Samstag, 23. Dezember 2017

Ich sehe dich mit Freuden an

Predigt am Heiligen Abend, 24.12.2017, über Jesaja 9,1-6:

Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht,
und über denen, die da wohnen im finstern Lande, scheint es hell.
Du weckst lauten Jubel, du machst groß die Freude.
Vor dir wird man sich freuen, wie man sich freut in der Ernte,
wie man fröhlich ist, wenn man Beute austeilt.
Denn du hast ihr drückendes Joch, die Jochstange auf ihrer Schulter
und den Stecken ihres Treibers zerbrochen wie am Tage Midians.
Denn jeder Stiefel, der mit Gedröhn dahergeht,
und jeder Mantel, durch Blut geschleift,
wird verbrannt und vom Feuer verzehrt.
Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben,
und die Herrschaft ruht auf seiner Schulter;
und er heißt Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst;
auf dass seine Herrschaft groß werde
und des Friedens kein Ende auf dem Thron Davids und in seinem Königreich,
dass er's stärke und stütze durch Recht und Gerechtigkeit
von nun an bis in Ewigkeit.
Solches wird tun der Eifer des Herrn Zebaoth.
(Übersetzung: Luther 1984)

Liebe Schwestern und Brüder,

es ist schon ein paar Jahre her - sieben, um genau zu sein -,
dass Thilo Sarazzin mit seinem Buch
„Deutschland schafft sich ab“ für große Aufregung sorgte.
Er vertrat in diesem Buch die ziemlich altbackene Meinung,
dass die Jugend von heute die alten Werke und Werte nicht mehr kenne
und dadurch die deutsche Kultur über kurz oder lang verschwinden würde.
Er machte das am Beispiel des wohl bekanntesten Goethe-Gedichtes fest,
„Wanderers Nachtruh“:
Über allen Gipfeln ist Ruh
über allen Wipfeln spürst du
kaum einen Hauch;
die Vöglein schweigen im Walde.
Warte nur, balde ruhest du auch.
Dieses Gedicht ist so bekannt, weil es so schön kurz und leicht zu merken ist.
Wenn man es auswendig lernt, kann man sagen:
„Ich kann auch was von Goethe!“
und wird damit sofort zum Kulturträger und guten Deutschen.
Für uns ist es auch deshalb besonders,
weil Goethe es quasi um die Ecke geschrieben hat,
an die Wand eines Jagdhäuschens auf dem Kickelhahn.

Aber unter dem Titel „Wanderers Nachtruh“ gibt es noch ein zweites Gedicht,
das Goethe vor dem Gedicht auf dem Kickelhahn geschrieben hat
und das noch schöner ist als „Über allen Gipfeln ist Ruh“,
weil es vom Frieden handelt.
Es geht so:
Der du von dem Himmel bist
alles Leid und Schmerzen stillest,
den, der doppelt elend ist,
doppelt mit Erquickung füllest,
ach, ich bin des Treibens müde!
Was soll all der Schmerz und Lust?
Süßer Friede,
komm, ach komm in meine Brust!
Den Anfang dieses Gedichtes hat Goethe übrigens von Zinzendorf geklaut:
„Der du in dem Himmel bist“ ist die erste Zeile
seines Vaterunser-Liedes aus dem Gesangbuch der Brüdergemeine.

I. Wenn das Kennen, besonders das Auswendigkönnen von Gedichten
ein Zeichen von Kultur, gerade unserer deutschen Kultur sein soll,
warum wird dann ausgerechnet Goethe immer als „deutscher Dichter“ angeführt?
Es gibt ja doch jede Menge andere Dichterinnen und Dichter deutscher Sprache,
angefangen bei Walter von der Vogelweide
hin zu Paul Celan, Else Lasker-Schüler und Hilde Domin,
die man auswendig lernen und damit seine Bildung zeigen kann.
Und auch Jesaja ist ein Dichter gewesen -
wir haben sein wunderschönes Gedicht vorhin gehört.
Zugegeben, Jesaja war nicht Deutscher, sondern Israeli.
Aber Luther hat sein Gedicht so meisterlich ins Deutsche übertragen,
dass man es gut neben die Gedichte von Schiller oder Goethe stellen kann.

Wie Goethes Gedicht „Der du von dem Himmel bist“
spricht auch Jesajas Gedicht vom Frieden.
Anders als dem Gedicht Goethes geht es Jesaja nicht um inneren Frieden,
den Seelenfrieden.
Der Friede, den Jesaja besingt, ist der, den auch wir zuerst meinen,
wenn wir von Frieden sprechen:
Das Ende des Krieges.
Das Ende von Gewalt, Zerstörung, Vertreibung, Hass und Blutvergießen.
Und zwar ein solches Ende,
dass Friede nicht die kurze Phase zwischen zwei Kriegen ist,
sondern dass der Krieg selbst vernichtet wird.
Oder, wie Jesaja es an anderer Stelle sagt,
dass die Menschen „nicht mehr lernen, Krieg zu führen“ (Jesaja 2,4).
Denn die Knobelbecher, mit denen die Soldaten marschieren,
und ihre blutbespritzten Mäntel werden verbrannt.
Sie stehen für all das Kriegsgerät,
das wir erfunden haben, um einander zu töten
und das, was Menschen aufgebaut haben, zu zerstören.
Es wird vernichtet.
Schwerter werden zu Pflugscharen
und Spieße zu Winzermessern umgeschmiedet (Jesaja 2,4).
Es setzt nicht mehr der Stärkste seinen Willen durch.
Nicht mehr der, der die geringsten Skrupel
oder die dickste Keule hat,
sondern Recht und Gerechtigkeit setzen sich durch.
Recht und Gerechtigkeit machen keinen Unterschied;
niemand wird bevorzugt, und niemand benachteiligt.
Darum ist keine Gewalt mehr nötig,
denn jede kommt zu ihrem Recht;
jeder bekommt, was ihm zusteht und was er braucht.

II. Jesaja hat ein Friedensgedicht geschrieben,
das man sogar singen kann wie unsere Weihnachtslieder.
Georg Friedrich Händel hat es in seinem „Messias“ vertont.

Aber ein Gedicht, ein Lied ist nicht „wahr“ in dem Sinne,
dass es von etwas Wirklichem berichtet.
Der Wunsch nach Frieden, den Jesaja in Worte fasst,
hat sich nie verwirklicht.
Bis heute knallen Stiefel aufs Pflaster;
noch heute weigert sich die Bundesregierung,
dem Verbot von Atomwaffen beizutreten,
weil die Androhung von Gewalt und totaler Vernichtung,
die sogenannte „Abschreckung“,
ein wesentlicher Teil unserer Sicherheitspolitik ist.

Das Gedicht, das Lied ist trotzdem wahr.
Denn es singt von einer Sehnsucht, die wir alle kennen
und die wir wohl alle teilen.
Wie oft findet man seine Empfindungen,
seine Freude, seinen Kummer,
seine Angst oder seine Verzweiflung
in Gedichten und Liedern ausgedrückt.
Sie verleihen unseren Empfindungen die Worte,
die uns in diesem Moment fehlen.
Wenn wir sie nachsprechen oder mitsingen,
sprechen und singen wir uns von der Seele,
was uns belastet oder erfüllt.

III. Aber was kann ein Gedicht, kann ein Lied gegen die Gewalt ausrichten?
Ein Gedicht wie „Wanderers Nachtruh“ lässt sich nicht brüllen
wir der Slogan „Wir sind das Volk!“;
damit lässt sich niemand beeindrucken oder gar einschüchtern,
wie es Neonazis tun, die „Ausländer raus!“ skandieren
und in Springerstiefeln und militärischer Kleidung auftreten.
Die Worte Jesajas nimmt niemand ernst,
der auf körperliche Stärke,
auf die Macht der Waffen und der Abschreckung vertraut.

Gewalt ist oft das erste, was einem einfällt,
wenn man selbst Gewalt erlebt:
wenn man sich in der Klemme fühlt,
wenn einem jemand weh tut, gemein ist oder gemeine Dinge sagt.
Schon im Kindergarten wird gehauen, geschubst und gestoßen.
Noch immer „rutscht“ manchem Vater, mancher Mutter die Hand aus,
wie man so fein die Ohrfeige oder schlimmeres umschreibt.
Neben der körperlichen Gewalt, die weh tut und erniedrigt,
gibt es noch die, die man nicht sieht und die meist noch schlimmer ist:
Die seelische Gewalt, das Kleinmachen und Schlechtmachen;
das Mobbing, das Lästern und die üble Nachrede;
ein „Das lernst du nie!“ oder „Du bist aber auch zu nichts zu gebrauchen!“

Gewalt ist oft das erste, was einem einfällt.
Aber sie ist nicht das einzige.
Wenn man erkannt hat, dass man auf Gewalt oft automatisch mit Gewalt reagiert,
sieht man, dass es auch andere Möglichkeiten gibt, auf Gewalt zu antworten:
- man geht weg;
- man spricht an, dass der andere einen verletzte;
- man holt sich Beistand.

Gewalt ist oft das erste, was einem einfällt.
Aber wir können auch ganz anders sein:
mitfühlend, zärtlich und liebevoll.
Wir können Gedichte schreiben, fast so schön wie Goethe,
oder uns über die Worte eines Gedichtes oder Liedes freuen,
über die Schönheit einer Blüte, eines Dinges, einer Landschaft.

Eine Freude, die man auch empfindet,
wenn man ein kleines Kind ansieht.
Ein Baby weckt die besten Eigenschaft in einem Menschen.
Man kann nicht anders, man muss es anlächeln.
Man schmilzt beim Anblick eines Babys dahin,
wird ganz vorsichtig, sanft, liebevoll und behutsam.

IV. Darum kommt Gott als Kind zur Welt.
Darum singt Jesajas Gedicht davon,
dass der Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater und Friedefürst ein Kind ist:
Weil ein Kind uns tatsächlich friedlich macht;
einem Baby gegenüber sind wir unfähig zur Gewalt.

Und Jesus, der für uns dieses wunderbare Kind ist,
von dem der Prophet Jesaja erzählt,
hat diese Gewaltlosigkeit gelebt:
Er wehrte sich nicht.
Er vergalt nicht Gleiches mit Gleichem.
Er setzte der Gewalt die Liebe entgegen.

Damit konnte er nicht gewinnen.
Denn die Gewalt ist immer stärker als alles Schöne, Lebendige, Kleine und Zarte.
Es braucht nur eine winzige Bewegung der Hand,
um eine Blüte abzureißen,
einen Käfer zu zerdrücken
oder ein Buch zu verbrennen.

Trotzdem halten wir an der Liebe fest.
Trotzdem glauben wir, dass Gottes Liebe stärker ist als die Gewalt,
weil Jesus, die Mensch gewordene Liebe Gottes,
auferstanden ist und lebt.
Die Gewalt konnte die Liebe nicht wirklich besiegen.

Für viele ist das bloß ein Märchen aus uralten Zeiten,
das heute niemand mehr glauben kann.
Aber für uns ist es Poesie.
Es ist wahr, auch wenn die Nachrichten uns täglich eines anderen belehren.
Es ist wahr, auch wenn man uns mit Terror und Gewalt einschüchtern kann,
wenn wir Angst vor Menschen haben, die aggressiv auftreten,
die brüllen und marschieren und martialische Kleidung tragen.

Es ist wahr, weil wir wissen, dass es wahr ist.
Wir haben es gespürt und am eigenen Leibe erfahren,
wenn wir einem Baby ins Gesicht sahen
und nicht anders konnten, als in Liebe zu zerfließen;
wenn wir laut mitsagen bei Händels „Messias“,
beim „Christ ist erstanden“ am Ostermorgen.
Wir haben es gespürt und erfahren,
als wir auf den Montagsdemos vor den Kirchen den Uniformierten gegenüberstanden,
mit nichts bewaffnet als dem Licht der Kerzen,
oder beim Singen von „We shall overcome“ auf der Friedensdemo.

Wir wissen, dass diese Worte wahr sind.
Und deshalb werden sie wahr, durch uns.
Diese Worte tun, was auch der Anblick eines Babys tut:
Sie wecken unsere besten Eigenschaften.
Sie eröffnen uns die Möglichkeit,
anders zu handeln, anders zu reagieren als mit Gewalt.

V. Ja, es stimmt: Wir sollten alle mehr Gedichte lernen!
Wir sollten ständig umgeben sein von Poesie,
wir sollten uns umgeben mit Liedern, die von Frieden singen,
wie die Weihnachtslieder es tun.

Mit ihnen verbreiten wir Licht in dieser dunklen Nacht,
in dieser dunklen Welt.
Mit ihnen verbreiten wir Hoffnung,
dass es einen echten Frieden geben wird
und nicht nur eine Pause zwischen zwei Kriegen.
Mit ihnen verbreiten wir den Glauben,
dass es anders geht als mit Gewalt,
und dass es besser geht ohne Gewalt.

Darum will ich schließen mit einem Weihnachtsgedicht eines anderen „großen“ deutschen Dichters, Bertold Brecht:
Die Nacht ihrer ersten Geburt war
kalt gewesen. In später Jahren aber
vergaß sie gänzlich
den Frost in den Kummerbalken und rauchenden Ofen
und das Würgen der Nachgeburt gegen Morgen zu.
Aber vor allem vergaß sie die bittere Scham,
nicht allein zu sein,
die dem Armen eigen ist.
Hauptsächlich deshalb
ward es in späteren Jahren zum Fest, bei dem
alles dabei war.
Das rohe Geschwätz der Hirten verstummte.
Später wurden aus ihnen Könige in der Geschichte.
Der Wind, der sehr kalt war,
wurde zum Engelsgesang.
Ja, von dem Loch im Dach, das den Frost einließ, blieb nur
der Stern, der hineinsah.
Alles dies
kam vom Gesicht ihres Sohnes, der leicht war,
Gesang liebte,
Arme zu sich lud
und die Gewohnheit hatte, unter Königen zu leben
und einen Stern über sich zu sehen zur Nachtzeit.