für Sylvia Giuliani
Predigt
am 15. Sonntag nach Trinitatis, 4. September 2016, über 1.Petr. 5,5c-11:
5 „Gott
widersetzt sich den Starken,
aber
den Demütigen gibt er Gnade" (Sprüche 3,34).
6 Beugt
euch also unter die starke Hand Gottes,
damit
er euch zu gegebener Zeit erhöht,
7 indem
ihr alle eure Sorge auf ihn legt, denn er kümmert sich um euch.
8 Seid
besonnen, seid wachsam. Euer Feind, der Widersacher,
geht
umher „wie ein brüllender Löwe“ und sucht, wen er verschlingen
kann.
9 Ihm
widersteht fest im Glauben, weil ihr wisst, dass sich die selben
Leiden an euren Glaubensgeschwistern in der Welt vollziehen.
10 Aber
der Gott aller Gnade, der euch zu seiner ewigen Herrlichkeit in
Christus Jesus berufen hat, nachdem ihr ein wenig gelitten habt,
wird euch zurechthelfen, stark machen, Kraft verleihen und fest
gründen.
11 Ihm
sei die Macht in Ewigkeit. Amen.
Liebe
Schwestern und Brüder,
wie
halten Sie’s mit der Morgengymnastik?
Ich
muss gestehen: Ich bin morgens zu faul dazu. Aber eine gute Freundin
macht jeden Morgen direkt nach dem Aufstehen 20 Liegestütze und 100
Sit-ups. Dadurch würde sie so richtig fit für den Tag, sagt sie.
Die
meisten werden keine so schweißtreibenden Aktivitäten anwenden, um
wach und für den Tag bereit zu werden. Man vertraut da lieber auf
die muntermachende Wirkung einer Tasse starken Kaffees. Am schönsten
erwacht es sich, wenn man diesen Kaffee vom Liebsten oder von der
Liebsten direkt ans Bett serviert bekommt …
I
Während
man mit Hilfe von Gymnastik oder Kaffee die Arme des Schlafes
abschüttelt, der einen noch einmal ins kuschlig-warme Bett
zurückziehen will, ist etwas anderes schon längst wach und wartet
wie ein Hund mit wedelndem Schweif darauf, Gassi geführt zu werden:
Die Sorgen.
Sorgen
begleiten ins Bett, suchen mitten in der Nacht heim, rauben den
Schlaf und erwarten einen am nächsten Morgen wie ein treuer Hund,
den man wie einen alten Freund begrüßt: „Guten Morgen, liebe Sorgen, seid ihr auch schon alle da? Habt ihr auch so gut geschlafen? Na, dann ist ja alles klar!“
Wie
verheißungsvoll klingt da der Wochenspruch aus dem heutigen
Predigttext: „Alle eure Sorge werft auf ihn, denn er sorgt für
euch“! - Na, dann ist ja alles klar! Ade, ihr Sorgen, macht’s
gut und lasst euch bei mir nicht mehr blicken!
Schön
wär’s, wenn man seine Sorgen so einfach los würde.
Aber
leider funktioniert es so nicht.
Es
genügt nicht, die Aufforderung zu hören: „Alle eure Sorgen
werft auf ihn …“, um seine Sorgen los zu werden. Es
funktioniert genauso wenig wie der Trost: „Du brauchst doch keine
Angst zu haben“, wenn man Angst hat.
Dass
man keine Angst zu haben braucht, weiß man selbst - aber man
hat sie ja trotzdem, und gerade das macht einen so hilflos. Wissen
allein genügt nicht, die Angst zu vertreiben. Es muss etwas mit
einem geschehen, das die Angst tatsächlich vertreibt, es muss in
einem selbst stattfinden und man muss selbst darauf kommen. Wer z.B.
seine Höhenangst überwinden will, übt mit einer Therapeutin so
lange, bis irgendwann der Knoten geplatzt und die Angst überwunden
ist; das ist richtig anstrengende und schwere Arbeit.
II
So
ist es auch mit dem Ablegen der Sorgen.
Das
Wissen, dass man Gott seine Sorgen anvertrauen kann und er sie
für einen trägt, bringt die Sorgen nicht zum Verschwinden. Auch
hier muss sich etwas in einem selbst verändern. Und es steht zu
befürchten, dass diese Veränderung auch nur mit großer Arbeit und
Anstrengung erzielt werden kann.
Anders
als viele gutmeinende Ratgeber, die einem sagen, man brauche sich
nicht zu sorgen, speist uns der Predigttext nicht mit einem bloßen
Spruch ab. Er gibt Hilfestellung, wie es gehen könnte, die Sorgen
auf Gott zu legen. Der Rat, den er gibt, hat viel mit Morgengymnastik
zu tun, zu der man so wenig Lust verspürt. Er lautet: „Beugt
euch!“.
Ach,
das Beugen ist keine schöne Übung!
Je
älter und steifer man wird, desto schwerer fällt es, sich zu
beugen.
Vor
allem fällt die Übung schwer, weil sie bedeutet, sich klein zu
machen - kleiner, als man ist.
Eine
Verbeugung ist eine Geste der Unterwerfung, der Unterordnung. Wer
sich vor einem anderen verbeugt, bringt damit zum Ausdruck, dass der
andere einen höheren Rang hat, den man anerkennt; dass er über
einem steht.
Es
ist keine Frage, dass man sich vor der Bundeskanzlerin oder dem
Bundespräsiden-ten verbeugt, vor der britischen Queen oder dem
Papst. Eine solche Verbeugung würde kaum jemandem schwer fallen - im
Gegenteil, man fühlte sich geehrt und würde das Foto dieser
Begegnung (bei solchen Anlässen werden immer Fotos gemacht)
wahrscheinlich sogar an einem Ehrenplatz aufhängen.
III
Es
fällt nicht schwer, sich einer berühmten, wichtigen, mächtigen
Persönlichkeit zu beugen. Da sollte es doch auch kein Problem
darstellen, sich unter die starke Hand Gottes zu beugen - denn wer
sollte mächtiger, wichtiger, berühmter sein als Gott? - Nun, Donald
Trump würde da vielleicht Einwände erheben, aber ihn wollen wir
jetzt mal beiseite lassen.
Doch
es gibt tatsächlich ein Problem: Von der starken Hand Gottes ist
weder etwas zu sehen noch zu spüren.
Zwar
behauptet die Bibel, Gott habe mit starker Hand sein Volk aus Ägypten
geführt, habe die Welt erschaffen und unzählige Male in die
Geschichte Israels eingegriffen. Gott habe Jesus von den Toten
auferweckt und Petrus aus dem Gefängnis befreit. Aber seitdem war
und ist von Gottes starker Hand nichts mehr zu spüren.
Darum
suchen sie uns ja heim, die Sorgen, bei Tag und bei Nacht, wie
lästiges Geziefer, weil sie genau wissen: Niemand ist da, der sie
vertreiben könnte.
Wenn
also Gottes starke Hand nicht zu spüren ist: Worunter soll man sich
denn dann beugen, um seine Sorgen los zu werden?
Das
Schlimme an der morgendlichen Gymnastik sind nicht die Anstrengung
und der Schweiß, die sie kostet. Das Schlimme ist die Überwindung,
das wohlig-warme Bett zugunsten des harten, kalten Fußbodens
aufzugeben, und wofür? Sind Gelenkigkeit und Fitness, die einem die
Gymnastik schenkt, wirklich diese Mühe wert? Da dreht man sich doch
lieber noch einmal im Bett um und wartet auf den Kaffee …
Sich
unter Gottes Hand zu beugen ist auch so eine beschwerliche Übung,
die keinen offensichtlichen Nutzen hat - denn welchen Sinn hat es,
sich unter eine Hand zu beugen, die man nicht sehen kann?
IV
Damit
der Glaube tragen und einem die Sorgen nehmen kann, muss man ihn
üben. Zwar ist die Taufe alles, was zum Glauben nötig ist. Die
Taufe allein genügt, damit unser Leben gelingt, damit wir sorglos,
fröhlich und glücklich als Kinder Gottes leben können. Mehr
braucht es nicht. Aber damit uns diese Tatsache trösten und
sorgenfrei machen kann, muss man üben, üben, üben, sich darauf zu
verlassen.
Noch
einmal: Der Glaube, den Gott uns schenkt, genügt, damit unser Leben
gelingt und damit wir gut durchs Leben kommen; es braucht dazu
keinerlei Zutun von unserer Seite, wir müssen dazu auch nicht einen
Finger krumm machen. Aber damit wir selbst es wissen und glauben
können, müssen wir den Glauben üben, üben, üben, wie man seine
tägliche Morgengymnastik macht.
Und
diese Glaubensübung besteht darin, sich auf eine Hand zu verlassen,
die man nicht sieht und die, so scheint es, auch nicht da ist.
Es
ist, wie mit verbundenen Augen an den Rand einer tiefen Schlucht
geführt und aufgefordert zu werden, jetzt einfach weiter geradeaus
zu gehen, da sei ein Steg, schmal zwar und ohne Geländer, aber man
käme darauf sicher auf die andere Seite.
Vielleicht
finden Sie dieses Beispiel übertrieben und unrealistisch - wann
kommt man jemals in die Verlegenheit, eine Schlucht mit verbundenen
Augen auf einem Steg überqueren zu müssen?
Aber
Sie können sich anhand dieses Beispiels vielleicht vorstellen,
welches Vertrauen zu einer solchen Überquerung nötig ist, und wie
schwer es ist, den Mut zu einem solchen Vertrauen aufzubringen.
Solches
Vertrauen ist nötig, wenn man sich auf die Hand Gottes verlassen
will, die doch weder zu sehen noch zu spüren ist. Dass dieses
Vertrauen nicht von heute auf morgen da ist, sondern langsam wachsen
und mühsam erarbeitet werden muss, dürfte auf besagter Hand liegen.
V
Sollte
es wirklich nur darum gehen: Sich unter diese eine unsichtbare Hand
zu beugen? Ist das nicht etwas mager - und nicht auch ein wenig
lächerlich?
Es
macht uns jedenfalls nichts aus, uns unter die unsichtbare Hand des
Marktes zu beugen, die unserem angeblich alternativlosen
Wirtschaftssystem so gut tun soll.
Wie
Sie sich vielleicht schon gedacht haben, geht es bei dem Beugen unter
die unsichtbare Hand Gottes nicht um Gymnastik, sondern um eine
Haltung (die allerdings durch Gymnastik verbessert werden kann). Der
Predigttext bezeichnet diese Haltung mit dem Wort Demut.
Demütig
zu sein heißt nicht, mit gesenktem Haupt, hochgezogenen Schultern
und gebeugtem Rücken durchs Leben zu schleichen. Demut ist keine
Körper-, sondern eine Geisteshaltung:
-
wer demütig ist, erkannt an, dass er einen über sich hat, dem er
sich und alles verdankt;
-
wer demütig ist, wendet die eigenen Fähigkeiten stets im
Bewusstsein dessen an, dem sie sich verdanken - so, wie man in einer
Doktorarbeit angibt, woher man das Wissen bezog, das man darin
ausbreitet;
-
wer demütig ist, dem fällt es nicht schwer, sich anderen zu beugen
- nicht, weil er kein Rückrat besäße, sondern weil er andere nicht
für geringer hält als sich selbst, und sich selbst nicht für
schlechter als andere.
Wer
seine Sorgen los werden will, unterziehe sich dieser
Glaubensgymnastik, übe Demut und Vertrauen. Das ist anstrengend. Es
erfordert Ausdauer und Geduld. Oft fragt man sich, wazu man sich das
antut, was es bringt, da man doch keine Wirkung spürt. Aber am Ende
winkt als Belohnung das Ende aller Sorgen, ein Leben in der Freiheit
der Kinder Gottes. Das ist doch wohl den Schweiß der Edlen wert!
Amen.