Freitag, 20. Oktober 2017

Die Konsequenzen tragen

Predigt am 19. Sonntag nach Trinitatis, 22.10.2017, über Johannes 5,1-16:

Nach diesen Begebenheiten war ein jüdischer Feiertag, und Jesus ging hinauf nach Jerusalem.
Es gibt in Jerusalem beim Schaftor ein Schwimmbad, das heißt auf Hebräisch Bethesda, das hat fünf Säulenhallen. In denen lag eine Fülle von Kranken: Blinde, Lahme, Abgemagerte.
Dort gab es einen, der war schon 38 Jahre krank.
Den sieht Jesus liegen.
Als er erfährt, dass er schon viele Jahre krank ist, fragt er ihn:
Willst du gesund werden?“
Der Kranke antwortet:
Herr, ich habe keinen, der mich ins Becken wirft, wenn das Wasser sich bewegt. Und bis ich da bin, ist ein anderer hineingestiegen.“
Spricht Jesus zu ihm:
Steh auf, nimm deine Matte und geh!“
Sofort wurde der Mensch gesund, nahm seine Matte und ging.

Es war aber Sabbat an jenem Tag.
Da sprachen die Juden zu dem Geheilten:
Es ist Sabbat, da ist es dir nicht gestattet, deine Matte zu tragen“.
Er aber antwortete ihnen:
Der mich gesund machte, sagte: ‚Nimm deine Matte und geh!‘“
Sie fragten ihn:
Wer ist der Mensch, der sagte: ’Nimm deine Matte und geh‘?“
Aber der Geheilte wusste nicht, wer es war, denn Jesus hatte die Menge gemieden, die an dem Ort war.

Danach findet ihn Jesus im Tempel und sagt zu ihm:
Du bist gesund geworden. Sieh zu, dass du nicht mehr sündigst, damit dir nicht Schlimmeres widerfährt!“
Der Mensch ging weg und meldete den Juden, dass Jesus es war, der ihn gesund gemacht hätte.
Deshalb verfolgten die Juden Jesus, weil er das am Sabbat getan hatte.
(Eigene Übersetzung)

Liebe Schwestern und Brüder,

Sie kennen bestimmt die Gretchenfrage:
Wie hast du's mit der Religion?“.
Aber kennen Sie auch die Mäxchenfrage?
Sie lautet: Wann darf man eine Regel brechen?

Die Mäxchenfrage können Sie nicht kennen, die habe ich mir ausgedacht.
Ich nenne sie „Mäxchenfrage“ nach Max & Moritz, den notorischen Regelbrechern.
Wilhelm Busch hat sie sich ausgedacht und sie jede Menge böser Streiche spielen und Regeln brechen lassen.

I
Wann darf man eine Regel brechen?
Man möchte schon dieser Frage widersprechen:
Regeln darf man überhaupt nicht brechen.
Regeln sind dazu da, eingehalten zu werden; dazu gibt es sie ja.
Man muss sich sicher sein können, dass Autos bei Rot anhalten -
sonst würde man sich nicht mehr über die Straße wagen.
Autofahrer, die diese Regel brechen, werden zu recht bestraft,
weil sie etwas sehr Gefährliches tun.

Regeln darf man nicht brechen.
Trotzdem hat jede von uns mindestens einmal eine gebrochen.
Manchmal, ohne es zu wissen, und manchmal mit voller Absicht.
Und manchmal hat so ein Regelbruch sogar richtig Spaß gemacht …

Die Regel, dass man bei Rot anhalten muss, wird manchmal sogar ganz offiziell gebrochen.
Feuerwehr, Krankenwagen und Polizei im Einsatz dürfen rote Ampeln überfahren,
wenn sie das Blaulicht eingeschaltet haben.
Und niemand nimmt ihnen diesen Regelbruch übel
- es könnte ja sein, dass sie zu mir unterwegs sind …
In diesem Fall gilt eine neue Regel:
Blaulicht geht über Rotlicht.

In der Geschichte vom Kranken, der seit 38 Jahren auf Heilung wartet,
werden ebenfalls Regeln gebrochen und neue Regeln eingeführt.
Eine alte Regel lautete:
Wer gesund werden will, muss warten, bis das Wasser im Schwimmbecken sich bewegt.
Wer dann als erster im Becken ist, wird geheilt.
38 Jahre hat der Kranke auf seinen Moment gewartet.
Nie ist dieser Moment gekommen, denn der Kranke war immer zu langsam.
Er hatte keine Helfer wie andere, die von Freunden oder Angehörigen ins Becken geworfen wurden, wenn der Zeitpunkt gekommen war.

Jesus bietet dem Kranken die Heilung an.
Dazu ist die Regel des Schwimmbeckens nicht nötig,
der Kranke braucht nicht ins Wasser zu springen.
Allerdings muss er eine Regel brechen, um geheilt zu werden:
Er muss am Sabbat etwas tragen - sein Bett nämlich -, was den Gläubigen verboten ist:
Das dritte Gebot „Du sollst den Feiertag heiligen“ verbietet die Arbeit am Feiertag.

II
Um gesund zu werden, muss der Kranke eine Regel brechen.
Das fällt ihm nicht schwer.
Es würde auch uns nicht schwer fallen.
Wer vor dieser Wahl steht, die weiß, wie sie sich entscheidet.
Da muss man auch nicht eine Sekunde nachdenken,
und das tut der Kranke auch nicht:
Er steht auf, nimmt sein Krankenbett - und ist geheilt.

Man kann nicht sagen, dass der Regelbruch ihn geheilt hat.
Es war Jesus, der Sohn Gottes, der das tat.
Aber offensichtlich spielt es eine Rolle, dass das Arbeitsverbot am Sabbat gebrochen wird.
Warum verlangt Jesus von dem Geheilten,
sein Bett zu tragen und damit die Sabbatruhe zu verletzen?
Warum missachtet der gläubige Jude, der Rabbi Jesus dieses Gebot?
Er hätte den Kranken doch sicher auch ohne Gebotsübertretung heilen können.

Lehnt Jesus sich gegen das System auf, wie die Punks es taten?
Verstößt er aus Prinzip gegen Regeln?
Oder will er provozieren? Sucht er Streit mit den Autoritäten?
Eins ist sicher:
Die Geschichte wird nicht wegen der wunderbaren Heilung erzählt,
sondern wegen der Regelverletzung.
Die Nachfolgerinnen und Nachfolger Jesu haben sich diese Geschichte zum Vorbild genommen.
Sie waren störrische Leute, Neinsager, die z.B. den Kriegsdienst verweigerten;
die den Kaiser nicht anbeten wollten und keinen Eid ablegten;
die Frauen und Sklaven den Männern gleich stellten.
Bei ihren Regelverletzungen beriefen sie sich auf Jesus,
der so tat, als gälten für ihn keine Regeln.

III
Auch der Geheilte beruft sich auf Jesus,
als er auf seinen Regelbruch angesprochen wird.
Gefragt, warum er am Sabbat sein Bett trage, antwortet er:
Der mich gesund gemacht hat, hat es mir aufgetragen.

Das klingt fast ein wenig abergläubisch:
Nachdem er sich 38 Jahre an die Regel des Schwimmbades gehalten hatte,
trägt er jetzt sein Bett herum.
So, als wäre das Herumtragen des Bettes die Gewähr dafür, dass er gesund bleibt.
Es scheint, als habe er die alte Regel durch eine neue ersetzt,
weil er so an Regeln gewöhnt war.

Aber irgendwann setzt er doch sein Bett ab und geht in den Tempel,
wie das ein Gläubiger am Sabbat tut.
Dort findet ihn Jesus.
Und er tut etwas Überraschendes:
Er ermahnt den Geheilten, den Regelbruch ja nicht zur Regel werden zu lassen.

Krankheiten entstehen oft durch das Übertreten von Regeln:
zu viel Rauchen, zu viel Alkohol, zu viel fettes Essen, zu wenig Bewegung, zu viel Stress können krank machen.
Die dahinter stehenden Regeln, dass man Maß halten, sich bewegen, auf sein Gewicht achten soll, hat jede verinnerlicht.
Das heißt nicht, dass wir uns daran halten …

Zur Zeit Jesu zählte man zu den Krankheitsursachen auch ein gestörtes Verhältnis zu Gott.
Wer mit Gott nicht im Reinen war, konnte davon krank werden.
Deshalb rät Jesus dem Geheilten, sein Verhältnis zu Gott in Ordnung zu halten;
sich an die Regeln zu halten, die Gott dafür aufgestellt hat: die Gebote.

Jesus ist also gar kein Rebell, der Regeln aus Prinzip bricht.
Er ist kein Provokateur, der mit seinen Regelbrüchen Unfriede stiften und Streit anzetteln will.
Er ist ein richtiger Spießer, wie die Punks sagen würden.
Ein Spießer, der den Geheilten ermahnt, ja nichts Unrechtes zu tun.

IV
Jesus macht es dem Geheilten - und uns - nicht leicht.
Zuerst stiftet er ihn zum Regelbruch an,
dann ermahnt er ihn, sich ja an die Regeln zu halten.
Wie soll der Geheilte, wie sollen wir daraus schlau werden?

Offenbar gibt es manchmal gute Gründe, eine Regel zu brechen.
In unserem Beispiel war es das Blaulicht, das die Rote Ampel aufhebt.
Ansonsten aber soll man Regeln befolgen, denn dazu sind sie da.
Man achte aber auf das Wörtchen soll.
Es kommt auch in den Zehn Geboten vor:
Du sollst den Feiertag heiligen“.

Juristen sagen:
Soll heißt muss, wenn kann“.
Eine Regel, die ich befolgen soll, muss ich befolgen, wenn ich dazu in der Lage bin.
In der Regel bin ich dazu in der Lage.
Aber manchmal gibt es eben Ausnahmen von der Regel, Ausnahmesituationen,
in denen ich die Regel nicht befolgen kann.
Dann gilt eine andere, höhere Regel.

Aber wer entscheidet, wann eine Ausnahmesituation eingetreten ist?
Der Geheilte beruft sich auf Jesus:
Der hat ihm gesagt, dass jetzt eine andere Regel gilt.
Indem er Jesus die Verantwortung für seinen Regelbruch zuschiebt,
liefert er seinen Gegnern einen Grund, ihn zu verfolgen.
Er liefert Jesus ans Messer.
Indem er Jesus die Verantwortung für seinen Regelbruch zuschiebt,
sagt er: der, der mich gesund gemacht hat, ist mächtiger und wichtiger als das Gebot,
das verbietet, am Sabbat zu arbeiten.
Dieses Argument, dass eine Person über dem Gesetz steht
und dass ihre Befehle einem die Freiheit geben,
das Gesetz zu übertreten,
ist in der Geschichte ein sehr beliebtes Argument geworden.
Weil es so bequem ist.
Mit dem „Führerprinzip“ wurden in der NS-Zeit die schlimmsten Verbrechen,
wurde jeder nur denkbare Regelbruch möglich und erlaubt.
Aber Jesus lässt das Führerprinzip nicht gelten.
Er betont, dass die Gebote dazu da sind, befolgt zu werden:
Soll heißt muss, wenn kann“.

Jesus setzt das Gebot nicht außer Kraft.
Er zeigt einen anderen Umgang mit den Geboten auf.
Dieser andere Umgang mit den Geboten besteht darin,
dass man den Vorschriften nicht sklavisch folgt.
Sondern sich bewusst ist, dass es Situationen gibt,
an denen etwas anderes wichtiger ist als das Gebot.
Dass wir uns aber in solchen Situationen nicht auf eine höhere Instanz berufen können.
Nicht auf einen „Führer“, und auch nicht auf ein höheres Prinzip.
Wir müssen unseren eigenen Kopf hinhalten.
Aber wie sollen wir entscheiden, wann eine Regel gebrochen werden muss?
Woher sollen wir wissen, dass es jetzt sein muss?

V
Was bringt Jesus dazu, den Kranken zu heilen?
Er tut es aus Mitleid.
Als Jesus erfährt, wie lange der Kranke schon auf seine Heilung wartet, bietet er ihm seine Hilfe an.

Mitleid ist ein Gefühl.
Es entzieht sich allen Regeln.
Es lässt sich nicht berechnen, nicht abwägen
und man überlegt auch nicht lange.
Wenn man Mitleid empfindet, dann handelt man,
weil man vom Mitleid ergriffen und erfüllt wird.

Wer Mitleid empfindet, macht das Leid einer anderen zu seiner Sache.
Übernimmt Verantwortung.
Mitleid ist kein flüchtiges Gefühl.
Mitleid spannt ein und verpflichtet, wenn man sich ihm überlässt.
So versorgt der barmherzige Samariter nicht nur die Wunden des Menschen,
der unter die Räuber gefallen war.
Er unterbricht seine Reise, macht einen Umweg, um den Verletzten in eine Herberge zu bringen, wo er ihn den ganzen Tag lang pflegt.
Er sorgt sogar noch für seine weitere Pflege und stellt sicher,
dass Hilfe geleistet wird, bis der Verletzte geheilt ist.

Wer eine Regel aus Mitleid übertritt,
tut das nicht aus Spaß, aus Protest oder in einem Akt der Rebellion.
Mitleid ist zu ernst, als dass man damit spielen würde.
Man denkt nicht an die Folgen, wenn man sich vom Mitleid leiten lässt,
aber man muss die Konsequenzen tragen.

VI
Wer eine Regel bricht, muss die Konsequenzen tragen.
Daran denkt man nicht gern.
Wer beim Regelbruch ertappt wurde,
versucht, sich herauszureden oder die Schuld auf andere zu schieben.
Jesus erwartet von seinen Nachfolgerinnen und Nachfolgern,
dass sie bereit sind, die Konsequenzen zu tragen,
so wie er die Folgen seines Mitleides konsequent bis ans Kreuz getragen hat.
Darum kann man niemandem vorschreiben, eine Regel zu brechen,
wie man Mitleid niemandem vorschreiben kann.

Mitleid lässt sich weder verordnen noch berechnen.
Es ist ein Gefühl, das einen ergreift und nicht an die Konsequenzen denken lässt.
Wer vom Mitleid ergriffen wird, kann darauf vertrauen,
dass sie die Folgen nicht allein tragen muss.
Der Kranke heilte und Schuld vergab,
der das Mitleid bis ans Kreuz trug
und die Liebe auch am Kreuz noch durchhielt, der ist bei uns.
Sein Mitleid mit uns, seine Liebe zu uns gehen so weit,
dass er als Unschuldiger starb, damit wir leben können.
Das macht uns frei und gibt uns Kraft, Mitleid zu empfinden.
Es macht uns frei und gibt uns Kraft,
Verantwortung zu übernehmen für andere und für unser Handeln
und die Konsequenzen zu tragen.

Amen.


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Wie ich zu der Predigt kam, steht auf mitredner.wordpress.com.