwei zu meinen Füßen, 
zwei zu meiner Rechten, 
zwei zu meiner Linken, 
zweie die mich decken, 
zweie die wecken, 
zweie die mich weisen zu des Himmels Paradeisen"
Wer wollte nicht glauben, dass es so ist - besonders dann, wenn sich zwei kleine Kinder im Wald verlaufen haben?
Und wiederum wissen wir nur zu gut, dass kein Engel kleinen Kindern beisteht, die mutterseelenallein draußen sind. Dass kein Schutzengel für uns einspringt, wenn wir nur einen Moment nicht hinsehen, während unser Kind mit Messer, Gabel, Schere, Licht hantiert …

Das kann doch nur bedeuten: Es gibt sie nicht, die Engel. Aber so ganz mag man mit dieser Vorstellung von den vierzehn Engeln nicht brechen, denn vielleicht ist ja doch was dran, und es kann ja auch nichts schaden … Daher kommt unser zwiespältiges Verhältnis zu den Engeln.

III
Dass wir trotz aller Widersprüche an der Vorstellung von den Engeln festhalten, hat einen doppelten Grund: 
zum einen ist es der Wunsch, der Glaube an den unsichtbaren Gott möge etwas Handgreifliches haben. "Du sollst dir kein Bildnis und kein Gleichnis machen", heißt es zwar im zweiten Gebot, und daran halten wir uns auch, so gut wir können - obwohl Gott für uns immer diese auffallend große Ähnlichkeit mit dem Weihnachtsmann haben wird. Aber von seinen Dienern, den Engeln, darf man sich ungestraft Bilder machen. Sie stehen an der Grenze zwischen unserer Wirklichkeit und der Welt des Glaubens, als Wächter und als Vermittler. Indem wir sie uns ausmalen; indem wir Engelsfiguren aufstellen, schaffen wir sozusagen ein Portal in diese andere Wirklichkeit; ist der Himmel uns ein bisschen näher; fällt es uns etwas leichter, zu glauben.

Zum anderen steht hinter der Vorstellung vom Engel die Sehnsucht nach einem machtvollen Eingreifen Gottes. In der Bibel wird unzählige Male davon berichtet, wie Gott den Lauf der Welt und das Schicksal von Menschen verändert - von der Sintflut, die alles Leben auf der Welt auslöscht - mit Ausnahme einiger weniger Auserwählter -, über den Auszug aus Ägypten, als Gott für das Volk Israel das Schilfmeer zerteilt und es über den nachfolgenden ägyptischen Truppen wieder zusammenschlagen lässt, bis zum unscheinbaren Brot, das Elia unter dem Wacholder in der Wüste findet und von dem man nicht weiß, ob es eine Hirtin oder ein Engel dort für ihn hingelegt hat …

Solange man an Engel glaubt, hält man sich zumindest die Möglichkeit offen, dass Gott auch in unser Leben eingreifen könnte. Es ist zwar unwahrscheinlich, dass er es tun wird, aber kann man es wissen? Deshalb wagt man es nicht, die Engel ganz und gar ins Reich der Märchen zu verbannen. Denn damit würde man gleichzeitig auch eingestehen, dass man nicht mehr mit einem Eingreifen Gottes rechnet - und wer weiß, ob man das nicht eines Tages bereut?

IV
Auch der Hebräerbrief geht nicht so weit, die Existenz von Engeln ganz und gar zu leugnen. Im Gegenteil: Weil sie in der Bibel stehen, muss es sie geben. Doch mit der Geburt Jesu ist etwas geschehen, was die Engel unwiderruflich in die zweite Riege verbannt hat. Jesu Geburt, so könnte man sagen, ist schuld daran, dass die Engel von himmlischen Kriegern, die Angst und Schrecken verbreiteten, zu kleinen, harmlosen Flattermännern und -frauen zusammenschnurrten, die niemandem mehr einen Schrecken einjagen. 

Gott hat seine Politik geändert. Das kommt selbst bei Gott ab und an vor. Die Sintflut lässt er über die Erde hereinbrechen, weil er sich über seine Schöpfung so sehr ärgert, dass er sie wieder rückgängig machen und alles ins Chaos stürzen will. Nach der Sintflut reut ihn, was er getan hat, und er schwört, die Erde nie wieder zu verwüsten. 
Mit der Geburt Jesu ändert Gott noch einmal etwas ganz Entscheidendes: Gott verzichtet auf Gewalt, auf jede ihrer Formen. Darum nimmt Gott die gewaltlose Gestalt schlechthin an: Gott wird ein Baby, das dazu noch in ärmlichen Verhältnissen zur Welt kommt.

Jesus wird später lehren, dass man auch die linke Wange hinhalten soll, wenn man auf die rechte geschlagen wird. Er wird zwar voller Zorn die Tische der Händler im Tempel umwerfen und die Wechsler mit der Peitsche aus dem Tempel jagen, aber als die Jünger seine Verhaftung verhindern wollen, verbietet er es ihnen. Ohne Gegenwehr geht er seinem Tod entgegen, um damit die Spirale der Gewalt zum ersten Mal und zugleich ein für allemal außer Kraft zu setzen.

V
In Jesus hat Gott, wenn man so will, der Gewalt abgeschworen und auf eine andere, eine größere Macht gesetzt: auf die Liebe. Der Nachteil dieser Macht ist, dass sie ohnmächtig ist. Mit Liebe lässt sich Gewalt nicht aufhalten; sie ist machtlos dagegen. Wie eine Sandburg, so spielerisch leicht kann man die Liebe zerstören. Alles Schöne ist so leicht zu zerstören - Bücher, Bilder, Noten sind aus Papier; man kann sie verbrennen oder einfach in den Müll werfen. Blüten verwelken, wenn man sie abschneidet; Musikinstrumente sind so zerbrechlich, dass man sie mit wenigen Handgriffen außer Betrieb setzen kann. 
Aber die Liebe ist es, die uns zu Menschen macht. Wir unterscheiden uns dadurch vom Tier, dass wir Schönes schaffen und uns daran freuen können - und nicht dadurch, dass wir Tiere und uns selbst am effektivsten von allen Lebewesen töten, ja, sogar unsere eigene Erde unbewohnbar machen können. Was das Leben lebenswert macht, ist nicht das Gefühl, dass ich der Stärkste bin, so dass alle anderen Angst vor mir haben, sondern die Schönheit, die ich erlebe und vielleicht sogar selbst schaffe; die Liebe, die ich gebe und empfange.
Wenn Jesus alles auf eine Karte, auf die Liebe, setzt, baut er darauf, dass die Schönheit stärker ist als die hässliche Fratze der Rohheit; dass die ohnmächtige Liebe der einschüchternden Gewalt die Stirn bieten kann; dass Kultur die Barbarei besiegt.

VI
Terroristen versuchen, mit Selbstmordattentaten, Bombenanschlägen und Angriffen auf unbewaffnete Menschen Angst und Schrecken - eben: Terror - zu verbreiten. Sie wollen die Spirale der Gewalt anheizen, indem sie barbarische Dinge tun, die in denen, die sie erleben oder von ihnen erfahren, einen gerechten Zorn nach Vergeltung wecken. Sie schlagen dann zurück, treffen die Terroristen, aber eben auch Unbeteiligte, und damit gibt es in der Heimat der Terroristen neue Opfer, werden Häuser, wird Schönes zerstört, was ihnen neuen Zulauf bringt, und so geht es immer weiter …

Wir werden den Terror niemals mit Gewalt beenden - weder den Terror von Menschen, die Unterkünfte für Flüchtlinge zerstören oder unbewohnbar machen, die Helfer einschüchtern und vor Flüchtlingsheimen Böller zünden, noch den Terror des sogenannten "Islamischen Staates", dem unzählige hilf- und wehrlose Zivilisten zum Opfer fallen. Dass wir uns jetzt in Syrien daran beteiligen, möglichst viele von ihnen umzubringen, wird nicht verhindern, dass sie weiter töten - im Gegenteil: wie man an Israel oder Nordirland lernen könnte, schafft Gewalt zuverlässig neue Gegengewalt, wachsen für jeden getöteten Terroristen zwei neue nach. Wir können das Töten nur verhindern, wenn wir den Menschen dort, wo diese Terroristen rekrutieren, Schönheit bringen. Kultur. Liebe.
"Wer zweifelt, explodiert nicht", sagt Dieter Nuhr. Um zweifeln zu können, muss man erfahren haben, dass es mehr als eine Wahrheit gibt. Muss gelernt haben, die angeblichen Wahrheiten zu hinterfragen. Muss eine Perspektive für sein Leben haben, damit man es nicht einfach wegwirft, die Chance, aus seinem Leben auch etwas zu machen.

VII
Also lassen Sie uns weiter an Engel glauben.
Wir wollen an sie glauben, weil sie für Schönheit stehen an der Grenze zwischen zwei Welten, unserer alltäglichen Welt und dem Reich Gottes, von dem die Bibel sagt, dass es ein Reich des Friedens und der Gerechtigkeit ist. 
Wir wollen an sie glauben, weil Felix Mendelssohn-Bartholdys Vertonung des 91. Psalms, "Denn er hat seinen Engeln befohlen über dir" uns jedesmal zu Tränen rührt und unseren Glauben daran bestärkt, dass die Liebe doch stärker ist als alle Brutalität, Rohheit und Dummheit der Menschen, stärker sogar als der Tod. 
Wir wollen an sie glauben, denn sie weisen uns auf den, der über alle Engel ist, der uns so sehr geliebt hat, dass er sein Leben für uns gab, und dessen Liebe den Tod besiegt hat, damit wir in unserer Angst vor dem Tod nicht mehr auf die Gewalt vertrauen, sondern auf die Liebe. Amen.