Donnerstag, 21. Dezember 2017

Dazugehören

Predigt am 3. Advent, 17. Dezember 2017, über Römer 15,4-13:

Alles, was in der Schrift steht,
wurde zu unserer Unterweisung geschrieben,
damit wir Hoffnung haben durch Geduld und den Trost der Schrift.
Gott, der Geduld und Trost schenkt, gebe euch,
dass ihr untereinander nach dem Vorbild Christi Jesu eines Sinnes seid,
damit ihr einmütig und einstimmig Gott loben könnt,
den Vater unseres Herrn Jesus Christus.
Darum gewährt euch gegenseitig Gemeinschaft,
wie der Messias euch mit ihm Gemeinschaft gewährte, zu Gottes Lob.

Ich bekenne:
Christus wurde ein Diener der jüdischen Gemeinde
um Gottes Wahrheit willen,
um die Verheißungen an die Väter zu bekräftigen.
Und er wurde ein Diener der Gojim, der Nichtjuden,
um der Barmherzigkeit willen,
um Gottes Güte zu preisen, wie geschrieben steht
(Psalm 18,50; 2.Samuel 22,50):
„Deshalb werde ich dich unter den Gojim bekennen,
deinem Namen werde ich Lobgesänge anstimmen.“

Weiter heißt es (5.Mose 32,43):
„Freut euch, ihr Gojim, mit Gottes Volk!“

Und weiter (Psalm 117,1):
„Preist den Herrn, alle Gojim,
und alle Völker sollen ihn loben!“

Weiter heißt es bei Jesaja (11,10):
„Es wird kommen die Wurzel Jesse;
er wird aufstehen, um über die Gojim zu herrschen;
auf ihn werden die Gojim hoffen.“

Gott, der Hoffnung schenkt,
erfülle euch durch den Glauben mit aller Freude und allem Frieden,
damit ihr zunehmt an Hoffnung durch die Kraft des Heiligen Geistes.
(Eigene Übersetzung)

Liebe Schwestern und Brüder,

gehöre ich dazu?
Das ist eine Frage, die man sich von Kindesbeinen an stellt.
Nicht jede und jeder stellt sich diese Frage.
Vielen ist es selbstverständlich, dazuzugehören:
Zur Dorfgemeinschaft.
Zur Kirchgemeinde.
Zum Verein.
Zur Mannschaft.
Zum Volk.
Zu den Guten.
Zu denen, die Recht haben.

Oft sind es die Wortführer und Anführer,
für die es keine Frage ist, ob sie dazugehören.
Sie entscheiden darüber, ob eine andere dazugehören darf
und was man erfüllen muss, um dazuzugehören.

Gehöre ich dazu?
Manche beantworten diese Frage mit Nein,
weil sie merken, dass man sie ausschließt.
Weil sie „Zugezogene“ sind, die man duldet,
vielleicht sogar herzlich willkommen heißt.
Denen man aber zu verstehen gibt,
dass sie nie „eine von uns“ sein werden.

Dann gibt es noch einige Wenige,
die wollen gar nicht dazugehören.
Die wollen anders sein und sind stolz darauf,
die Punks zum Beispiel.
Ihr Stolz hat ihre Enttäuschung abgelöst und überwunden,
dass sie nicht dazugehören durften,
dass man sie nicht so akzeptierte, wie sie waren.

Und schließlich gibt es noch eine vierte Gruppe:
Sie sind der Meinung, sie sollten diejenigen sein,
die bestimmen dürfen, wer dazugehört.
Sie müssen aber feststellen,
dass sie von den Politikern und den Medien nicht gefragt werden.
Es sind die, die von sich selbst sagen:
„Wir sind das Volk!“,
Es sind die, die nicht wollen, dass Menschen zu uns kommen,
die anders sind als sie.

I
Gehöre ich dazu?
Wir Menschen sind soziale Wesen.
Wir leben in Gemeinschaften.
Es ist für uns lebenswichtig, dazuzugehören.
Jede und jeder braucht einen Kreis von Menschen,
zu denen sie oder er gehört:
Eine Familie.
Einen Freundeskreis.
Eine Gemeinschaft.
Eine Gemeinde.

Als Christen ist es für unseren Glauben entscheidend,
dass wir zu Gottes Volk gehören.
Denn nur, wenn wir tatsächlich Gottes Volk sind,
dürfen wir die Verheißungen der Bibel auch auf uns beziehen;
dürfen wir uns angeredet fühlen
von den Worten der Psalmen und der Propheten.

Die Christenheit hat die Frage, ob wir dazugehören,
in den vergangenen 2.000 Jahren
sehr selbstbewusst mit „Ja!“ beantwortet.
Sie hat sich als Erbin der Verheißungen Gottes
an sein Volk Israel verstanden,
war sogar der Meinung,
diese Verheißungen Gottes wären
von den Menschen jüdischen Glaubens an die Christen übergegangen.
Deshalb wurden Jüdinnen und Juden vom Mittelalter bis in die Neuzeit gerade von Christen so grausam, blutig und erbarmungslos verfolgt.
Erst der alles Vorstellbare übersteigende Schrecken des Holocaust
hat Christen zum Nachdenken über unser Verhältnis
zu den Menschen jüdischen Glaubens gebracht,
über unsere Versäumnisse und unsere Schuld ihnen gegenüber.
Und über die Schriften, die wir von ihnen übernommen
und die wir mit ihnen gemeinsam haben.

Dieses Nachdenken hat die Synode unserer Landeskirche
im November vergangenen Jahres zu dem Beschluss geführt,
sich zu distanzieren von allen Versuchen,
die Verwerfung Israels theologisch zu begründen,
und sich zu distanzieren von allen Versuchen,
Menschen jüdischen Glaubens zu einer Konversion zu bewegen.

Mit anderen Worten:
Die Synode hat anerkannt, dass Menschen jüdischen Glaubens
nach wie vor Gottes erwähltes Volk sind und bleiben.
Sie brauchen nicht, wie wir, den Glauben an Christus,
um zu Gottes Volk zu gehören.
Sie gehörten schon vor uns dazu, allein durch Abstammung und Geburt.
Und wir gehören nur dazu, solange sie dazugehören.
Denn wenn Gottes Bund mit seinem Volk nicht mehr gilt,
dann können wir Nichtjuden
keine der Verheißungen der Bibel mehr auf uns beziehen.

II
Jesus war Jude.
Seine Nachfolgerinnen und Nachfolger waren Juden.
Auch Paulus war Jude.
Als die ersten Gemeinden entstanden,
die Jesus von Nazareth als den Messias annahmen,
kam niemand auf die Idee,
die gute Nachricht vom Messias Jesus anderen Menschen
als denen jüdischen Glaubens zu erzählen.
Erst Paulus entdeckte, dass durch Jesus auch die Gojim, die Nichtjuden,
eine Chance erhielten, zu Gottes Volk zu gehören.
Deshalb erzählte er auch Menschen von Jesus,
die sich für den jüdischen Glauben interessierten,
aber nicht jüdischer Abstammung waren.

Man nannte diese Leute Phoboumenoi, Gottesfürchtige.
Sie hielten sich zur Synagoge, nahmen regelmäßig am Gottesdienst teil,
aber gehörten nicht dazu, weil sie keine jüdische Mutter hatten.
Manche scheuten auch den Schritt,
den der Übertritt zum jüdischen Glauben bedeutete:
Das Halten der Gebote,
was sich zum Beispiel im koscheren Essen zeigte,
und bei den Männern die Beschneidung.

Am Anfang gab es heftige Auseinandersetzungen darüber,
ob der Glaube an Jesus, den Messias, auch Gojim offen stand.
Man stritt darüber, wie Menschen, die keine Juden waren,
zum Volk Gottes gehören konnten,
und ob die, die zum Glauben gekommen waren,
nun alle Gebote halten mussten
- auch die Speisegbote und die Beschneidung.
Paulus vertrat damals eine Minderheitsmeinung
mit seinem „beschneidungsfreien Evangelium“;
er verkündigte, dass jede zu Gottes Volk gehören konnte, die glaubte;
dass man sich nicht beschneiden lassen
und keine Rücksicht auf Speisevorschriften nehmen müsse,
weil der Glauben allein alle Gebote erfüllt.

Paulus berief sich dabei auf die Schrift,
wie er es auch in unserem heutigen Abschnitt tut.
Der Glaube, den Paulus vertritt, ist also Auslegungssache:
Aus seinem Bibelverständnis, seiner Schriftauslegung gewonnen.

Jeder Glaube ist Auslegungssache, auch unserer.
Wir lesen in der Bibel und legen sie in unsere Zeit, in unsere Situation aus.
Darum verändert sich der Glaube ständig.
Darum konnte Martin Luther vor 500 Jahren die bahnbrechende Entdeckung von der Rechtfertigung allein aus Glauben machen.
Und darum können wir heute sagen,
dass Luther mit seinen judenfeidlichen Schriften
den Menschen jüdischen Glaubens seiner Zeit
schweres Unrecht zugefügt hat,
dass er ihnen gegenüber seine reformatorische Entdeckung
und seine eigenen Glaubensmaßstäbe verraten hat.

Darum können wir heute gleichgeschlechtliche Partnerschaften segnen,
was für Paulus noch undenkbar gewesen wäre,
und uns dafür entscheiden,
Menschen jüdischen Glaubens nicht mehr dadurch zu bedrängen,
dass wir ihnen zu verstehen geben, ihr Glaube sei nicht richtig.

III
Ja, aber wenn der Glaube ständigen Veränderungen ausgesetzt ist,
wird dann nicht alles beliebig?
Kann dann nicht jeder glauben, was er will?

Die Grundlage unseres Glaubens ist nicht die Schrift,
sondern Jesus, das eine Wort Gottes,
das für uns über und hinter allen Worten der Schrift steht.
An seiner Barmherzigkeit, seiner Liebe messen wir unseren Glauben.
Da, wo unser Glaube Menschen ausschließt,
ihnen einen Mangel andichtet, Unterschiede macht,
da ist er kein Glaube, wie Jesus ihn uns vorgelebt hat.
Es ist mir ein Rätsel, wie in der Zeit des Nationalsozialismus
Pfarrer und Gemeinden verdrängen konnten,
dass Jesus, ihr Herr, ein Jude war wie die,
die an ihren Kirchen vorbei zur Ermordung geführt wurden.

Auch für Paulus ist Jesus der Schlüssel zur Schrift,
Er bezeichnet ihn als die Bestätigung der Verheißungen Gottes.
Jesus hat also nicht etwas Neues gebracht,
nicht den Gott Israels abgelöst
und damit das Judentum und das Alte Testament hinter sich gelassen.
Er hat es vielmehr bekräftigt:
Israel ist Gottes auserwähltes Volk,
und was Gott verheißen hat,
das beginnt, durch Jesus Wirklichkeit zu werden.

Für Paulus werden die Verheißungen Gottes dadurch wahr,
dass auch die Gojim zum Glauben kommen.
Das ist für ihn ein unglaubliches Wunder,
ein Grund, Gott zu danken und zu loben.
Darum zitiert er vier Stellen aus jedem Teil der hebräischen Bibel,
aus der Tora, den Psalmen und den Propheten.
Diese Stellen sagen voraus, was einst geschehen wird:
Einst werden auch die Gojim an den Gott Israels glauben.
Paulus erkennt, dass diese Verheißungen Wirklichkeit werden.
Wie Jesus sieht er das Reich Gottes nahe herbeigekommen.

IV
Vor 2.000 Jahren verkündigte Jesus:
„Das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen“.
Fast ebenso lange sieht Paulus die Verheißungen der Schrift erfüllt.
Aber seitdem ist nichts passiert.
Jesus ist nicht wiedergekommen.
Die Welt hat sich nicht verändert.
Sie ist noch genauso, wie sie zur Zeit Jesu und zu Paulus‘ Zeit war -
sie ist womöglich noch schlimmer und erbarmungsloser geworden,
auf jeden Fall viel schmutziger und viel bedrohter.

Aber vielleicht irren wir uns,
wenn wir eine katastrophale Veränderung erwarten,
eine Veränderung mit Pauken und Trompeten.
Jesus hat nicht gesagt:
„Das Reich Gottes ist da!“, sondern:
„Es ist nahe herbeigekommen“.
Als Christinnen und Christen leben wir in der Erwartung,
dass etwas Neues im Kommen ist, wir leben im Advent.
Dieses Kommende Neue verändert uns und unsere Welt schon jetzt.
Wenn Paulus schreibt, dass Jesus um der Barmherzigkeit willen
„ein Diener der Gojim wurde“,
dann verwirklicht sich dadurch,
was auch die Evangelien an unzähligen Stellen berichten:
Dass Jesus keinen Unterschied zwischen den Menschen macht,
dass er zu jeder und jedem geht,
auch zu denen, deren Ruf ruiniert ist.
Jesus geht gerade zu denen,
die nicht dazugehören,
mit denen niemand etwas zu tun haben will:
Zu Prostituierten und Kollaborateuren;
zu Menschen mit ekligen, ansteckenden Hautkrankheiten;
zu Verrückten, Kranken, Besessenen;
zu Menschen, die aus der Gemeinde und der Gemeinschaft geflogen sind.

Paulus möchte mit unserem Predigttext erreichen,
dass wir Dankbarkeit dafür empfinden,
dass auch wir dazugehören dürfen;
dass auch wir Menschen sind, zu denen Jesus gehen würde.
Wir sind nicht an Israels Stelle getreten,
sondern Christus hat uns eingeladen,
mit Gottes Volk Israel gemeinsam an einem Tisch zu sitzen.
Wir dürfen dazugehören, auch wenn wir eigentlich nicht dazugehören.
Gott macht da keinen Unterschied.
Und deshalb sollen auch wir keinen Unterschied machen:
„gewährt euch gegenseitig Gemeinschaft,
wie der Messias euch mit ihm Gemeinschaft gewährte“.

V
Darum feiern wir Advent,
und darum gehört dieser so wenig weihnachtlich wirkende Text
in die Adventszeit:
Advent, auf Lateinisch: Ankunft, erinnert uns daran,
dass etwas Neues im Kommen ist.
Und dass dieses Kommende Neue dann anbricht,
wenn wir aufhören, Unterschiede zu machen
zwischen Einheimischen und Fremden,
zwischen Hiesigen und Zugezogenen,
zwischen Drinnen und Draußen,
Gut und Schlecht, Weiß und Schwarz, Deutschen und Ausländern.

Das Kennzeichen der Gemeinde ist,
dass sie jeder und jedem Gemeinschaft gewährt,
wer sie oder er auch sei,
woher sie oder er auch kommt.

Nicht, weil jemand nett ist,
weil ich jemanden mag,
weil jemand etwas für die Gemeinde tut,
oder weil jemand Geld für die Kirche gibt.

Sondern weil auch uns Gemeinschaft gewährt wurde,
und weil wir dafür dankbar sind.

Amen.

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N.B. Mit dieser Predigt habe ich mich im Rahmen einer Benehmensherstellung den Kirchengemeinden Dillstädt, Kühndorf und Rohr vorgestellt. 
Deshalb veröffentliche ich sie erst nachträglich.