Sonntag, 4. September 2016

Glaubensgymnastik

für Sylvia Giuliani


Predigt am 15. Sonntag nach Trinitatis, 4. September 2016, über 1.Petr. 5,5c-11:

5 „Gott widersetzt sich den Starken,
aber den Demütigen gibt er Gnade" (Sprüche 3,34).

6 Beugt euch also unter die starke Hand Gottes,
damit er euch zu gegebener Zeit erhöht,
7 indem ihr alle eure Sorge auf ihn legt, denn er kümmert sich um euch.
8 Seid besonnen, seid wachsam. Euer Feind, der Widersacher,
geht umher „wie ein brüllender Löwe“ und sucht, wen er verschlingen kann.
9 Ihm widersteht fest im Glauben, weil ihr wisst, dass sich die selben Leiden an euren Glaubensgeschwistern in der Welt vollziehen.
10 Aber der Gott aller Gnade, der euch zu seiner ewigen Herrlichkeit in Christus Jesus berufen hat, nachdem ihr ein wenig gelitten habt, wird euch zurechthelfen, stark machen, Kraft verleihen und fest gründen.
11 Ihm sei die Macht in Ewigkeit. Amen.

(Eigene Übersetzung, vgl. http://offene-bibel.de/wiki/1_Petrus_5)


Liebe Schwestern und Brüder,

wie halten Sie’s mit der Morgengymnastik?

Ich muss gestehen: Ich bin morgens zu faul dazu. Aber eine gute Freundin macht jeden Morgen direkt nach dem Aufstehen 20 Liegestütze und 100 Sit-ups. Dadurch würde sie so richtig fit für den Tag, sagt sie.

Die meisten werden keine so schweißtreibenden Aktivitäten anwenden, um wach und für den Tag bereit zu werden. Man vertraut da lieber auf die muntermachende Wirkung einer Tasse starken Kaffees. Am schönsten erwacht es sich, wenn man diesen Kaffee vom Liebsten oder von der Liebsten direkt ans Bett serviert bekommt …

I
Während man mit Hilfe von Gymnastik oder Kaffee die Arme des Schlafes abschüttelt, der einen noch einmal ins kuschlig-warme Bett zurückziehen will, ist etwas anderes schon längst wach und wartet wie ein Hund mit wedelndem Schweif darauf, Gassi geführt zu werden: Die Sorgen.
Sorgen begleiten ins Bett, suchen mitten in der Nacht heim, rauben den Schlaf und erwarten einen am nächsten Morgen wie ein treuer Hund, den man wie einen alten Freund begrüßt: „Guten Morgen, liebe Sorgen, seid ihr auch schon alle da? Habt ihr auch so gut geschlafen? Na, dann ist ja alles klar!“

Wie verheißungsvoll klingt da der Wochenspruch aus dem heutigen Predigttext: „Alle eure Sorge werft auf ihn, denn er sorgt für euch“! - Na, dann ist ja alles klar! Ade, ihr Sorgen, macht’s gut und lasst euch bei mir nicht mehr blicken!
Schön wär’s, wenn man seine Sorgen so einfach los würde.
Aber leider funktioniert es so nicht.
Es genügt nicht, die Aufforderung zu hören: „Alle eure Sorgen werft auf ihn …“, um seine Sorgen los zu werden. Es funktioniert genauso wenig wie der Trost: „Du brauchst doch keine Angst zu haben“, wenn man Angst hat.
Dass man keine Angst zu haben braucht, weiß man selbst - aber man hat sie ja trotzdem, und gerade das macht einen so hilflos. Wissen allein genügt nicht, die Angst zu vertreiben. Es muss etwas mit einem geschehen, das die Angst tatsächlich vertreibt, es muss in einem selbst stattfinden und man muss selbst darauf kommen. Wer z.B. seine Höhenangst überwinden will, übt mit einer Therapeutin so lange, bis irgendwann der Knoten geplatzt und die Angst überwunden ist; das ist richtig anstrengende und schwere Arbeit.

II
So ist es auch mit dem Ablegen der Sorgen.
Das Wissen, dass man Gott seine Sorgen anvertrauen kann und er sie für einen trägt, bringt die Sorgen nicht zum Verschwinden. Auch hier muss sich etwas in einem selbst verändern. Und es steht zu befürchten, dass diese Veränderung auch nur mit großer Arbeit und Anstrengung erzielt werden kann.
Anders als viele gutmeinende Ratgeber, die einem sagen, man brauche sich nicht zu sorgen, speist uns der Predigttext nicht mit einem bloßen Spruch ab. Er gibt Hilfestellung, wie es gehen könnte, die Sorgen auf Gott zu legen. Der Rat, den er gibt, hat viel mit Morgengymnastik zu tun, zu der man so wenig Lust verspürt. Er lautet: „Beugt euch!“.

Ach, das Beugen ist keine schöne Übung!
Je älter und steifer man wird, desto schwerer fällt es, sich zu beugen.
Vor allem fällt die Übung schwer, weil sie bedeutet, sich klein zu machen - kleiner, als man ist.
Eine Verbeugung ist eine Geste der Unterwerfung, der Unterordnung. Wer sich vor einem anderen verbeugt, bringt damit zum Ausdruck, dass der andere einen höheren Rang hat, den man anerkennt; dass er über einem steht.
Es ist keine Frage, dass man sich vor der Bundeskanzlerin oder dem Bundespräsiden-ten verbeugt, vor der britischen Queen oder dem Papst. Eine solche Verbeugung würde kaum jemandem schwer fallen - im Gegenteil, man fühlte sich geehrt und würde das Foto dieser Begegnung (bei solchen Anlässen werden immer Fotos gemacht) wahrscheinlich sogar an einem Ehrenplatz aufhängen.

III
Es fällt nicht schwer, sich einer berühmten, wichtigen, mächtigen Persönlichkeit zu beugen. Da sollte es doch auch kein Problem darstellen, sich unter die starke Hand Gottes zu beugen - denn wer sollte mächtiger, wichtiger, berühmter sein als Gott? - Nun, Donald Trump würde da vielleicht Einwände erheben, aber ihn wollen wir jetzt mal beiseite lassen.

Doch es gibt tatsächlich ein Problem: Von der starken Hand Gottes ist weder etwas zu sehen noch zu spüren.
Zwar behauptet die Bibel, Gott habe mit starker Hand sein Volk aus Ägypten geführt, habe die Welt erschaffen und unzählige Male in die Geschichte Israels eingegriffen. Gott habe Jesus von den Toten auferweckt und Petrus aus dem Gefängnis befreit. Aber seitdem war und ist von Gottes starker Hand nichts mehr zu spüren.
Darum suchen sie uns ja heim, die Sorgen, bei Tag und bei Nacht, wie lästiges Geziefer, weil sie genau wissen: Niemand ist da, der sie vertreiben könnte.

Wenn also Gottes starke Hand nicht zu spüren ist: Worunter soll man sich denn dann beugen, um seine Sorgen los zu werden?

Das Schlimme an der morgendlichen Gymnastik sind nicht die Anstrengung und der Schweiß, die sie kostet. Das Schlimme ist die Überwindung, das wohlig-warme Bett zugunsten des harten, kalten Fußbodens aufzugeben, und wofür? Sind Gelenkigkeit und Fitness, die einem die Gymnastik schenkt, wirklich diese Mühe wert? Da dreht man sich doch lieber noch einmal im Bett um und wartet auf den Kaffee …

Sich unter Gottes Hand zu beugen ist auch so eine beschwerliche Übung, die keinen offensichtlichen Nutzen hat - denn welchen Sinn hat es, sich unter eine Hand zu beugen, die man nicht sehen kann?

IV
Damit der Glaube tragen und einem die Sorgen nehmen kann, muss man ihn üben. Zwar ist die Taufe alles, was zum Glauben nötig ist. Die Taufe allein genügt, damit unser Leben gelingt, damit wir sorglos, fröhlich und glücklich als Kinder Gottes leben können. Mehr braucht es nicht. Aber damit uns diese Tatsache trösten und sorgenfrei machen kann, muss man üben, üben, üben, sich darauf zu verlassen.

Noch einmal: Der Glaube, den Gott uns schenkt, genügt, damit unser Leben gelingt und damit wir gut durchs Leben kommen; es braucht dazu keinerlei Zutun von unserer Seite, wir müssen dazu auch nicht einen Finger krumm machen. Aber damit wir selbst es wissen und glauben können, müssen wir den Glauben üben, üben, üben, wie man seine tägliche Morgengymnastik macht.
Und diese Glaubensübung besteht darin, sich auf eine Hand zu verlassen, die man nicht sieht und die, so scheint es, auch nicht da ist.
Es ist, wie mit verbundenen Augen an den Rand einer tiefen Schlucht geführt und aufgefordert zu werden, jetzt einfach weiter geradeaus zu gehen, da sei ein Steg, schmal zwar und ohne Geländer, aber man käme darauf sicher auf die andere Seite.

Vielleicht finden Sie dieses Beispiel übertrieben und unrealistisch - wann kommt man jemals in die Verlegenheit, eine Schlucht mit verbundenen Augen auf einem Steg überqueren zu müssen?
Aber Sie können sich anhand dieses Beispiels vielleicht vorstellen, welches Vertrauen zu einer solchen Überquerung nötig ist, und wie schwer es ist, den Mut zu einem solchen Vertrauen aufzubringen.
Solches Vertrauen ist nötig, wenn man sich auf die Hand Gottes verlassen will, die doch weder zu sehen noch zu spüren ist. Dass dieses Vertrauen nicht von heute auf morgen da ist, sondern langsam wachsen und mühsam erarbeitet werden muss, dürfte auf besagter Hand liegen.

V
Sollte es wirklich nur darum gehen: Sich unter diese eine unsichtbare Hand zu beugen? Ist das nicht etwas mager - und nicht auch ein wenig lächerlich?
Es macht uns jedenfalls nichts aus, uns unter die unsichtbare Hand des Marktes zu beugen, die unserem angeblich alternativlosen Wirtschaftssystem so gut tun soll.

Wie Sie sich vielleicht schon gedacht haben, geht es bei dem Beugen unter die unsichtbare Hand Gottes nicht um Gymnastik, sondern um eine Haltung (die allerdings durch Gymnastik verbessert werden kann). Der Predigttext bezeichnet diese Haltung mit dem Wort Demut.

Demütig zu sein heißt nicht, mit gesenktem Haupt, hochgezogenen Schultern und gebeugtem Rücken durchs Leben zu schleichen. Demut ist keine Körper-, sondern eine Geisteshaltung:
- wer demütig ist, erkannt an, dass er einen über sich hat, dem er sich und alles verdankt;
- wer demütig ist, wendet die eigenen Fähigkeiten stets im Bewusstsein dessen an, dem sie sich verdanken - so, wie man in einer Doktorarbeit angibt, woher man das Wissen bezog, das man darin ausbreitet;
- wer demütig ist, dem fällt es nicht schwer, sich anderen zu beugen - nicht, weil er kein Rückrat besäße, sondern weil er andere nicht für geringer hält als sich selbst, und sich selbst nicht für schlechter als andere.

Wer seine Sorgen los werden will, unterziehe sich dieser Glaubensgymnastik, übe Demut und Vertrauen. Das ist anstrengend. Es erfordert Ausdauer und Geduld. Oft fragt man sich, wazu man sich das antut, was es bringt, da man doch keine Wirkung spürt. Aber am Ende winkt als Belohnung das Ende aller Sorgen, ein Leben in der Freiheit der Kinder Gottes. Das ist doch wohl den Schweiß der Edlen wert!


Amen.