Donnerstag, 29. Dezember 2016

Stille bleiben

Predigt am Altjahrsabend, 31.12.2016, über Jesaja 30,15-17:

Liebe Schwestern und Brüder,

wenn ein Gipfel zum ersten Mal bezwungen ist, wird ein Fahnenmast eingerammt und eine Fahne gehisst. So war es bei der Erstbesteigung des Mount Everest, aber auch, als der erste Mensch seinen Fuß auf den Mond setzte. Das Hissen einer Fahne markiert das Erreichen des Gipfels.
Heute haben wir den Gipfel des Jahres 2016 erreicht. Weiter geht es nicht mehr, wir sind ganz oben angelangt und haben nur noch ein paar Stunden, um das Panorama zu genießen und auf den Weg zurückzublicken, den wir im vergangenen Jahr gegangen sind. Dann müssen wir schon wieder aufbrechen, ins nächste Jahr, hinauf auf den nächsten, großen Berg. Den 2016er haben wir bezwungen; jetzt wartet der 2017er … 
Auch seinen Gipfel werden wir, so Gott will und wir leben, im Laufe der nächsten 365 Tage erklimmen. Aber das ist ein anderer, ein neuer Berg. Noch stehen wir auf dem Berg dieses Jahres und blicken ehrfurchtsvoll zurück auf den langen Aufstieg. Zuweilen war er steil, steinig, knifflig; meistens aber ging es sich ganz leicht auf gut gebauten Wegen. An Proviant hat es wohl nie gemangelt, eher an der Ausdauer. Es gab vielleicht einen Unfall, die eine oder andere Gefahrenstelle. Aber da konnten wir uns auf unsere Partner, auf unsere Seilschaft verlassen. Das war vielleicht das schönste am Aufstieg: Dass wir den Weg nicht allein gehen mussten - auch wenn wir auf dem zurückliegenden Weg vielleicht eine Kameradin oder einen Kameraden vieler Gipfeltouren verloren haben ... 
Nun stehen wir oben, auf dem Gipfel der 365 Tage, und blicken zurück. Hinten verschwimmt schon alles im blauen Dunst der Ferne, und manches Wegstück, mancher schöne Ausblick ist bereits von einer Wegbiegung verdeckt. Wenn wir in unseren Rucksack schauen: Viel haben wir von dieser Etappe nicht mitgenommen. Die eine oder andere schöne Aussicht. Den einen oder anderen Gipfel, den wir unterwegs erreicht haben. Etwas Schönes, das wir am Weg fanden und auflasen. Doch der Großteil der 365 Tage rann uns durch die Hände. War Weg, den wir abgeschritten sind und der nun bereits vergessen hinter uns liegt.
Was bleibt uns? Was nehmen wir mit auf unserer weiteren Wanderung? Und was ist Ballast, den wir hier, auf dem Gipfel, zurücklassen, damit er uns beim nächsten Anstieg nicht belastet?

Dazu rammen wir jetzt einen Fahnenmast ein. Nicht nur, um den Gipfel zu markieren. Sondern auch um festzuhalten, was uns sonst durch die Finger rinnen würde. 
Von einem Fahnenmast auf dem Berg spricht auch der Predigttext für den Altjahrsabend aus dem Buch des Propheten Jesaja im 30. Kapitel, aber er schlägt einen ganz anderen Ton an. 
Bei ihm heißt es:
„So spricht Gott der Herr, der Heilige Israels: Wenn ihr umkehrtet und stille bliebet, so würde euch geholfen; durch Stillsein und Hoffen würdet ihr stark sein. Aber ihr wollt nicht und sprecht: ‘Nein, sondern auf Rossen wollen wir dahinfliehen’, - darum werdet ihr dahinfliehen, ‘und auf Rennern wollen wir reiten’, - darum werden euch eure Verfolger überrennen. Denn eurer tausend werden fliehen vor eines einzigen Drohen; ja vor fünfen werdet ihr alle fliehen, bis ihr übrigbleibt wie ein Mast oben auf dem Berge und wie ein Banner auf dem Hügel.”
„Bis ihr übrigbleibt wie ein Mast oben auf dem Berge
und wie ein Banner auf dem Hügel“.
Der Mast markiert den Haltepunkt.
Ums Banner sammeln sich die, die übrig geblieben sind, und formieren sich neu.
Aber was für ein Banner ist das? Wessen Wappen ziert es, und wofür steht es?
Was war unser Ziel, als wir durchs Jahr 2016 geeilt sind, abgesehen davon, heute auf seinem Gipfel zu stehen und auf den 365 Tage-Marsch zurückzublicken? Wofür haben wir die Strapazen des Aufstiegs oder des Ritts, wie Jesaja sagt, auf uns genommen, was wollten wir erreichen? Oder hat es nicht vielmehr uns geritten (und: was hat uns da im vergangenen Jahr geritten?), sind wir wie blind unseren Weg entlanggestolpert, weil er nun einmal vor uns lag, weil es eben immer weiter gehen muss, immer bergauf, von einem Berg zum nächsten …?

Edmund Hillary, zusammen mit Tensing Norgay Erstbesteiger des Mount Everest, hat auf die Frage, warum er auf Berge steige, geantwortet: „Weil sie da sind.“
Übertragen auf das Jahr 2016 könnte man demnach sagen, wir haben den Weg durch dieses Jahr genommen, weil es nun mal da war. Was wäre uns auch sonst übrig geblieben? Es gibt keine Alternative zum Weitergehen, denn Stillstand würde bedeuten, dass wir nicht mehr leben. Aber es macht doch einen Unterschied, ob „es“ geht, ob „es“ uns treibt, oder ob wir um unser Ziel wissen und uns darüber klar sind, wohin „es“ gehen soll. Und da macht Jesaja einen interessanten Vorschlag: Umkehren und stille bleiben.

Umkehren und stille bleiben - wie soll das gehen, wenn man die Zeit nicht zurückdrehen kann, wenn Stillstand auf dem Lebensweg den Tod bedeuten würde?
Zu jeder Wanderung gehört die Rast. Und auf jedem Weg in den Bergen findet sich eine Kapelle, oder ein Kreuz, an dem man kurz innehält und ein Vaterunser betet. Beten, das ist die Rast auf dem Weg, das Umkehren und stille bleiben.
Wenn wir ans Beten denken, dann an die Gebete, die wir seit Kindertagen kennen, wie das Vaterunser. Und an die Bitten, die wir, meist in den traurigen, angstvollen oder gefährdeten Momenten unseres Lebens geäußert haben: Die Stoßgebete und Fürbitten. Je häufiger man das Beten übt - ganz gleich, mit welcher Art Gebet -, desto deutlicher geht es einem auf, dass es beim Beten nicht um das Äußern und Erfüllen von Wünschen geht. Gott ist nicht das Sams, das mit seinen blauen Wunschpunkten jeden Wunsch erfüllt, bis irgendwann kein blauer Punkt mehr da ist. Gott ist eine Macht, die aber nicht in unser Leben eingreift. Ähnlich einem Vater oder einer Mutter, die von ferne das Leben ihres erwachsen gewordenen Kindes sehen und gerne noch manchen Rat geben würden - aber dafür ist das Kind zu alt, oder es will ihn nicht mehr hören. Die manches anders machen, manche Entscheidung so nicht treffen würden. Die ihr Kind nicht verstehen - und manchmal staunen, wie gelungen, wie schön sein oder ihr ganz anderes Leben dennoch ist.

Gott begleitet unser Leben in ähnlicher Weise; wir nennen ihn ja auch unseren Vater. Und wie unsere Eltern weiß auch er, was gut und richtig für uns ist. Nur bezieht sich das nicht auf unsere Berufswahl, unsere Art, und zu kleiden oder zu leben. Gott geht es nicht um solche Äußerlichkeiten. Gott sorgt sich darum, was wir mit unserer Zeit anstellen. Welche Ziele wir verfolgen, und mit welchen Mitteln. Wie wir mit uns und anderen Menschen umgehen.
Gott will Gutes für uns, und Gott will uns glücklich sehen. Aber oft ist es mit dem Glück so, wie Bertold Brecht es in der Dreigroschenoper besingt:
„Ja, renn nur nach dem Glück,
doch renne nicht zu sehr!
Denn alle rennen nach dem Glück,
das Glück rennt hinterher.“
Vor lauter Gerenne verpassen wir das Glück, es geht uns durch die Lappen, zerrint zwischen unseren Fingern, wie die Zeit ... Glück können wir nicht kaufen, Glück können wir nicht machen - das einzusehen fällt uns immer wieder sehr schwer.
„Wenn ihr umkehrtet und stille bliebet, so würde euch geholfen; 
durch Stillsein und Hoffen würdet ihr stark sein.“
Gott will Gutes für uns, und Gott will, dass wir glücklich sind. Deshalb könnte es sich lohnen, auf seinen Rat zu hören: Innezuhalten und stille bleiben - eben: zu beten. Und beim Sprechen mit Gott zu merken, wie aus dem Sprechen ein Zuhören, aus dem Reden ein Schweigen wird. Das geht nicht beim ersten Mal. Auch nicht beim zweiten oder dritten. Das muss man üben. Auch Pause machen, Innehalten will gelernt sein.
Aber jeden Tag, auf jedem Abschnitt unseres Weges, steht ein Kreuz, das uns auf ein Vaterunser einlädt. Jedes Abendläuten, jeder Gottesdienst ist eine kleine Rast auf dem Weg, ein Innehalten und Stillesein und Schweigen …

Wenn wir das lernen, dann kann Gott uns den Weg zeigen.
Dann brauchen wir nicht mehr so zu rennen nach dem Gipfel, nach dem Glück,
dann kommt uns das Glück entgegen auf dem Weg ins Neue Jahr,
und dann wissen wir, warum wir gehen, und zu welchem Ziel.

Amen.