Predigt
an Christi Himmelfahrt, 5.5.2016, über Apg 1,3-11:
Liebe
Gemeinde,
manchmal
sieht man den Wald vor lauter Bäumen nicht.
Manchmal
ist man von Details, von Einzelheiten so gefesselt oder verwirrt,
dass man darüber das Ganze aus dem Blick verliert.
Das
kann einem auch bei der Geschichte von der Himmelfahrt passieren:
Nach
seinem Leiden erwies sich Jesus den Aposteln durch viele Beweise als
lebendig. 40 Tage lang erschien er ihnen und sprach zu ihnen über
das Reich Gottes. Und während er mit ihnen zusammen war, befahl er
ihnen, nicht von Jerusalem wegzugehen, sondern die Verheißung des
Vaters zu erwarten, „die ihr von mir gehört habt. Denn Johannes
hat mit Wasser getauft, ihr aber werdet in wenigen Tagen mit heiligem
Geist getauft werden“. Die nun zusammengekommen waren, fragten ihn:
„Herr, wirst du jetzt die Königsherrschaft für Israel
wiederherstellen?“ Er aber sprach zu ihnen: „Ihr dürft Zeit oder
Zeitpunkte nicht wissen, die der Vater in seiner Vollmacht
festgesetzt hat. Aber ihr sollt Kraft empfangen, indem der Heilige
Geist über euch kommen wird, und ihr sollt meine Zeugen sein in
Jerusalem und in ganz Judäa und Samaria und bis ans Ende der Erde“.
Nachdem
er das gesagt hatte, sahen sie, wie er aufgehoben wurde und eine
Wolke ihn vor ihren Augen verbarg. Und während sie noch gespannt zum
Himmel emporblickten, wohin er gegangen war, standen plötzlich zwei
weiß gekleidete Männer bei ihnen, die sprachen: „Ihr Galiläer,
was steht ihr da und seht zum Himmel? Dieser Jesus, der von euch in
den Himmel emporgenommen wurde, wird so wiederkommen, wie ihr ihn
habt in den Himmel gehen sehen“.
I
Wenn
man sich die Geschichte der Himmelfahrt ausmalt,
entsteht
ein eigenartiges Bild:
Da
sehen wir die Jünger, wie sie den Kopf in den Nacken legen
und
angestrengt nach oben starren,
wie
beim Raketenstart in Baikonur oder auf Cape Caneveral.
Als
ob man von Jesus vielleicht noch die Füße sehen könnte,
wie
sie gerade in den Wolken verschwinden,
oder
gar so etwas wie einen Kondensstreifen …
Als
ob Jesus wie eine Rakete in den Himmel zischte!
Nein,
so geht es nicht.
Die
Geschichte von Himmelfahrt ist keine Beschreibung.
Sie
ist ein Bild. Ein Bild der Abwesenheit.
Ein
Bild dafür, dass der, von dem die Evangelien so viel erzählt haben,
nun
nicht mehr da ist.
Himmelfahrt
ist ein Bild für unsere Realität, für unser Leben,
in
dem Jesus abwesend ist.
Man
kann ihn einfach mal eben treffen oder anrufen.
Deshalb
kommen zwei Engel ins Bild, die die Jünger ansprechen.
Damit
ziehen sie deren und unsere Blicke auf sich.
Sie,
wir, verlieren Jesus aus den Augen,
dem
wir eben noch hinterher geschaut haben.
Damit
lenken sie die Jünger - und mit ihnen uns -
von
der unglaublichen Himmelfahrt ab,
lenken
ihren und unseren Blick zurück auf den Boden der Tatsachen.
Damit
weisen sie die Jünger - und mit ihnen uns -
darauf
hin, dass wir den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen,
wenn
wir gebannt in den Himmel starren, als ob da irgendwas wäre:
„Was
steht ihr da und seht zum Himmel?“
Die
beiden Engel lenken den Blick der Jünger, lenken unseren Blick
auf
die Erde zurück: Jesus ist nicht da,
die
Jünger, wir, sind auf uns allein gestellt.
Die
Jünger, wir, stehen mit unserem Glauben und dem Problem,
diesen
Glauben in der Welt
und
gegenüber der Wirklichkeit zu behaupten, allein da.
II
Das
haben wir alle erlebt:
Irgendwann
im Leben kommt der Moment, wo man allein dasteht.
Wo
Mutter oder Vater nicht mehr für einen da sind,
um
zu helfen, um etwas für einen zu regeln.
Irgendwann
muss man sich selbst das Brot schmieren,
selbst
die Schuhe zubinden;
irgendwann
muss man sich einfuchsen
in
diese furchtbar komplizierte Bedienungsanleitung des Lebens
-
von der Krankenversicherung über die Steuererklärung
bis
zur Telefonrechnung,
vom
verstopften Abfluss bis zur gestopften Socke,
vom
Hosen- bis zum Autokauf,
vom
ersten Kuss bis zum Heiratsantrag.
Irgendwann
wird man erwachsen.
Himmelfahrt
beschreibt den Moment,
in
dem die Jünger, in dem wir Gläubigen
aus
der Abhängigkeit von Greifbarem heraustreten
und
erwachsen werden.
Wo
die Jünger, wo wir gelernt haben,
dass
es keine Beweise für den Glauben,
keine
Wunder, keine automatische Erfüllung unserer Wünsche gibt.
Wo
die Jünger, wo wir gelernt haben,
dass
der Zweifel und die Unsicherheit zum Glauben dazugehören.
Wie
lernt man das?
Indem
man lernt, den Wald zu sehen,
und
nicht nur die vielen einzelnen Bäume.
III
Als
Heranwachsende/r fühlt man sich mit seinen Problemen,
mit
seiner Unsicherheit ganz allein auf der Welt.
Man
hat das Gefühl, man sei die/der einzige,
die/der
nicht weiß wie das denn nun geht mit dem ersten Kuss,
mit
der Liebe, oder auch mit der Lehre oder dem Studieren.
Die
anderen prahlen mit ihren Erfahrungen und Erfolgen.
Ihnen
scheint alles leicht zu fallen,
für
sie scheint das alles kein Problem zu sein
mit
den Küssen und den Reißverschlüssen …
Deshalb
traut man sich nicht, zu fragen
-
man will sich schließlich nicht blamieren.
Irgendwann
macht man aber die befreiende Erfahrung,
dass
es jeder und jedem so geht.
Man
sieht das Ganze: Sieht,
dass
solche Fragen und Probleme zum Erwachsenwerden dazugehören,
dass
jeder Mensch auf dem Weg zur Selbständigkeit
mit
Sorgen und Problemen zu kämpfen hat
-
auch und gerade die, die schon in der Schule eine große Klappe
hatten.
Sie
wollten es bloß nicht zugeben,
weil
sie sich noch mehr schämten als wir.
Die
Angst, die Probleme und die unvermeidlichen Fehler
haben
wir alle gemeinsam.
Und
hätten wir gewusst, dass es allen so geht,
wäre
uns manches nicht so peinlich gewesen,
hätten
wir manches mutiger ausprobiert,
wäre
uns der Weg in das Leben der Erwachsenen
womöglich
leichter gefallen.
IV
Aus
vielen Einzelteilen wird ein Ganzes,
aus
vielen Bäumen wird ein Wald.
Aus
vielen Einzelpunkten setzt sich ein Bild zusammen.
Aus
vielen unterschiedlichen Menschen wird die Gemeinde.
Menschen,
die sich mit ihren Schicksalen,
mit
ihren Erfahrungen, ihren Sorgen und Ängsten allein fühlen,
erfahren
in der Gemeinde,
dass
es vielen - wenn nicht allen - so geht wie ihnen.
Im
großen Ganzen der Gemeinde
bekommen
Erfahrungen, Sorgen und Ängste den Platz und die Größe,
die
ihnen gebührt.
Sie
verschwinden nicht, aber sie werden kleiner,
verlieren
ihre Macht und befähigen zum Handeln.
Im
großen Ganzen der Gemeinde
schrumpfen
auch die Sorgen und Nöte der Welt
-
seien es die unserer Umwelt,
seien
es die der großen Welt der Poilitik unseres Staates oder Landes,
oder
seien es die unserer kleinen Welt hier unter dem Kummelkreuz.
Schrumpfen
von überwältigender Größe auf ein Maß,
das
hoffen lässt, dass man doch noch etwas tun kann.
Im
großen Ganzen der Gemeinde geschieht all das,
weil
Jesus hier mitten unter uns ist.
Gemeinde,
so sagt die Bibel, ist der Leib Christi.
So
wie die vielen einzelnen Bäume den Wald ergeben,
so
sind wir vielen einzelnen Menschen zusammen
ein
größeres Ganzes: der Leib Christi.
Der
Leib Christi ist ein so großes Ganzes,
dass
Gott uns darin nahe ist,
wenn
wir in seinem Namen zusammenkommen.
V
„Was
steht ihr da und seht zum Himmel?“
Die
Engel haben recht.
Wer
nur nach oben sieht, der bleibt bei sich;
der
sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht.
Erst
wenn man sich umsieht,
stellt
man fest, dass man nicht allein ist.
Es
sind Mitmenschen da,
die
meine Sorgen und Ängste,
meine
Freude und mein Glück mit mir teilen.
Es
sind Mitmenschen da, die, wie ich,
mehr
erwarten vom Leben,
die
sich einsetzen wollen, es besser machen wollen
für
sich und andere.
Es
ist nur ein kleiner Wechsel des Blicks,
der
unglaublich viel verändern kann.
Amen.