Samstag, 15. April 2017

Fürchtet euch!

Predigt am Ostersonntag über Matthäus 28, 1–10

Als aber der Sabbat vorüber war und der erste Tag der Woche anbrach, kamen Maria von Magdala und die andere Maria, um nach dem Grab zu sehen. Und siehe, es geschah ein großes Erdbeben. Denn der Engel des Herrn kam vom Himmel herab, trat hinzu und wälzte den Stein weg und setzte sich darauf. Seine Gestalt war wie der Blitz und sein Gewand weiß wie der Schnee. Die Wachen aber erschraken aus Furcht vor ihm und wurden, als wären sie tot. Aber der Engel sprach zu den Frauen: Fürchtet euch nicht! Ich weiß, dass ihr Jesus, den Gekreuzigten, sucht. Er ist nicht hier; er ist auferstanden, wie er gesagt hat. Kommt her und seht die Stätte, wo er gelegen hat; und geht eilends hin und sagt seinen Jüngern, dass er auferstanden ist von den Toten. Und siehe, er wird vor euch hingehen nach Galiläa; dort werdet ihr ihn sehen. Siehe, ich habe es euch gesagt. Und sie gingen eilends weg vom Grab mit Furcht und großer Freude und liefen, um es seinen Jüngern zu verkündigen. Und siehe, da begegnete ihnen Jesus und sprach: Seid gegrüßt! Und sie traten zu ihm und umfassten seine Füße und fielen vor ihm nieder. Da sprach Jesus zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Geht hin und verkündigt es meinen Brüdern, dass sie nach Galiläa gehen: Dort werden sie mich sehen.


Liebe Schwestern und Brüder!

„Fürchtet euch nicht!“
Wovor sollten wir uns fürchten?
Davor, dass der verrückte Präsident der USA
einen Konflikt mit Nordkorea provoziert,
der leicht in einen Krieg ausarten könnte?
Warum sollte uns das überhaupt interessieren?
Korea ist weit, weit weg.
Und die vielen anderen Kriege in der Welt
haben uns doch bisher auch nicht gestört …

„Fürchtet euch nicht!“
Wovor sollten wir uns fürchten?
Davor, dass durch die Klimaerwärmung die Gletscher schmelzen,
die Ozeane steigen und die Küsten durch Sturmfluten bedroht werden,
das Wetter immer heftiger, extremer und unberechenbarer wird?
Ach was! Die sollen erstmal beweisen,
dass die Klimaerwärmung mit unserem Lebensstil zusammenhängt!
Außerdem ist ja gar nicht gesagt,
dass es so schlimm kommt, wie es vorhergesagt wird
- der Wetterbericht stimmt ja auch oft nicht.
Und außerdem: Bis zu uns kommt das Wasser bestimmt nicht!

„Fürchtet euch nicht!“
Wovor sollten wir uns fürchten?
Davor, dass die Fässer mit Atommüll,
die man leichtfertig im Salzbergwerk Asse bei Salzgitter versenkt hat,
durchrosten, weil Wasser in den Salzstock dringt,
und eines Tages das Grundwasser verseucht wird?
Na, wenn schon!
Es dauert Jahrhunderte, bis das bei uns ankommt.
Da leben wir doch schon alle längst nicht mehr.
Außerdem: Wo liegt überhaupt Salzgitter?

II
„Fürchtet euch nicht!“
Doch, wir fürchten uns.
Vor dem Verlust unseres Wohlstands.
Vor der Konkurrenz am Arbeitsmarkt.
Vor dem Älterwerden.
Vor dem Krebs.
Davor, dass die Rente nicht reicht.
Vor den Terroristen.
Vor den Ausländern.
Vor den Nazis.
Wir fürchten die Einsamkeit.
Wir fürchten uns vor der Dunkelheit.
Wir haben Angst, zu versagen
in der Schule,
bei der Arbeit,
im Bett.
Wir haben Angst, wenn unsere Eltern sich streiten.
Wir haben Angst um unsere Kinder.
Wir fürchten, keine Freunde zu finden.
Nicht schön zu sein.
Nicht klug zu sein.
Wir fürchten, unsere Partnerin, unseren Partner zu verlieren.
Unsere Eltern.
Wir fürchten uns vor dem Tod.
Wir fürchten uns.

Das, was uns unmittelbar betrifft,
das fürchten wir.
Da haben wir oft mehr Angst als nötig.
Da haben wir oft zuviel Angst, die uns lähmt.

Das, was weit weg ist, was uns nichts angeht,
das nehmen wir auf die leichte Schulter.

Wie ist es mit Gott?
Fürchten wir Gott?

III
„Fürchtet euch nicht!“
Die Frauen am Grab fürchten sich.
Nicht, weil sie Angst vor Zombies hätten, vor Untoten.
Nicht, weil sie Rilkes „Duineser Elegien“ gelesen hätten:
„das Schöne ist nichts
als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen,
und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht,
uns zu zerstören. Ein jeder Engel ist schrecklich.“
Die Frauen am Grab fürchten sich vor Gott.

Die Menschen der Bibel fürchteten Gott.
Sie bedeckten ihr Gesicht, um Gott nicht ansehen zu müssen (1.Könige 19,13),
„denn kein Mensch wird leben, der mich sieht“ (Exodus 33,20).

„Gott fürchten“, das bedeutet nicht,
in ständiger Angst vor Gott zu leben.
Von Mose wird erzählt, dass er mit Gott redete „wie mit einem Freund“ (Exodus 33,11).
Abraham widerspricht Gott (Genesis 18);
Gideon macht einen Deal mit ihm (Richter 6),
und Jona flieht vor ihm,
wird vom Meeresungeheuer verschlungen,
wieder ausgespuckt und hat dann noch die Chuzpe,
sich bei Gott zu beschweren.
Man muss keine Angst vor Gott haben.
Man kann mit Gott reden, verhandeln, streiten.
Was bedeutet dann aber „Gott fürchten“?

Es bedeutet, Respekt vor Gott zu haben.
Respekt hat man vor jemandem,
der stärker, beliebter oder mächtiger ist als man selbst.
Ein Reicher, ein Politiker, ein Industriemanager, ein Star:
Sie können sich unseres Respektes gewiss sein.
Man merkt sofort, wen man da vor sich hat,
wen man einem von ihnen begegnet,
und wird quasi automatisch einen Kopf kleiner,
macht brav einen Diener und ist froh,
dass diese hohen Damen und Herren
einen überhaupt eines Blickes gewürdigt haben.

IV
Für uns ist Gott der „liebe Gott“.
Vor einem lieben Gott braucht man keine Angst zu haben.
Vor einem lieben Gott hat man aber auch keinen Respekt.
Denn was kann ein lieber Gott uns schon tun?
Nichts!
Denn sonst wäre er ja nicht lieb.

Wenn wir so von Gott denken,
haben wir Ostern gründlich missverstanden.
Gott, der in Jesus Mensch wurde,
gab sich in die Hände der Menschen.
Und die Menschen taten,
was sie immer mit dem Wunderbaren,
dem Schönen und Einzigartigen tun:
Sie machen es kaputt.
Die Menschen konnten das Wunder, das Jesus ist,
nicht am Leben lassen.
Sie mussten es zerstören aus Rohheit, aus Bosheit und aus Neugier,
wie ein Kind etwas kaputt macht,
um herauszufinden, was es ist, wie es funktioniert.
Jesus wurde kaputt gemacht, um zu sehen,
ob er wirklich Gott ist.
Und als man mit ihm fertig war,
stand auch das Urteil fest:
Das ist ja nur ein Mensch.
Bis heute ist das das Urteil über die Religion:
da sei doch nichts dahinter.
Gott gäbe es nicht,
und all das, was die Bibel berichtet,
seien nur Märchen.
Es ist ein Urteil,
das über alles Wunderbare, Einzigartige und Schöne gefällt wird.

Jesus setzte sich bewusst diesem Missverständnis aus.
Er setzte sich dem Missverständnis aus,
dass der Verzicht auf Gewalt Schwäche bedeutet.
Denn Liebe und Gewalt gehen nicht zusammen.
Jesus aber war die Liebe.
Und in ihm zeigte sich die Macht der Liebe.
Die Liebe war am Ende stärker als die Gewalt,
stärker als die Bosheit und Rohheit der Menschen,
stärker sogar als der Tod.

Die Gottesfurcht, die uns Ostern lehren will,
ist der Respekt vor der Liebe.
Das Eintreten für das Wehrlose, Zarte, Zerbrechliche.
Das Bewahren des Schönen, Wunderbaren, Einzigartigen.
Der Respekt vor der Liebe zeigt sich im behutsamen Umgang mit allem,
was schön und zerbrechlich ist - mit unserer Natur, z.B.
Im Respekt vor dem Kleinen.
Die Schnecke, den Käfer auf dem Weg zertritt man nicht.
Das Haustier quält man nicht.
Die Pflanze, die sich mühsam ihren Platz zwischen den Steinen erkämpfte, reißt man nicht aus.
Kinder behandelt man nicht von oben herab.
Man bevormundet sie nicht.
Man fährt ihnen auch nicht über den Mund,
man fällt ihnen nicht ins Wort.
Menschen beurteilt man nicht nach ihrem Äußeren.
Man sortiert sie nicht in Schubladen.
Man lernt, ihre verborgene Schönheit zu sehen,
die jeder Mensch besitzt.

V
„Fürchtet euch nicht!
Die Frauen am Grab fürchten sich,
weil sie erkennen, dass sie vor Gott stehen.
Sie fürchten nicht um ihr Leben.
Sie empfinden vielmehr „mit Furcht und großer Freude“ die Macht,
die in diesem Moment am Werk ist:
die Macht der Liebe.

Es ist eine Macht, die man nicht beherrschen kann.
Man kann sie nicht sehen,
man kann sie nicht messen.
Man kann sie mit Leichtigkeit zerstören
durch Rohheit, Bosheit und Gewalt.
Aber damit zerstört man nur die Liebe in sich selbst,
die eigene Menschlichkeit.
Die Liebe kann man damit nicht zerstören.
Sie kommt immer wieder hervor,
wie das Unkraut zwischen den Steinen,
wie die Glut in der Asche,
wie die Flamme,
die uns auf der Osterkerze vom Sieg der Liebe erzählt.
Amen.