Predigt am 19.
Sonntag nach Trinitatis, 22.10.2017, über Johannes 5,1-16:
Nach
diesen Begebenheiten war ein jüdischer Feiertag, und Jesus ging
hinauf nach Jerusalem.
Es
gibt in Jerusalem beim Schaftor ein Schwimmbad, das heißt auf
Hebräisch Bethesda, das hat fünf Säulenhallen. In denen lag
eine Fülle von Kranken: Blinde, Lahme, Abgemagerte.
Dort
gab es einen, der war schon 38 Jahre krank.
Den
sieht Jesus liegen.
Als
er erfährt, dass er schon viele Jahre krank ist, fragt er ihn:
„Willst
du gesund werden?“
Der
Kranke antwortet:
„Herr,
ich habe keinen, der mich ins Becken wirft, wenn das Wasser sich
bewegt. Und bis ich da bin, ist ein anderer hineingestiegen.“
Spricht
Jesus zu ihm:
„Steh
auf, nimm deine Matte und geh!“
Sofort
wurde der Mensch gesund, nahm seine Matte und ging.
Es
war aber Sabbat an jenem Tag.
Da
sprachen die Juden zu dem Geheilten:
„Es
ist Sabbat, da ist es dir nicht gestattet, deine Matte zu tragen“.
Er
aber antwortete ihnen:
„Der
mich gesund machte, sagte: ‚Nimm deine Matte und geh!‘“
Sie
fragten ihn:
„Wer
ist der Mensch, der sagte: ’Nimm deine Matte und geh‘?“
Aber
der Geheilte wusste nicht, wer es war, denn Jesus hatte die Menge
gemieden, die an dem Ort war.
Danach
findet ihn Jesus im Tempel und sagt zu ihm:
„Du
bist gesund geworden. Sieh zu, dass du nicht mehr sündigst, damit
dir nicht Schlimmeres widerfährt!“
Der
Mensch ging weg und meldete den Juden, dass Jesus es war, der ihn
gesund gemacht hätte.
Deshalb
verfolgten die Juden Jesus, weil er das am Sabbat getan hatte.
(Eigene Übersetzung)
Liebe
Schwestern und Brüder,
Sie
kennen bestimmt die Gretchenfrage:
„Wie
hast du's mit der Religion?“.
Aber
kennen Sie auch die Mäxchenfrage?
Sie
lautet: Wann darf man eine Regel brechen?
Die
Mäxchenfrage können Sie nicht kennen, die habe ich mir ausgedacht.
Ich
nenne sie „Mäxchenfrage“ nach Max & Moritz, den notorischen
Regelbrechern.
Wilhelm
Busch hat sie sich ausgedacht und sie jede Menge böser Streiche
spielen und Regeln brechen lassen.
I
Wann
darf man eine Regel brechen?
Man
möchte schon dieser Frage widersprechen:
Regeln
darf man überhaupt nicht brechen.
Regeln
sind dazu da, eingehalten zu werden; dazu gibt es sie ja.
Man
muss sich sicher sein können, dass Autos bei Rot anhalten -
sonst
würde man sich nicht mehr über die Straße wagen.
Autofahrer,
die diese Regel brechen, werden zu recht bestraft,
weil
sie etwas sehr Gefährliches tun.
Regeln
darf man nicht brechen.
Trotzdem
hat jede von uns mindestens einmal eine gebrochen.
Manchmal,
ohne es zu wissen, und manchmal mit voller Absicht.
Und
manchmal hat so ein Regelbruch sogar richtig Spaß gemacht …
Die
Regel, dass man bei Rot anhalten muss, wird manchmal sogar ganz
offiziell gebrochen.
Feuerwehr,
Krankenwagen und Polizei im Einsatz dürfen rote Ampeln überfahren,
wenn
sie das Blaulicht eingeschaltet haben.
Und
niemand nimmt ihnen diesen Regelbruch übel
-
es könnte ja sein, dass sie zu mir unterwegs sind …
In
diesem Fall gilt eine neue Regel:
Blaulicht
geht über Rotlicht.
In
der Geschichte vom Kranken, der seit 38 Jahren auf Heilung wartet,
werden
ebenfalls Regeln gebrochen und neue Regeln eingeführt.
Eine
alte Regel lautete:
Wer
gesund werden will, muss warten, bis das Wasser im Schwimmbecken sich
bewegt.
Wer
dann als erster im Becken ist, wird geheilt.
38
Jahre hat der Kranke auf seinen Moment gewartet.
Nie
ist dieser Moment gekommen, denn der Kranke war immer zu langsam.
Er
hatte keine Helfer wie andere, die von Freunden oder Angehörigen ins
Becken geworfen wurden, wenn der Zeitpunkt gekommen war.
Jesus
bietet dem Kranken die Heilung an.
Dazu
ist die Regel des Schwimmbeckens nicht nötig,
der
Kranke braucht nicht ins Wasser zu springen.
Allerdings
muss er eine Regel brechen, um geheilt zu werden:
Er
muss am Sabbat etwas tragen - sein Bett nämlich -, was
den Gläubigen verboten ist:
Das
dritte Gebot „Du sollst den Feiertag heiligen“ verbietet die
Arbeit am Feiertag.
II
Um
gesund zu werden, muss der Kranke eine Regel brechen.
Das
fällt ihm nicht schwer.
Es
würde auch uns nicht schwer fallen.
Wer
vor dieser Wahl steht, die weiß, wie sie sich entscheidet.
Da
muss man auch nicht eine Sekunde nachdenken,
und
das tut der Kranke auch nicht:
Er
steht auf, nimmt sein Krankenbett - und ist geheilt.
Man
kann nicht sagen, dass der Regelbruch ihn geheilt hat.
Es
war Jesus, der Sohn Gottes, der das tat.
Aber
offensichtlich spielt es eine Rolle, dass das Arbeitsverbot am Sabbat
gebrochen wird.
Warum
verlangt Jesus von dem Geheilten,
sein
Bett zu tragen und damit die Sabbatruhe zu verletzen?
Warum
missachtet der gläubige Jude, der Rabbi Jesus dieses Gebot?
Er
hätte den Kranken doch sicher auch ohne Gebotsübertretung heilen
können.
Lehnt
Jesus sich gegen das System auf, wie die Punks es taten?
Verstößt
er aus Prinzip gegen Regeln?
Oder
will er provozieren? Sucht er Streit mit den Autoritäten?
Eins
ist sicher:
Die
Geschichte wird nicht wegen der wunderbaren Heilung erzählt,
sondern
wegen der Regelverletzung.
Die
Nachfolgerinnen und Nachfolger Jesu haben sich diese Geschichte zum
Vorbild genommen.
Sie
waren störrische Leute, Neinsager, die z.B. den Kriegsdienst
verweigerten;
die
den Kaiser nicht anbeten wollten und keinen Eid ablegten;
die
Frauen und Sklaven den Männern gleich stellten.
Bei
ihren Regelverletzungen beriefen sie sich auf Jesus,
der
so tat, als gälten für ihn keine Regeln.
III
Auch
der Geheilte beruft sich auf Jesus,
als
er auf seinen Regelbruch angesprochen wird.
Gefragt,
warum er am Sabbat sein Bett trage, antwortet er:
Der
mich gesund gemacht hat, hat es mir aufgetragen.
Das
klingt fast ein wenig abergläubisch:
Nachdem
er sich 38 Jahre an die Regel des Schwimmbades gehalten hatte,
trägt
er jetzt sein Bett herum.
So,
als wäre das Herumtragen des Bettes die Gewähr dafür, dass er
gesund bleibt.
Es
scheint, als habe er die alte Regel durch eine neue ersetzt,
weil
er so an Regeln gewöhnt war.
Aber
irgendwann setzt er doch sein Bett ab und geht in den Tempel,
wie
das ein Gläubiger am Sabbat tut.
Dort
findet ihn Jesus.
Und
er tut etwas Überraschendes:
Er
ermahnt den Geheilten, den Regelbruch ja nicht zur Regel werden zu
lassen.
Krankheiten
entstehen oft durch das Übertreten von Regeln:
zu
viel Rauchen, zu viel Alkohol, zu viel fettes Essen, zu wenig
Bewegung, zu viel Stress können krank machen.
Die
dahinter stehenden Regeln, dass man Maß halten, sich bewegen, auf
sein Gewicht achten soll, hat jede verinnerlicht.
Das
heißt nicht, dass wir uns daran halten …
Zur
Zeit Jesu zählte man zu den Krankheitsursachen auch ein gestörtes
Verhältnis zu Gott.
Wer
mit Gott nicht im Reinen war, konnte davon krank werden.
Deshalb
rät Jesus dem Geheilten, sein Verhältnis zu Gott in Ordnung zu
halten;
sich
an die Regeln zu halten, die Gott dafür aufgestellt hat: die Gebote.
Jesus
ist also gar kein Rebell, der Regeln aus Prinzip bricht.
Er
ist kein Provokateur, der mit seinen Regelbrüchen Unfriede stiften
und Streit anzetteln will.
Er
ist ein richtiger Spießer, wie die Punks sagen würden.
Ein
Spießer, der den Geheilten ermahnt, ja nichts Unrechtes zu tun.
IV
Jesus
macht es dem Geheilten - und uns - nicht leicht.
Zuerst
stiftet er ihn zum Regelbruch an,
dann
ermahnt er ihn, sich ja an die Regeln zu halten.
Wie
soll der Geheilte, wie sollen wir daraus schlau werden?
Offenbar
gibt es manchmal gute Gründe, eine Regel zu brechen.
In
unserem Beispiel war es das Blaulicht, das die Rote Ampel aufhebt.
Ansonsten
aber soll man Regeln befolgen, denn dazu sind sie da.
Man
achte aber auf das Wörtchen soll.
Es
kommt auch in den Zehn Geboten vor:
„Du
sollst den Feiertag
heiligen“.
Juristen
sagen:
„Soll
heißt muss, wenn kann“.
Eine
Regel, die ich befolgen soll,
muss ich befolgen,
wenn ich dazu in der Lage bin.
In
der Regel bin ich dazu in der Lage.
Aber
manchmal gibt es eben Ausnahmen von der Regel, Ausnahmesituationen,
in
denen ich die Regel nicht befolgen kann.
Dann
gilt eine andere, höhere Regel.
Aber
wer entscheidet, wann eine Ausnahmesituation eingetreten ist?
Der
Geheilte beruft sich auf Jesus:
Der
hat ihm gesagt, dass jetzt eine andere Regel gilt.
Indem
er Jesus die Verantwortung für seinen Regelbruch zuschiebt,
liefert
er seinen Gegnern einen Grund, ihn zu verfolgen.
Er
liefert Jesus ans Messer.
Indem
er Jesus die Verantwortung für seinen Regelbruch zuschiebt,
sagt
er: der, der mich gesund gemacht hat, ist mächtiger und wichtiger
als das Gebot,
das
verbietet, am Sabbat zu arbeiten.
Dieses
Argument, dass eine Person über dem Gesetz steht
und
dass ihre Befehle einem die
Freiheit geben,
das
Gesetz zu übertreten,
ist
in der Geschichte ein sehr beliebtes Argument geworden.
Weil
es so bequem ist.
Mit
dem „Führerprinzip“ wurden in der NS-Zeit die schlimmsten
Verbrechen,
wurde
jeder nur denkbare Regelbruch möglich und erlaubt.
Aber
Jesus lässt das Führerprinzip nicht gelten.
Er
betont, dass die Gebote dazu da sind, befolgt zu werden:
„Soll
heißt muss, wenn kann“.
Jesus
setzt das Gebot nicht außer Kraft.
Er
zeigt
einen anderen Umgang mit den Geboten auf.
Dieser
andere Umgang mit den Geboten besteht darin,
dass
man den Vorschriften nicht sklavisch folgt.
Sondern
sich bewusst ist, dass es Situationen gibt,
an
denen etwas anderes wichtiger ist als das Gebot.
Dass
wir uns aber in solchen Situationen nicht auf eine höhere Instanz
berufen können.
Nicht
auf einen „Führer“, und auch nicht auf ein höheres Prinzip.
Wir
müssen unseren eigenen Kopf hinhalten.
Aber
wie sollen wir entscheiden, wann eine Regel gebrochen werden muss?
Woher
sollen wir wissen, dass es
jetzt sein muss?
V
Was
bringt Jesus dazu, den Kranken zu heilen?
Er
tut es aus Mitleid.
Als
Jesus erfährt, wie lange der Kranke schon auf seine Heilung wartet,
bietet er ihm seine Hilfe an.
Mitleid
ist ein Gefühl.
Es
entzieht sich allen Regeln.
Es
lässt sich nicht berechnen, nicht abwägen
und
man überlegt auch nicht lange.
Wenn
man Mitleid empfindet, dann handelt man,
weil
man vom Mitleid ergriffen und erfüllt wird.
Wer
Mitleid empfindet, macht das Leid einer anderen zu seiner Sache.
Übernimmt
Verantwortung.
Mitleid
ist kein flüchtiges Gefühl.
Mitleid
spannt ein und verpflichtet, wenn man sich ihm überlässt.
So
versorgt der barmherzige Samariter nicht nur die Wunden des Menschen,
der
unter die Räuber gefallen war.
Er
unterbricht seine Reise, macht
einen Umweg, um den Verletzten in eine Herberge zu bringen, wo er ihn
den ganzen Tag lang pflegt.
Er
sorgt sogar noch für seine weitere Pflege und stellt sicher,
dass
Hilfe geleistet wird, bis der Verletzte geheilt ist.
Wer
eine Regel aus Mitleid übertritt,
tut
das nicht aus Spaß, aus Protest oder in einem Akt der Rebellion.
Mitleid
ist zu ernst, als dass man damit spielen würde.
Man
denkt nicht an die Folgen, wenn man sich vom Mitleid leiten lässt,
aber
man muss die Konsequenzen tragen.
VI
Wer
eine Regel bricht, muss die Konsequenzen tragen.
Daran
denkt man nicht gern.
Wer
beim Regelbruch ertappt wurde,
versucht,
sich herauszureden oder die Schuld auf andere zu schieben.
Jesus
erwartet von seinen Nachfolgerinnen und Nachfolgern,
dass
sie bereit sind, die Konsequenzen zu tragen,
so
wie er die Folgen seines Mitleides konsequent bis ans Kreuz getragen
hat.
Darum
kann man niemandem vorschreiben, eine Regel zu brechen,
wie
man Mitleid niemandem vorschreiben kann.
Mitleid
lässt sich weder verordnen noch berechnen.
Es
ist ein Gefühl, das einen ergreift und nicht an die Konsequenzen
denken lässt.
Wer
vom Mitleid ergriffen wird, kann darauf vertrauen,
dass
sie die Folgen nicht allein tragen muss.
Der
Kranke heilte und Schuld vergab,
der
das Mitleid bis ans Kreuz trug
und
die Liebe auch am Kreuz noch durchhielt, der ist bei uns.
Sein
Mitleid mit uns, seine Liebe zu uns gehen so weit,
dass
er als Unschuldiger starb, damit wir leben können.
Das
macht uns frei und gibt uns Kraft, Mitleid zu empfinden.
Es
macht uns frei und gibt uns Kraft,
Verantwortung
zu übernehmen für andere und für unser Handeln
und
die Konsequenzen zu tragen.