Samstag, 29. April 2017

Was möchtest du werden?

Predigt am Sonntag Miserikordias Domini, 30. April 2017, über Ezechiel 34,1-16

Liebe Schwestern und Brüder,

was möchtest du mal werden, wenn du groß bist?
Das werden Kinder von Erwachsenen gefragt.
Das wurden auch wir gefragt, als wir Kinder waren.
Was haben wir da geantwortet?

Oft vielleicht nur mit den Schultern gezuckt:
diese Frage war noch weit, so weit weg.

Oder gesagt, was Vati oder Mutti machten;
das wollten wir auch mal tun:
Traktorist oder Krankenschwester,
Verkäuferin oder Schlosser.

Oder wir nannten die Berufe,
von denen Kinder zu jeder Zeit träumen:
Lokführer und Astronautin,
Pilotin und Prinzessin.

Was möchtest du mal werden, wenn du groß bist?
Ich glaube, niemand von uns wollte Hirtin oder Hirt werden.
Schon zu meiner Kindheit war dieser Beruf so gut wie ausgestorben.
Mein Vater erzählte mir,
wie er als Kind noch die Kühe hüten musste;
wie er und die anderen Jungen sich, um die Zeit zu vertreiben,
aus Spitzwegerich "Kuckucksstühle" flochten
oder Flöten aus Weidenzweigen bauten,
die man schneiden musste, wenn der Saft in ihnen aufstieg,
damit die Rinde abging, die man vorsichtig mit dem Messerrücken losklopfte …
Damals gab es noch richtige Langeweile.
Denn was macht man den ganzen Tag,
wenn man den Kühen beim Fressen,
Wiederkäuen und Dösen zuschaut?
Das war vor 70 Jahren.

Heute sind Hirten selten geworden.
Man sieht ab und zu mal einen im Fernsehen,
oder fährt an einer Schafherde vorbei.
Trotzdem berühren diese alten Worte noch immer unser Herz:
„Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln“.
Wir können die Sicherheit und Geborgenheit spüren,
die diese alten Worte vermitteln,
wir wissen, was ein Hirte tut,
auch wenn wir selbst keinen mehr kennen:
Das Schwache stärken,
das Kranke heilen,
das Verwundete verbinden,
das Verirrte zurückholen
und das Verlorene suchen 
und dafür sogar die 99 anderen Schafe zurücklassen.

Hirten sind selten geworden.
Und doch wissen wir genau,
was eine Hirtin, ein Hirte tut.
Weil wir selbst Hirtinnen und Hirten waren oder sind:
Wir waren oder sind Hirtinnen und Hirten unserer Kinder.
Und wir versuchen, gute Hirten für sie zu sein:
Wir machen sie stark für das Leben
- körperlich, aber vor allem,
indem wir ihnen so viel Liebe und Bestätigung geben wie möglich.
Wir machen uns Sorgen, wenn sie krank sind.
Wir kleben ein Pflaster auf die Wunde,
wenn sie sich das Knie aufschlagen, und pusten.
Wir ertragen, dass sie manchmal Umwege gehen,
nicht genau wissen, was sie wollen.
Und wir gehen ihnen nach, wenn wir uns gestritten haben, wir suchen die Versöhnung.
Das alles - und oft noch weit mehr - tun wir für unsere Kinder.

Manche sind solche guten Hirten auch für ihre Eltern oder Großeltern, die sie pflegen;
für Geschwister, die Probleme haben
oder nach einem Schicksalsschlag nicht wieder auf die Beine kommen;
für eine beste Freundin, einen besten Freund.

Ja, wir wissen, was ein guter Hirte ist und was er tut.
Und wir bemühen uns selbst,
gute Hirtinnen und Hirten zu sein.
Manche von uns sind sogar hauptberuflich Hirtinnen oder Hirten geworden.
Als Krankenschwester oder Pfarrer,
als Ärztin oder Erzieher,
als Politikerin, Mitarbeiter der Verwaltung oder Lehrerin sollen sie tun,
was eine gute Hirtin, ein guter Hirte tun sollte:
Das Schwache stärken,
das Kranke heilen,
das Verwundete verbinden,
das Verirrte zurückholen
und das Verlorene suchen.
Aber oft tun sie es nicht.
Die Krankenschwester hat keine Zeit,
sich den Patienten zuzuwenden;
es ist zu wenig Personal da.
Der Pfarrer wohnt nicht in der Gemeinde.
Man sieht ihn kaum, trifft ihn nicht auf der Straße.
Die Ärztin hört gar nicht richtig zu,
wenn man seine Geschichte erzählen will;
draußen warten noch so viele andere Patienten.
Die Erzieherin, der Lehrer - nehmen sie mein Kind überhaupt wahr?
Wissen sie, so wie ich, was es braucht, was ihm fehlt?
Und die Politiker - wollen die überhaupt noch etwas verändern,
oder denken sie bloß an ihre Diäten und an die nächste Wahl?

Wir sind unzufrieden mit unseren Hirten.
Sie sind manchmal weit davon entfernt, gute Hirten zu sein.
Mancherorts gibt es sogar gar keine Hirten mehr:
Landärzte werden immer weniger;
bei Fachärzten muss man ein halbes Jahr warten,
wenn man überhaupt angenommen wird.
Gemeinden werden zu Landgemeinden zusammengelegt;
jetzt sollen noch größere Verwaltungseinheiten geschaffen werden.
Pfarrstellen werden gestrichen;
die Pfarrerin wohnt jetzt drei Dörfer weiter.
Im Kindergarten, den man sich wünschte,
gibt es keinen Platz mehr.

Wenn es keine Hirten mehr gibt
- wer kümmert sich dann um uns?
Und auf wen soll man dann noch schimpfen?
Wen wundert es da, wenn Menschen sich abwenden
von der Politik, von der Gemeinde,
vom Verein, von der Kirche.
Sie sind zu oft enttäuscht worden.

Wer selber einmal Hirte war
- als Mutter oder Vater,
oder in einem Beruf, in dem man für Menschen da sein soll -,
weiß, wie schwer es ist, eine gute Hirtin, ein guter Hirte zu sein.
Man möchte sein Bestes geben,
aber man ist doch auch nur ein Mensch.
Hat Sorgen, die einen beschäftigen und ablenken,
so dass man nicht richtig zuhört, geistesabwesend ist.
Hat Ärger zuhause, auf der Arbeit,
und plötzlich bricht er aus einem heraus,
weil man den Druck nicht länger halten kann;
dann bekommt es der Patient ab, und es tut einem leid.
Man wird enttäuscht von denen, die man hütet
- dem Kind, den Patienten, den Schülern, der Gemeinde -,
weil sie so gar nicht wahrnehmen,
wie sehr man sich müht,
wie viel man investiert,
wie erschöpft man ist.

Und wenn man dann mal eine Pause macht, heißt es gleich:
Du denkst nur an dich!
Wenn man nach immer nur geben sich auch mal etwas gönnen will,
wird man beneidet.
Wenn man auch mal etwas von denen möchte, für die man so viel getan hat,
wird man im Stich gelassen.

Mit den Hirtinnen und Hirten ist es eine vertrackte Angelegenheit:
Wenn man sie braucht, sind sie oft nicht da,
oder sie enttäuschen einen.
Und man selbst ist auch nicht immer perfekt in seiner Rolle als Hirtin oder Hirt
und ist dann von sich enttäuscht.
Kann ein Hirte es seinen Schafen überhaupt jemals wirklich recht machen?
Und sind die Schafe überhaupt jemals zufrieden mit ihrem Hirten?
„Ich selbst will meine Schafe weiden,
und ich will sie lagern lassen, spricht Gott der Herr.
Ich will das Verlorene wieder suchen
und das Verirrte zurückbringen
und das Verwundete verbinden
und das Schwache stärken
und, was fett und stark ist, behüten;
ich will sie weiden, wie es recht ist.“
Aus dem Hirtendilemma können wir uns selbst nicht befreien:
Als Schafe sind wir unzufrieden mit den Hirten,
und als Hirten können wir es den Schafen nicht recht machen.
Wir sind immer beides, Hirten und Schafe,
wir enttäuschen andere und werden enttäuscht.
Weil wir dieses Dilemma selbst nicht lösen können,
greift Gott ein.
Gott wird unser Hirte, wie wir es im 23. Psalm gebetet haben.
Ein Hirte, der tut, was eine gute Hirtin, ein guter Hirte tun sollte:
Das Schwache stärken,
das Kranke heilen,
das Verwundete verbinden,
das Verirrte zurückholen
und das Verlorene suchen.
Und der das richtig tut, nicht halbherzig, nicht so nebenbei,
wie wir manchmal, wenn wir müde oder erschöpft sind.
Auch nicht unwillig oder genervt,
nicht, indem er eine der anderen vorzieht,
sondern zugewandt und gerecht.

Aber woher wissen wir, dass Gott das tut?
Wann haben wir das je erlebt?
Sind es nicht bloß Worte -
tröstende, Mut machende, zu Herzen gehende Worte:
„Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln“,
aber eben bloß Worte?
Das Dilemma bleibt,
dass wir schlechte Hirten sind
und unter schlechten Hirten leiden.

Den guten Hirten gab es tatsächlich.
Deshalb ist er hier, in unserer Kirche,
auf dem Fenster zu sehen.
Wir haben es im Evangelium gehört.
Jesus sagt von sich:
„Ich bin der gute Hirte“.
Jesus hat das Hirtendilemma aufgelöst,
auf eine ziemlich einfache, aber geniale Weise:
Der gute Hirte ist zum Sündenbock geworden.
Er hat auf sich genommen,
was wir all den Hirtinnen und Hirten vorwerfen,
die uns so oft enttäuschen.
Er hat auf sich genommen,
worin wir als Hirtinnen und Hirten so oft versagen.
Er wurde der Sündenbock für uns,
damit wir aufhören können, andere Hirten zu kritisieren.
Und damit wir aufhören können,
uns selbst schuldig zu fühlen,
weil wir nicht so gute Hirtinnen und Hirten sind, wie wir sein müssten.
Jesus, der Hirte, hat sich zum Sündenbock machen lassen,
damit wir uns nicht mehr davor scheuen müssen,
an seiner statt Hirtinnen und Hirten zu sein.
Statt auf eine Hirtin, einen Hirten zu warten,
nehmen wir die Sache selbst in die Hand.
Statt zu kritisieren, machen wir es besser - oder zumindest auf unsere Art falsch.

Jesus stärkt uns, wenn wir schwach sind.
Jesus heilt uns, wenn wir krank sind.
Verbindet das Verwundete,
holt das Verirrte zurück,
sucht uns, wenn wir uns verloren haben.

Nicht auf magische Weise tut er das,
nicht mit einem Wunder.
Sondern indem er Menschen bewegt,
unsere Hirtin, unser Hirt zu werden.
In ihnen begegnet er uns.

Es geschieht in solchen Begegnungen,
das sich das Hirtendilemma auflöst:
Dass wir einer guten Hirtin, einem guten Hirten begegnen.
Dass wir gute, dankbare, glückliche Schafe sind.

Und es geschieht in Worten, die nur Worte sind,
die aber unser Herz berühren und es erfüllen und uns träumen lassen:
„Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln“.
Manchmal, da ergreifen einen diese Worte.
Und dann weiß man, was man sein will:
Dann möchte man ein Hirte sein.

Amen.