Sonntag, 8. Mai 2016

Freiraum schaffen!

Predigt am Sonntag Exaudi, 8. Mai 2016, über Epheser 3,14-21:

Ich beuge meine Knie vor dem Vater,
von dem jedes Geschlecht im Himmel und auf Erden den Namen empfängt,
dass er euch gebe
nach der Fülle seiner Herrlichkeit
Kraft für den inneren Menschen, 
damit ihr durch seinen Geist stark werdet
und damit Christus durch den Glauben in euren Herzen wohne
in Liebe, die fest verwurzelt und fundiert ist,
damit ihr imstande seid,
mit allen Heiligen ihre Dimensionen zu begreifen,
und zu erkennen, 
dass die Liebe zu Christus alle Erkenntnis übertrifft,
damit ihr erfüllt werdet
mit aller Fülle Gottes.
Dem aber, der imstande ist, Größeres zu tun als alles, 
was immer wir bitten oder ausdenken mögen
durch die Kraft, die in uns wirksam ist,
dem sei Ehre in der Gemeinde und in Christus Jesus
für alle Geschlechter von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.

(Eigene Übersetzung, vgl. http://offene-bibel.de/wiki/Epheser_3)


Liebe Schwestern und Brüder,

„mach dich nicht breiter als dein Hemd ist“, 
schimpfte mein Vater,
wenn ich am Küchentisch oder auf dem Sofa zuviel Platz beanspruchte.
Jeder Mensch braucht ein Plätzchen, wo er leben kann,
braucht einen gewissen Freiraum um sich herum
und einen Raum für sich allein:
das eigene Zimmer, in das man sich zurückziehen kann.
Wenn man diesen Raum nicht hat,
wenn andere einem zu sehr „auf die Pelle“ oder „auf die Bude“ rücken, bekommt man Platzangst.

I
Der Mensch braucht nicht nur äußerlichen Raum um sich herum, man braucht auch innerlichen Raum: 
einen Spielraum für den inneren Menschen, der Möglichkeiten der Entscheidung und des Handelns eröffnet.
Diesen Spielraum muss man sich erst erarbeiten.
Er wächst, wie man selbst wächst.
Als kleines Baby hat man nur eine einzige Möglichkeit: schreien.
Ein Baby schreit, wenn es Hunger hat und wenn die Windel voll ist, wenn es auf den Arm genommen werden will und wenn es Bauchschmerzen hat. Als Vater oder Mutter ist man anfangs schwer im Stress, weil man das Schreien nicht deuten kann und erst herausfinden muss, was der Grund dafür ist.
Mit zunehmendem Alter wachsen die Ausdrucksmöglichkeiten, und die Handlungsalternativen nehmen zu. Die hohe Schule des Ausdrucks und der Handlungsmöglichkeiten ist der Flirt, wo man, aber besonders frau, mit Nähe und Distanz, mit Locken und sich Entziehen spielt, mit Blicken, Gesten, Düften und Worten.

Diese Anziehung und dieses Knistern, die Erotik, die ein Flirt entfacht, kann man auch auf geistiger Ebene erleben. 
Sie stellen sich ein, wenn man eine neue Erkenntnis gewonnen hat: Wenn man erkannte, dass man Dinge noch einmal ganz anders sehen und verstehen kann.
Es ist aufregend, ausgetretene Bahnen des Denkens zu verlassen;
es ist befreiend, Denkverbote und Tabus, „das haben wir immer schon so gemacht“ und „das gehört sich so“ über Bord zu werfen.

Die ehemalige DDR-Bildungsministerin Margot Honecker, die am Freitag in ihrem chilenischen Exil gestorben ist, stand für das Gegenteil: Sie wollte die Verengung des Denkens auf das, was die Partei zu denken vorgab - die Partei, die immer recht hatte. Sie wollte Betonköpfe erziehen, die die Mauern schon in ihre Hirne eingezogen hatte.
Frühere Schüler Margot Honeckers finden sich jetzt in der AfD. Der AfD ist die von den 68ern errungene Freiheit des Denkens zu bunt, das langhaarige, hippiehafte ist ihr ein Gräuel. Sie möchte alles schwarz-weiß haben; rot-grün kann sie überhaupt nicht leiden. Nur gegen deren Mischfarbe hat sie nichts einzuwenden …

II
Räume, Freiräume schafft der heutige Predigttext aus dem Epheserbrief. Er ist ein Gebet - die Kniebeuge, die der Verfasser im ersten Satz vollzieht, ist eine Geste des Betens. Wir kennen sie aus der katholischen Kirche und vom Karfreitag.
Der Verfasser bittet nicht direkt um Räume. Aber das ganze Gebet ist voller Worte, die mit Raum zu tun haben: die Fülle und das Wohnen, Wurzeln, Fundament und Dimensionen, Erfülltwerden, und am Schluss noch einmal die Fülle.
Es werden also, genau genommen, keine Räume eröffnet, sondern gefüllt, und zwar ziemlich reichlich. Die Epheser, für die der Autor betet, sollen geradezu überschüttet werden mit - - - ja, womit denn?

Wer „Harry Potter“ kennt - die Bücher las oder die Filme gesehen hat -, weiß, dass der böse Lord Voldemord sich darüber lustig macht, dass es immer wieder die Liebe ist, auf die der Unterschied zwischen ihm, dem Bösen, und Harry Potter, dem Guten, hinausläuft. Harrys Fähigkeit, zu lieben, die der Böse nicht hat, schützt ihn, wie die Liebe seiner Mutter ihn vor Lord Voldemords Todesfluch bewahrt hatte.

Auch in biblischen Texten taucht in schöner Regelmäßigkeit die Liebe als das Geheimnis auf, das hinter und über allem steht. Man kann es bald nicht mehr hören. Ist nicht schon alles über die Liebe gesagt? Gibt es keine anderen Themen, über die sich zu schreiben und nachzudenken lohnte?

III
Für einen heranwachsenden Menschen ist die Liebe die wichtigste Sache überhaupt, und furchtbar aufregend: Der erste Kuss, das erste Verliebtsein geben Rätsel über Rätsel auf. Man hat Angst, etwas falsch zu machen, man hat Angst, ausgelacht zu werden, man hat Angst, verletzt zu werden, man hat vor ziemlich allem Angst, was mit der Liebe zusammenhängt - und kann doch nicht anders: 
man muss es probieren.
Es wird aber nicht besser nach der ersten Beziehung, dem ersten Kuss, denn mit jedem neuen Partner ist wieder alles neu und anders und aufregend und peinlich. Erst, wenn man in einer festen Beziehung lebt, meint man, nun hätte man das Problem mit der Liebe endlich gelöst und hinter sich gelassen.
Ein schwerer Irrtum.
Die Liebe lässt sich nicht in eine Beziehung einsperren oder in einen Ehering fesseln. Sie ist lebendig, verändert sich und will immer wieder neu gelebt, geliebt und entdeckt werden - auch und gerade zwischen Partnern, die ihr halbes Leben miteinander verbracht haben.

Liebe gibt es aber nicht nur exklusiv zwischen Zweien. 
Die Liebe ist zu groß und zu mächtig, als dass sie sich in Zweisamkeit erschöpfen würde.
Heute ist Muttertag: Wir denken dankbar an unsere Mütter und an die Liebe, mit der sie uns erfüllten.
Wer Geschwister hat, musste sich diese Liebe der Mutter mit den anderen teilen. Dafür hat er/sie eine andere Art der Liebe gewonnen: Die Liebe zwischen Geschwistern, die sogar große Entfernungen und lange Zeiten des Getrenntseins übersteht und überbrückt.

IV
Der Predigttext schließlich spricht von der Liebe zu Christus. Im Griechischen ist dieser Ausdruck doppeldeutig: Er kan sowohl die Liebe zu Christus meinen als auch die Liebe Christi, die Liebe, mit der Christus uns liebt. Aber das kommt letzten Endes auf's gleiche hinaus. Denn Christus lieben können wir nur, weil Christus uns liebt. Umgekehrt geht es nicht: Christus liebt uns nicht deshalb, weil wir uns furchtbar viel Mühe geben würden, ihn zu lieben.

Wie soll man sich diese Liebe Christi vorstellen?
Nonnen im Kloster trugen einen Ring am Finger; sie waren mit Christus verlobt und verstanden sich als „Bräute Christi“. In frommem Überschwang hat manche diese Liebe zu Christus nicht nur geistlich aufgefasst - jedenfalls könnten die Schriften mittelalterlicher Mystikerinnen gut als erotische Literatur durchgehen.

Auf jeden Fall ist die Liebe Christi keine „Kopfsache“.
Das Gebet bittet am Ende um die Erkenntnis, „dass die Liebe zu Christus alle Erkenntnis übertrifft“. 
Ein schönes Wortspiel.
Aber wie erkennt man denn nun, dass es gar nicht auf das Erkennen ankommt? Ist das nicht ein Widerspruch?

Als Heranwachsende/r macht man sich viele Gedanken über die Liebe. Manche/r versucht, im Kopf zu lösen, was sich dann in der Begegnung mit der oder dem anderen ereignen soll. Erst mit dem Alter und der Erfahrung lernt man, dass man sich einfach fallen lassen kann in dieses überwältigende Gefühl, in die Arme der oder des anderen.
Manchmal erleidet man dabei allerdings eine schmerzhafte Bauchlandung. Manche/r, der zu oft so hart fiel, hat es verlernt, sich fallen zu lassen …

Auch in die Liebe zu Christus kann man sich nur fallen lassen. Es führt kein gedanklicher Schritt zu ihm hinüber.
Der Glaube, der die Voraussetzung zu dieser Liebe ist, ist ein Sprung - und ein ziemlich riskanter noch dazu, so als spränge man über einen tiefen, garstigen Graben, und das ohne Netz und doppelten Boden. Denn der Glaube widerspricht vielem von dem, was wir als wahr und richtig gelernt haben.
In den Augen derer, die auf Zahlen vertrauen, macht er einen zum naiven Trottel. Der Glaube bringt manchmal all die Peinlichkeiten und Verletzungen zurück, die man mit den ersten Liebeserfahrungen abgelegt zu haben glaubte.
Aber ohne diese Verletzlichkeit, ohne die Bereitschaft, sich bis auf die Knochen zu blamieren, kommt man zu Jesus nicht hinüber.

V
Kein Wunder, dass viele gern auf den Glauben verzichten!
Wer will sich schon zum Affen machen,
wer will sich so verletzlich machen, so verletzt werden,
wie es viele überzeugte Christen als Schülerinnen und Schüler im System der Margot Honecker erleben mussten?

Zum Glück ist der Glaube keine bewusste, willentliche Entscheidung. Er überfällt einen - wie die Liebe. Und wie bei der Liebe kann man gar nichts dagegen tun. Denn hinter ihm steht eine Kraft, die Menschen niemals bändigen und unter ihre Kontrolle bringen werden: der Geist Gottes, dessen Kommen wir am kommenden Sonntag feiern.
Dieser Gottesgeist ermutigt und befähigt uns zum Sprung über den Graben in den Glauben. 
Er gibt uns Kraft, auf die Liebe zu vertrauen - trotz aller Enttäuschungen und Verletzungen, die wir erlitten haben.

Wer von dieser Liebe erfüllt ist, gewinnt Spielräume. 
Erlebt eine solche innere Weite, 
dass Raum selbst in der kleinsten Hütte ist; 
dass am Krankenbett oder im Sterbezimmer keine Platzangst aufkommt; 
dass Asylantenheime und Moscheen keine Angst einflößen; 
dass jede Kirche zum Zuhause wird.

Wer von dieser Liebe erfüllt ist, braucht sicherlich weiterhin seine Freiräume und sein eigenes Zimmer.
Aber sein Herz ist so groß und weit geworden,
dass es Platz für alle Menschen hat.
Nicht nur für den Liebsten oder die Liebste,
nicht nur für die eigenen Kinder und Enkel,
nicht nur für Familie und nahe Verwandte,
nicht nur für Freunde und Bekannte -
alle Menschen finden darin Platz.
Sogar die finden Mitgefühl und Liebe, die beides eigentlich nicht verdient haben, weil sie selbst nicht dazu fähig sind.

VI
Die Liebe Christi macht auf eine nüchterne Art betrunken.
Man vergisst zu fragen, was man davon hat, was man dafür bekommt, oder ob der andere die Liebe überhaupt verdient.
Sie eröffnet neue Räume, 
die Spielräume und Auswege zugleich sind 
in einer Gesellschaft, 
die nur nach den Kosten, nach dem Wert und nach dem Preis fragt. Die etwas nur tut um des Gewinns willen oder um des Nutzens willen, aber nicht um seiner selbst willen.
Die Liebe zeigt uns, dass man etwas um der Liebe willen tun kann.
Und das jeder Mensch um seiner selbst willen etwas „wert“ ist, nämlich: liebenswert, weil die Liebe Christi ihm/ihr gilt wie uns, und weil er/sie, wie wir, fähig ist, Christus zu lieben, wenn der Heilige Geist es ihm/ihr schenkt.
Amen.