Mittwoch, 14. Juni 2017

serendipity

Predigt zur Konfirmation am 4. Mai 2003
Predigttext: 1. Könige 19, 3-8
[Und Ahab sagte Isebel alles, was Elia getan hatte und wie er alle Propheten Ba'als mit dem Schwert umgebracht hatte.
Da sandte Isebel einen Boten zu Elia und ließ ihm sagen: Die Götter sollen mir dies und das tun, wenn ich nicht morgen um diese Zeit dir tue, wie du diesen getan hast!]


Da fürchtete er sich, machte sich auf und lief um sein Leben und kam nach Be'erscheba in Juda und ließ seinen Diener dort.
Er aber ging hin in die Wüste eine Tagereise weit und kam und setzte sich unter einen Wacholder und wünschte sich zu sterben und sprach: Es ist genug, so nimm nun, Gott, meine Seele; ich bin nicht besser als meine Väter. Und er legte sich hin und schlief unter dem Wacholder. Und siehe, ein Engel rührte ihn an und sprach zu ihm: Steh auf und iss! Und er sah sich um, und siehe, zu seinen Häupten lag ein geröstetes Brot und ein Krug mit Wasser. Und als er gegessen und getrunken hatte, legte er sich wieder schlafen.
Und der Engel Gottes kam zum zweitenmal wieder und rührte ihn an und sprach: Steh auf und iss! Denn du hast einen weiten Weg vor dir.
Und er stand auf und aß und trank und ging durch die Kraft der Speise vierzig Tage und vierzig Nächte bis zum Berg Gottes, dem Horeb.


Liebe Gemeinde,
liebe Eltern und Angehörige,
liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden!
Bei großen und wichtigen Festen, wie es Eure Konfirmation zweifellos ist, kommt unweigerlich der Moment, an dem man auf das Leben der Gefeierten zurückblickt: Wie war das noch, als ihr klein wart? Es werden Geschichten erzählt von damals, leider auch - oder gerade - die für euch eher peinlichen. Die Fotoalben werden herausgeholt und aufgeschlagen, plötzlich gleitet das Interesse von euch hinüber auf die Hochzeitsfotos eurer Eltern, Fotos von den ersten gemeinsam Urlaubsreisen, und das Gespräch dreht sich nicht mehr um euch. Es wird von der Hochzeit erzählt, oder von der Konfirmation eurer Eltern und Großeltern.
Ein klarer Fall von Serendipity.
I
Auch das, was der Profet Elia in der Geschichte erlebt, die ihr für eure Konfirmation ausgewählt habt, ist Serendipity.

Eine hoch dramatische Geschichte.
Elia ist für seinen Glauben, für seinen Gott zum Mörder geworden. Er hat die Priester des Gottes Ba'al getötet - des Gottes, den seine Königin verehrt. Die Königin hat Rache geschworen und will Elia umbringen lassen. Deshalb flieht er in die Wüste, wo sich Spuren schnell verwischen, wo die Vefolger ihn in der endlosen Weiten und Einsamkeit nicht so schnell aufspüren werden.
Elia geht aber auch in die Wüste, um allein zu sein. Er muss nachdenken. Es wird ihm bewusst, wie schrecklich es ist, was er getan hat. Er war nicht besser als die, gegen die er gekämpft hat.
Die Sünde der Väter: dass sie einem falschen Gott, den Ba'al, gedient hatten, hat er mit einer noch schlimmeren überboten: mit dem Mord.

Wie gesagt: eine hoch dramatische Geschichte, dazu aus einer Zeit, die von der unseren fast dreißig Jahrhunderte entfernt ist: König Ahab regierte mit seiner Frau Isebel von 871 bis 852 vor Christus den damals schon kleinen Staat Israel.
Aber schon zeigt sich eine Brücke aus dieser fernen Zeit in unsere hinüber: Noch heute gibt es in Israel Mord und Totschlag zwischen Eiferern verschiedenen Glaubens. Und noch eine andere Brücke ist da, der Satz: "Ich bin nicht besser als meine Väter".
Um mit diesem Satz bei euch, liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden, anzukommen, müssen wir auf den Satz sehen, der vorher da war: "Ich bin besser als meine Väter."
II
"Ich bin besser als meine Mütter und Väter" - dieser Satz ist jetzt für euch dran. Als Kinder waren eure Mutter, euer Vater Vorbilder für euch - und Vorbilder waren Personen, die auch die Rolle von Müttern und Vätern für euch hatten und haben: Großeltern und Paten, Erzieherinnen und Lehrer, Teamer und Pfarrer. Jetzt kommt die Zeit, in der die Sockel dieser Vorbilder rissig werden. Die Zeit, in der ihr euch mit ihnen auseinandersetzt, merkt, dass sie Fehler machen und Fehler haben.
Eine Zeit, in der ihr merkt, dass ihr anders seid, anderes wollt als sie.
Eine Zeit, in der es Streit und Kämpfe gibt, vor allem zwischen euch und euren Eltern. Um die Frage, was man anziehen, wann man nachts nach Hause kommen soll. Um politische Überzeugungen. Oder einfach darum, wer Recht hat.
Es ist aber auch eine Zeit, in der ihr erkennt: "Ich bin nicht besser als meine Väter."
Ihr seid unzufrieden mit euch - eurem Aussehen, euren Fähigkeiten, euren Leistungen. Ihr leidet darunter, dass die Welt so ist, wie sie ist, wollt sie anders haben, wollt selbst anders sein und ahnt doch, dass eure Möglichkeiten sehr eingeschränkt sind.

Ich muss euch leider aus eigener Erfahrung sagen:
Es wird noch nicht besser, sondern schlimmer.
Die Momente, in denen ihr mit euren Eltern und euren Vorbildern, aber auch mit euch selbst unzufrieden seid, werden eher mehr werden als weniger. Die meisten, die heute hier sind, haben diese Zeit der Pubertät schon durchlebt und neben all dem Schönen dieser Zeit, das hoffentlich überwogen hat, eben auch diese Unzufriedenheit mit den anderen, mit der Welt und auch mit sich durchlebt und durchlitten.
Wie Elia unte dem Wacholder waren auch wir ganz tief unten, waren deprimiert, wollten nicht mehr da sein.
Welcher Engel holt einen aus solch einem Tief heraus?
III
Jetzt ist es an der Zeit, dass ich das eigenartige Wort von vorhin erkläre: Serendipity. Ein Kunstwort, 1754 vom Engländer Horace Walpole erfunden, das eine ganz alltägliche, aber sehr weitreichend Erfahrung beschreibt: Dass man etwas findet, was man nicht gesucht hat.
So wie bei den eingangs erwähnten Fotoalben, oder bei der Suche nach einem bestimmten Buch: Plötzlich schmökert man begeistert in einem ganz anderen Buch als dem, das man ursprünglich gesucht hatte. Christoph Kolumbus wollte eigentlich nach Indien, als er Amerika entdeckte. Wissenschaft und Industrie leben davon, dass Forscherinnen und Forscher immer wieder etwas finden, was sie nicht gesucht hatten - und was dann zu einer großen Entdeckung wird. Serendipity ist auch die Grundlage vieler Beziehungen: Eigentlich hatte man jemand ganz anderen gesucht - und sich dann verliebt in einen Menschen, der so gar nicht dem gesuchten Ideal entspricht, der ganz anders: viel wunderbarer - ist.
Serendipity - finden, was man nicht gesucht hat. Das ist mehr als bloßer Zufall. Auch zufällig kann man finden, was man nicht gesucht hat - aber zufällig hätte Kolumbus Amerika nie entdeckt. Es gehört dazu, dass man schon auf der Suche, dass man vorbereitet ist.
Elia konnte in der Wüste nicht zufällig überleben. Er kam dahin, um zu sterben - und fand das Leben. Aber erst, nachdem er erkannt hatte, was er getan hatte, erst nach dem Satz: "Ich bin nicht besser als meine Väter".
IV
Um aus dem tiefsten Tief herauszukommen, braucht es einen Engel wie bei Elia, der einem die Energie gibt, wieder aufzustehen und weiter zu gehen.
Ein Engel - für manche ist es Musik. So, wie Musik einen herunterziehen kann, so kann sie auch aufbauen, es hell machen. Ein Engel kann auch eine beste Freundin, ein bester Freund sein, jemand, der einem zeigt: du bist OK, oder sogar jemand, der sagt: "Ich liebe dich".
Ein Engel, das ist eine andere Wirklichkeit, die in meine Wirklichkeit einbricht und sie verändert.
Der Satz "Ich bin nicht besser als meine Väter" ist falsch.
Und falsch ist auch der Satz: "Ich bin besser als meine Väter". - Ebenso falsch wie die Vorstellung, die Erde sei eine Scheibe; mit dieser Vorstellung wäre Kolumbus nie in Amerika gelandet: er hätte sich gar nicht erst auf den Weg gemacht.
Ein Engel, das ist eine andere Wirklichkeit.
Was wir Hauptamtlichen und Teamerinnen und Teamer euch in eurer Konfirmandenzeit versucht haben zu zeigen war, dass es noch eine andere Wirklichkeit gibt neben der, die wir greifen können.
Es gibt wahrscheinlich viele andere Wirklichkeiten.
Wirklichkeiten, in denen der Satz stimmt: "Ich bin besser als meine Väter".
Neben der Wirklichkeit, die wir sehen und begreifen können gibt es das, was wir denken und fühlen - und das ist manchmal mächtiger als die Realität. Wenn wir uns einreden - oder einreden lassen -, dass wir dumm, hässlich, nichts wert sind, dann fühlen wir uns so, auch wenn die Realität anders aussieht. Umgekehrt auch: Wenn wir überzeugt sind, im Recht zu sein, besser zu sein, etwas mehr verdient zu haben als andere, muss das nicht unbedingt der Realität entsprechen.
Ich verstehe die Wirklichkeit Gottes als einen Weg, mit diesen vielen Wirklichkeiten in uns und um uns leben zu können. Die Wirklichkeit Gottes befreit von den eingebildeten, eingeredeten Wirklichkeiten und macht uns dazu fähig, die Realität anzunehmen, so wie sie ist - und einen Engel zu erkennen, wenn er uns begegnet.
V
Elia kam in die Wüste als Mörder. Er kam, um zu sterben.
Elia traf einen Engel in der Wüste und fand das Leben. Am Ende, so erzählt die Geschichte weite, stand er sogar seinem Gott gegenüber.
Dass er Menschen getötet hatte, konnte er nicht verleugnen, nicht mehr rückgängig machen - so wie wir es nicht ändern können, was wir sind, was wir getan oder nicht getan, wie wir einmal entschieden haben.
Gott sah Elia nicht als Mörder an, sondern als Menschen.
Er nahm Elia zwar das Profetenamt und gab es einem anderen, aber er ließ Elia in seine Nähe, und am Ende nahm er ihn ganz zu sich.
Gott legt auch uns nicht fest auf das, was wir waren, auf das, was wir getan haben. Es hat Konsequenzen, und dennoch bleiben wir, was wir immer waren: Menschen, Gottes Ebenbilder. Gott vergibt uns immer wieder, Gott nimmt uns immer wieder an und lässt uns in seine Nähe, auch wenn unsere Mitmenschen das nicht können.
Weil Gott uns so ansieht, können wir die Realität wahrnehmen: dass wir vielleicht schrecklich sind, aber nicht so schrecklich. Hässlich, aber nicht so hässlich. Faul, aber nicht so faul.
Oder auch: Schön, aber nicht so schön. Klug, aber nicht so klug.
Sondern dass wir alle geliebt sind, so sehr geliebt, dass Gottes Sohn sogar für uns gestorben ist.
Das ist Gottes Wirklichkeit, die uns hilft, mit der Realität zu leben: die Dinge so anzunehmen, wie sie sind.
Gottes Wirklichkeit, die uns zu Serendipity verhilft: die uns gerade dann, wenn wir es am wenigsten glauben und am dringendsten brauchen finden lässt, was wir nicht gesucht haben.
Ich wünsche euch die Erfahrung von Serendipity. Ich wünsche euch, dass Gottes Wirklichkeit euch hilft, euch, eure Mitmenschen, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich sind. Gott hat von ihnen gesagt: Siehe, alles war sehr gut.

Und bei diesem Wort Gottes bleibt es. Amen.

Güntzel Schmidt