Sonntag, 10. Juli 2016

Früher war alles besser

Predigt am 7. Sonntag nach Trinitatis, 10. Juli 2016, über Apostelgeschichte 2,42-47:

42 Sie blieben bei der Lehre der Apostel und der Gemeinschaft, beim Brotbrechen und den Gebeten.
43 Jedermann befiel Furcht, und es geschahen viele Wunder und Zeichen durch die Apostel.
44 Alle Gläubigen aber waren am selben Ort zusammen und hatten alles gemeinsam,
45 und die Grundstücke und den Besitz verkauften und verteilten sie an alle, je nachdem, wie es einer nötig hatte.
46 Sie pflegten aber, täglich einmütig im Tempel zu sein, brachen in den einzelnen Häusern das Brot, nahmen ihre Mahlzeiten mit Jubel zu sich, und in Schlichtheit des Herzens
47 lobten sie Gott und fanden Wohlwollen beim ganzen Volk.
Der Herr aber fügte täglich Gerettete am selben Ort hinzu.
(Eigene Übersetzung)

Liebe Schwestern und Brüder,

früher war alles besser.

Diesen Satz erwartet und hört man von älteren Menschen, die wehmütig an die gute, alte Zeit zurückdenken.
Manchmal ertappt man sich auch selbst bei diesem Gedanken - wenn man z.B. sieht, wie die Schüler von heute büffeln müssen, so dass sie kaum noch Freizeit haben, während man früher, nachdem man sofort nach Schulschluss seinen Ranzen in die Ecke gepfeffert hatte, den Nachmittag im Schwimmbad verbrachte.
Oder man ärgert sich darüber, dass die Jugend von heute lieber mit dem Smartphone spielt, als sich mit einem zu unterhalten.
Oder man stellt beim Warten auf den Eisverkäufer fest, dass eine Kugel Eis heute soviel kostet wie früher zehn.

Früher war eben alles besser.

Wenn man sich mit Leuten unterhält, die in der DDR aufwuchsen, hört man zwar nicht, dass alles besser war - dafür war zu vieles zu schlecht. Aber viele vermissen das Gefühl der Geborgenheit von damals; die Geselligkeit, die Nestwärme, die man damals erleben konnte. Der Staat hatte zwar im Vergleich zum Westen nicht sehr viel zu bieten, aber mit dem, was er hatte, wurden alle versorgt; niemand fiel durch die Maschen des sozialen Netzes. Alle hatten eine Arbeit - und auf der Arbeit Zeit, um sich nach Waren anzustellen. Es war nicht alles, aber vieles besser, damals. Und wenn man nicht zu viel nachdachte, nicht zu kritisch war und sich die Bevormundung durch den Staat gefallen ließ, konnte man ganz gemütlich leben.

I
Dass es früher besser war, davon erzählt auch der Predigttext aus der Apostelgeschichte. Er berichtet von den Anfängen der christlichen Gemeinde. Damals herrschte offenbar eine Art christlicher Sozialismus: Alle besaßen alles gemeinsam und teilten es. Litt jemand Not, wurde ein Stück Land oder ein Kerzenleuchter verkauft, und mit dem Erlös konnte schnell und unbürokratisch geholfen werden. Das ist die „Gemeinschaft“, von der im Predigttext die Rede ist: „Sie blieben bei der Lehre der Apostel und der Gemeinschaft“. Diese Gemeinschaft war nicht das, was wir heute darunter verstehen: Eine Gruppe Gleichgesinnter, die sich mag und gut versteht. Gemeinschaft bedeutete damals so viel wie „Verantwortungsgefühl“: Man interessierte sich füreinander und kümmerte sich umeinander. Und wenn jemand etwas brauchte, dann half man. Die Besitzenden fühlten sich durch ihren Wohlstand besonders zur Solidarität aufgefordert. Wir kennen das nicht mehr. Bei uns gilt, dass Eigentum zu nichts verpflichtet. Bei den ersten Christen galt noch, dass Eigentum eine Pflicht gegenüber denen begründet, die nichts haben. Es wäre nicht schlecht, wenn wir den Begriff der „Gemeinschaft“ von seinem Kreisen um sich selbst befreien und wieder so verstehen würden, wie es die ersten Christen taten.

II
Was für ein schönes Bild zeichnet die Apostelgeschichte da:
Eine Gemeinde, die alles teilt; die gemeinsam isst; die nicht zerstritten, sondern einmütig ist. Schon als Jugendlicher faszinierte mich diese Bibelstelle - vor allem, weil ich Gemeinde oft so anders erlebte und erlebe: Da herrschen Uneinigkeit und Streit; da gibt es Intrigen und Machtspiele; da wird nicht geteilt, sondern jeder sorgt nur für sich selbst. Es gibt wenig Gemeinsamkeit: Alte und Junge, Kinder und Erwachsene bleiben für sich. Die Gruppen sind sich selbst genug und haben kein Interesse, über ihren Tellerrand zu schauen. Alteingesessene sehen auf Neue herab. Und wer zu denen gehört, die etwas zu sagen haben in der Gemeinde, lässt keinen anderen dazukommen.

Könnte Gemeinde nicht so sein, wie die Apostelgeschichte sie beschreibt? So einig, so fürsorglich, so selbstvergessen, so gläubig, so vorbildlich?

Auch im Sozialismus gab es dieses Auseinanderfallen von Ideal und Wirklichkeit. Die Idee klingt ja nicht schlecht: Gemeinsamer Besitz an den Produktionsmitteln; keine Klassenunterschiede; ein Staat, der für seine Bevölkerung sorgt und allen die gleichen Chancen gibt. Aber die Wirklichkeit stellte sich ganz anders dar. Marx und Engels machten ihre sozialistische Rechnung ohne den Menschen, der nun einmal ist, wie er ist. Und als man den Menschen so erziehen und formen wollte, dass er zum Sozialismus passt, da wurde der Sozialismus in der Gestalt des Stalinismus zu einem verbrecherischen Regime, das unsägliches Leid über die Menschen brachte und unzählige Opfer forderte.

III
In unserer menschlich-allzu menschlichen Wirklichkeit funktioniert der Sozialismus nicht.
Aber auch die wunderbar einmütige Gemeinde, die Lukas in der Apostelgeschichte beschreibt, hat es so nie gegeben.
Wer die Paulusbriefe liest, erfährt, dass es in der Gemeinde von Anfang an Meinungsverschiedenheiten gab, Intrigen, Streit und Zank. Sogar zu Lebzeiten Jesu kriegten die Jünger sich in die Haare - z.B. darüber, wer von ihnen der Größte sei.

Die Gemeinde, die Lukas beschreibt, ist eine Utopie. Utopie, das heißt: Nicht-Ort. Für einen Nicht-Ort gibt es keinen Platz in dieser Welt, weil mindestens eine seiner Voraussetzungen nicht zu verwirklichen sind. 
Meistens scheitern die Utopien am Menschenbild, das sie voraussetzen. Statt mit den real existierenden rechnen sie mit einem idealen Menschen, den es nicht gibt und der sich weder mit Geld noch mit Gewalt beschaffen lässt.
Wenn die Menschen doch besser wären!
Uneigennützig, barmherzig, menschlich - mit solchen Menschen ließe sich sogar der Sozialismus verwirklichen. Aber so ist der Mensch leider nicht. 
So sind nicht nur die anderen nicht, so sind auch wir nicht.

IV
Das muss aber nicht heißen, dass eine Utopie sinnlos ist. Man braucht schließlich ein Ziel, auf das man hinarbeiten kann; man braucht Ideale, die einem die Richtung anzeigen, in der die Zukunft liegt.

Jede und jeder, die zum Gottesdienst kommt oder sich in der Gemeinde engagiert, bringt solche Ideale mit. Da war eine Diakonin oder Pfarrerin, die man ganz toll fand; da gab es eine Gruppe, in der man sich geborgen fühlte. Man erlebte eine großartige Rüstzeit, die einen tief beeindruckte und prägte; man lernte eine Gemeinschaft kennen, die etwas von dem erkennen ließ, was die Apostelgeschichte beschreibt. Es sind solche besonderen Erfahrungen, durch die Menschen in die Kirche kommen und sich dort engagieren - man hofft, diese Erfahrungen wieder zu machen.

Meistens wird man enttäuscht: So schön, wie es früher einmal war, ist es nicht mehr (wir erinnern uns: Früher war alles besser!). Die einen wenden sich enttäuscht ab und verlassen die Kirche. Die anderen engagieren sich und versuchen, das wieder zu erschaffen, was sie einst an Kirche so faszinierte.

V
Es gibt noch einen dritten Weg, mit den Idealen von Kirche umzugehen, und der hat viel mit der Erfahrung des real existierenden Sozialismus zu tun:
So, wie man sich damals auf Vater Staat verließ, der für einen sorgte und irgendwie versorgte, so verlässt man sich in der Gemeinde auf die Pfarrerin oder den Pfarrer, der es einem so schön und gemütlich machen soll, wie man es früher mal erlebt hatte. Wenn kein Pfarrer da ist, nimmt man eine Kirchenälteste und lädt ihr auf, die Gemeinde so zu gestalten, dass man sich wohlfühlt und gerne kommt.

Der real existierende Sozialismus, wir erinnern uns, ist daran gescheitert, dass Vater Staat seine Kinder zu sehr bevormundete. Die Versorgung mit allem zum Leben Notwendigen und das engmaschige soziale Netz ließ man sich gern gefallen. Aber der Preis, den man dafür zahlte - die Denk- und Redeverbote; die Einschränkung von Reise-, Presse- und Versammlungsfreiheit; die ständige Überwachung und Bespitzelung - dieser Preis war einer immer größer werdenden Zahl von Menschen denn doch zu hoch. Sie wollten nicht länger wie unmündige Kinder, sie wollten als mündige Staatsbürger behandelt werden, wollten selbst entscheiden, was sie denken und glauben wollten.

Mit der Kirche ist es nicht anders.

Eine Gemeinde, die sich kindlich verhält, die von Pfarrer und GKR versorgt, bespielt und bespaßt werden will, wird früher oder später untergehen, weil diese Versorgung ebenso wenig aufrecht zu erhalten ist wie damals in der DDR.

Wenn Gemeinde eine Zukunft haben soll, dann müssen wir erkennen, dass wir alle „Kirche“ sind, dass diese Kirche unser aller Haus ist, das nicht dem Pfarrer gehört oder dem GKR, sondern uns allen gemeinsam. 
Deshalb sind wir alle gemeinsam dafür verantwortlich - dafür, dass es erhalten bleibt, dafür, wie es hier aussieht, und auch dafür, wie leer oder wie voll es hier ist.
Wir sind keine Kinder mehr.
Wir sind auch im Glauben Erwachsene.
Fangen wir an, uns auch so zu verhalten!

VI
Das Bild, das die Apostelgeschichte zeichnet, ist eine Utopie.
Eine Gemeinde wie die, die Lukas beschreibt, hat es nie gegeben, und es wird sie nie geben - weil wir Menschen nun einmal so sind, wie wir sind.

Auch wenn diese Utopie niemals wirklich wird: Als Ziel und als Wegweiser taugt sie allemal.
Wenn wir eine solche Gemeinde sein wollen, wie Lukas sie beschreibt, dann können wir es. Wir können uns gemeinsam auf den Weg dahin machen, gemeinsam versuchen, etwas von dieser Utopie zu verwirklichen. Es wird uns nicht gelingen, aber darum kann man es trotzdem probieren.
Lassen wir uns inspirieren von dem Bild, das Lukas zeichnet.
Machen wir uns gemeinsam auf den Weg, indem wir aufhören, Kirche wie früher sein zu wollen, als alles angeblich viel besser war. 
Hören wir auf, unsere alten Ideale von Gemeinde auf unsere jetzige Gemeinde übertragen zu wollen und schauen wir statt dessen, was für eine Gemeinde wir eigentlich sind. 
Fragen wir danach, was für eine Gemeinde wir sein wollen, und was unsere Gemeinde in die Zukunft führt.
Die Utopie der Apostelgeschichte kann uns dabei helfen.

Amen.