Samstag, 11. November 2017

Kann man stärker sein als der Teufel?

Predigt am Drittletzten Sonntag des Kirchenjahres, 12. November 2017, über Lukas 11,14-23:

Jesus trieb einen Dämon aus, der war stumm.
Nachdem der Dämon ausgefahren war, redete der Stumme und die Menge staunte.
Einige von ihnen aber sagten:
- Mit Beelzebul, dem Obersten der Dämonen, treibt er die Dämonen aus.
Andere versuchten ihn, indem sie ein Zeichen vom Himmel von ihm forderten.
Jesus aber, der ihre Gedanken kannte, sprach zu ihnen:
- Jedes Königreich, das mit sich selbst uneins wird, entvölkert sich, und ein Haus stürzt auf das andere. Wenn sogar der Satan mit sich selbst uneins wird, wie kann sein Reich Bestand haben? Denn ihr behauptet ja, dass ich die Dämonen mit Beelzebul austreibe. Wenn ich aber die Dämonen mit Beelzebul austreibe, mit wem treiben eure Söhne sie aus? Darum werden sie eure Richter sein. Wenn ich aber die Dämonen mit dem Finger Gottes austreibe, so ist das Reich Gottes zu euch gekommen!
- Wenn der Starke bewaffnet seinen Hof bewacht, ist sein Besitz in Frieden. Sobald aber ein Stärkerer als er ihn überfällt und besiegt, raubt er seine Rüstung, auf die er sich verließ, und verteilt seine Beute. Wer nicht mit mir ist, ist gegen mich. Wer nicht mit mir sammelt, zerstreut.
(Eigene Übersetzung)

Die Vorüberlegungen zu dieser Predigt finden sich auf mitredner.wordpress.com


Liebe Schwestern und Brüder,

auf der Wartburg kann man das Arbeitszimmer Martin Luthers besichtigen. Dort übersetzte er in sehr kurzer Zeit das Neue Testament aus dem Griechischen ins Deutsche. In diesem Arbeitszimmer befindet sich auch der berühmte Fleck an der Wand. Der Fleck von dem Tintenfass, das Luther nach dem Teufel geworfen haben soll. Luther hatte auf der Wartburg mit Dämonen zu ringen - äußeren und inneren.

Aber eine Frage lässt diese Anekdote doch zurück: Kann man den Teufel tatsächlich mit einem energisch geworfenen Tintenfass vertreiben?
Sieht man sich die Teufelsdarstellungen aus Luthers Zeit an, macht der Teufel darauf nicht den Eindruck, als ließe er sich von einem Tintenfass einschüchtern.
Und auch wir verbinden wohl mit dem Teufel eher die Vorstellung einer dunklen Macht, die sehr ungemütlich werden kann, wenn man sie reizt, als mit einem Teufelchen, das man erschrecken und mit Tinte verjagen kann.

I. Der Teufel der Bibel hat sich selbständig gemacht. Ihm ist es ergangen wie vielen anderen Gestalten der Bibel auch, z.B. den Engeln: Die menschliche Phantasie hat ihn immer weiter ausgeschmückt, bis er zu der schrecklichen Fratze wurde, als die wir ihn kennen.

Die Bibel selbst verzichtet darauf, dem Teufel Hörner, Bocksbeine oder Höllenfeuer anzudichten. In der Bibel wird der Teufel eher als Buchhalter dargestellt, als kleinlicher Beamter, der den Menschen bei einem Fehler ertappen will. Dabei scheut er nicht vor unfairen Mitteln zurück, provoziert und überredet, das Verbotene zu tun - nur, um den Menschen hinterher bei Gott anschwärzen zu können.

Man braucht sich den Teufel also nicht als bocksbeinigen, gehörnten Unhold vorzustellen. Eher ist er ein grauer Herr mit gezücktem Notizblock, immer bereit, jeden kleinsten Fehler zu notieren.
Als solcher hockt er nicht in der Hölle oder auf dem Speicher, wie einst die Spitzel von Horch & Guck.
Wir tragen ihn in uns, den grauen Herrn.
Wir tragen in uns das schlechte Gewissen, wenn wir mal wieder ein Stück Schokolade naschten, den Spaziergang oder das Jogging ausfallen ließen, die dringende Arbeit verschoben.
Wir tragen in uns den Neid auf das, was eine andere hat.
Die Empörung darüber, dass manche etwas bekommen, ohne dafür arbeiten zu müssen.
Das ist nämlich das andere Gesicht dieses grauen Herrn:
Wer so kleinlich und pingelig jeden einzelnen Fehltritt registriert, kann auch anderen gegenüber nicht großzügig sein.

II. Was - oder wer - reitet uns da bloß?
Wo kommt das her, dass man so peinlich auf jedes Gramm Körpergewicht achtet? Dass man Schwächen nicht eingestehen, Fehler nicht zugeben kann? Wie haben wir uns diesen grauen Herren nur eingefangen?

In der Geschichte von der Heilung des Stummen ist von Dämonen die Rede. Der Stumme ist von einem Dämon besessen. Er sitzt ihm in der Kehle, so dass er kein Wort herausbringt.
Wir müssen uns dabei kein haariges, kleines, schwarzes Teufelchen vorstellen - obwohl das eine gute Erklärung für das Kratzen im Hals wäre, das man manchmal empfindet.
Es gibt eine einfachere Erklärung für das Verstummen:
Ein Kind, das von einem Erwachsenen niedergebrüllt wird - verstummt.
Ein Mensch, dem immer wieder gesagt wird, er sei zu dumm, zu schlecht, nicht recht - verstummt.
Schließlich kennt manche auch die innere Stimme, die einer einredet, man habe nichts zu sagen, man werde sich blamieren, man sei nicht gut genug - die innere Stimme, die eine verstummen lässt. Da ist er wieder, der graue Herr.

Ein Dämon ist also kein haariges Teufelchen, sondern etwas, das einen lenkt und leitet. Das einem sagt, was gut ist und was schlecht - aber es ist nicht das Gewissen. Das einem sagt, ob man selbst gut ist oder schlecht.
Die alten Griechen, von denen wir das Wort „Dämon“ haben, bezeichneten damit sowohl das Unbegreifliche, Ver-rückte in einem Menschen als auch das Besondere, Außergewöhnliche. Oft liegt beides eng beieinander. Erst im Neuen Testament wurde der Dämon das, was den Menschen zum Verhängnis wird, was ihn negativ bestimmt.

III. Was passiert nun, als Jesus den Dämon des Stummen austreibt? Der Stumme kann wieder sprechen. Das, was verhinderte, dass er etwas sagen konnte - der Kloß im Hals, die Einschüchterung, das Gefühl der Wertlosigkeit - ist fort.
Wieder ist da kein haariges Teufelchen dem Stummen aus dem Hals gekrabbelt.
Vielmehr hat sich in ihm etwas verändert:
Der Buchhalter, der Erbsenzähler: der graue Herr ist verschwunden.
An seine Stelle ist jemand anderes getreten:
Der gnädige Gott.
Der Stumme wagt zu sprechen, weil Gott ihn akzeptiert, wie er ist, in seiner Stummheit; seiner Unfähigkeit, zu sprechen; seinem Anderssein; seinem Verrückt-Sein.
An die Stelle des grauen Herren, der ihm einflüsterte:
- Du bist nicht gut genug. Du kannst das nicht. Du bist schlecht. Du bist falsch
hat sich Gott gesetzt und gesagt:
- Du bist gut genug.

Aber die Leute, die Zuschauer dieser Dämonenaustreibung, können sich nicht vorstellen, dass das so leicht sein sollte.
Das, was andere über einen denken, von einem erwarten, die ungeschriebenen, aber eisernen Regeln des Miteinanders lassen sich doch nicht so einfach wegfegen! Den Teufel in Gestalt des grauen Herren kann man nur mit dem Oberteufel austreiben. Das bedeutet: Die Regeln müssen noch härter, die Einschränkungen noch größer sein als vorher. Für die kleine Sünde der genaschten Schokolade muss man eine Stunde joggen - mindestens! Alles andere wäre ungerecht.

Wie die Zuschauer damals suchen auch wir heute den Teufel im Detail, also in etwas Äußerlichem - im Stückchen Schokolade oder der Praline, oder im Anderen, Fremdartigen: im Ausländer.

Diese fiesen, kleinen Kalorien sind schuld, dass man dick wird.
Die Ausländer sind schuld, dass die Welt nicht mehr so ist, wie sie einmal war.
Der graue Herr in uns führt Buch über jeden Bissen, den wir essen, beobachtet genau, was der andere hat und bekommt, und vergleicht mit dem, was wir haben - selbst, wenn es mehr als genug ist.

IV. Jesus vertreibt die Stummheit durch Barmherzigkeit.
An die Stelle des grauen Herren - der Maßstäbe, die man ungeprüft übernimmt und an sich selbst anlegt - setzt er den gnädigen Gott, dem wir gut genug sind so, wie wir sind.

Der Teufel, der Luther auf der Wartburg heimsuchte, waren genau diese Regeln und Maßstäbe seiner Zeit. Regeln und Maßstäbe, mit denen er aufgewachsen war, die er übernommen und verinnerlicht hatte. Zum Beispiel die Unauflösbarkeit des Mönchsgelübdes, das er abgelegt hatte, und sein Inhalt: Ein Leben in Keuschheit, Armut und Gehorsam.
Gehorsam war Luther auch der katholischen Kirche schuldig. Wie sollte er ohne sie, ohne das Heil, das allein die Kirche vermittelte, selig werden?
Luther hatte diese und andere Regeln gebrochen.
Er war vogelfrei und - was für ihn weit schlimmer war -: er war nach den Maßstäben seiner Kirche verdammt, exkommuniziert, eine verlorene Seele, dem Teufel verfallen.
Kein Wunder, dass ihm der Teufel auf der Wartburg erscheint.

Kein Wunder auch, dass er den Teufel mit einem Tintenfass vertreiben kann.
Luther hatte erkannt, dass die Regeln, die ihn banden, menschliche Setzungen waren. Irgendwann hatte sie irgendjemand aufgeschrieben und für verbindlich erklärt.
Luther hatte auch erkannt, dass diese Regeln nicht unverrückbar waren. Wenn Jesus sogar die 10 Gebote außer Kraft setzen konnte, um barmherzig zu sein, wieviel mehr dann Regeln, die sich Menschen erdacht hatten!
Luther hatte gelernt, was das heißt (Hosea 6,6/ Matthäus 9,13):
„Ich habe Wohlgefallen an Barmherzigkeit und nicht am Opfer“.

Trotzdem fiel es Luther nicht leicht, die Regeln und Maßstäbe, denen er bisher gefolgt war und die er für richtig erachtet hatte, einfach so über Bord zu werfen. Deshalb übersetzte er in dieser Zeit auf der Wartburg das Neue Testament. Für seinen neuen Weg suchte er nach einem festen, verlässlichen Fundament.

V. Ein Fleck an der Wand zeugt davon, wie Luther seine Dämonen vertrieben hat. Alle ist er allerdings nicht losgeworden. Das gelingt wohl niemandem. Dazu sind die Regeln und Konventionen, die wir quasi mit der Muttermilch aufnehmen, zu stark; dazu ist der Zwang der Gruppe, des Dorfes, der Gesellschaft zu groß.
Einen ganz besonders schlimmen Dämon hat Luther behalten, das war sein Antisemitismus. Er, der die Barmherzigkeit Gottes für sich entdeckte; er, der den grauen Herren hinauswerfen und den gnädigen Gott bei sich einziehen lassen konnte - ausgerechnet ihm gelang es nicht, diese Barmherzigkeit auch seinen jüdischen Mitbürgern entgegenzubringen.

Die grauen Herren schleichen sich immer wieder ein.
Sie kommen, wenn wir Gottes Barmherzigkeit vergessen, sie für uns oder andere nicht gelten lassen. Sie legen ihre bürokratischen Maßstäbe an uns an, wenn wir nicht glauben können, dass Gott uns so liebt, wie wir sind. Und wir messen andere mit diesen papiernen Maßstäben, wenn wir ihnen die Barmherzigkeit verweigern, die wir für uns in Anspruch nehmen.

Gottes Barmherzigkeit vertreibt den Teufel und besiegt die Dämonen.
Sie muss immer wieder aufs Neue gesucht, gefunden und erfahren werden.