Samstag, 23. Dezember 2017

Von Traum und Wirklichkeit

Predigt am 2. Weihnachtstag, 26.12.2017, über Offenbarung 7,9-17

Der Seher Johannes hat eine Vision vom Ende der Zeiten. Er schreibt:

Ich schaute:
Da, eine große Menge, die niemand zählen konnte.
Aus jeder Volksgruppe, jedem Volksstamm, jeder Nation und Sprache war jemand dabei.
Sie standen vor dem Thron und dem Lamm
und waren mit weißen Gewändern bekleidet.
Palmzweige hielten sie in ihren Händen.
Sie riefen mit gewaltiger Stimme:
„Der Sieg gehört unserem Gott, der auf dem Thron sitzt, und dem Lamm!“
Und alle Engel, die rings um den Thron und die Ältesten und die vier Tiere gestanden hatten,
fielen vor dem Thron auf ihr Angesicht und beteten Gott an:
„Amen! Das Lob und die Ehre, die Weisheit und der Dank,
der Ruhm, die Macht und die Stärke gehören unserem Gott
von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.“
Und einer der Ältesten sagte zu mir:
„Die mit weißen Gewändern bekleidet sind,
wer sind sie, und woher kamen sie?“
Ich antwortete:
„Mein Herr, du weißt es.“
Und er sagte mir:
„Diese sind aus großem Kummer gekommen.
Sie haben ihre Gewänder gewaschen und geweißt im Blut des Lammes.
Deswegen stehen sie vor dem Thron Gottes
und dienen ihm Tag und Nacht in seinem Tempel.
Und der auf dem Thron sitzt, wird bei ihnen campen.
Sie werden niemals Hunger oder Durst erleiden,
auch wird die Sonne nicht auf sie fallen noch irgendwelche Hitze,
denn das Lamm, das in der Mitte des Thrones ist, wird sie behüten
und sie führen zu Quellen lebendigen Wassers.
Und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen.“
(Eigene Übersetzung)

Liebe Schwestern und Brüder,

hier der Stall, die Windeln, das Stroh,
dort ein Thronsaal.
Hier ein paar ärmliche Hirten mit ihren Schafen,
dort eine unzählbare Menge von Leuten in weißen Gewändern,
Engel, Älteste und vier eigenartige Tiere.
Hier das Kind in der Krippe,
dort das Lamm, das die Sünde der Welt trug und nun bei Gott im Himmel ist.

Hier, im Stall, in der Krippe, beginnt es.
Dort, vor dem Thron, bei dem Lamm, endet es.
Dazwischen liegt ein Weg,
auf dem wir das göttliche Kind begleiten,
das viel zu schnell erwachsen wird.
Als Erwachsener wird es Johannes den Täufer treffen,
der in ihm das Lamm Gottes erkennen wird,
das die Schuld der Welt trägt.
Mit der Taufe durch Johannes wird sein Weg
zielstrebig und unaufhaltsam ans Kreuz führen.

So heißt es in einem Weihnachtslied:
„Bald bist du groß, dann fließt dein Blut
von Golgatha herab.
Ans Kreuz schlägt dich der Menschen Wut,
dann legt man dich ins Grab.
Hab immer deine Äuglein zu,
denn du bedarfst der sichern Ruh.
Schlafe, schlafe, Himmelssöhnchen, schlafe.“

I. Von all dem weiß das Kind in der Krippe noch nichts.
Oder ahnt es, welches Schicksal es erwartet?
Schließlich ist es ein besonderes Kind.
Im Evangelium hörten wir:
Es ist das Wort, das im Anfang war;
das Wort, das Mensch wurde und unter uns gelebt hat.

Wir hören es an Weihnachten nicht gern,
und doch ist es unvermeidlich,
dass dieses kleine, hilflose, anrührende Kind in der Krippe
sterben wird - sterben muss,
damit wir leben können.

An Weihnachten möchte man nicht an Passion und Kreuz denken.
Und doch schließt beides quasi unmittelbar an Weihnachten an:
Schon in vierzehn Tagen, am 1. Sonntag nach Epiphanias,
hören wir von der Taufe Jesu im Jordan.
Da beginnt sein Weg, der ihn ans Kreuz führen wird.

An Weihnachten möchte man seinen Frieden haben.
Weihnachten, das sind die wenigen Tage im Jahr,
die etwas vom Paradies ahnen lassen:
Es gibt Geschenke und reichlich zu Essen.
Jede bemüht sich, einigermaßen nett zu sein.
Man spricht nicht über die Arbeit und streitet nicht über Politik.
Der Alltag mit seinem Getriebe und seinen Sorgen steht für drei Tage still.

Aber das ist leider nur eine Illusion.
Auch an Weihnachten wird gestorben, sogar am Heiligen Abend.
Krankenschwestern und Ärztinnen,
Feuerwehr und Polizei sind in Bereitschaft und im Einsatz, wie alle Tage.
Überall auf der Welt geht die Gewalt auch an Weihnachten weiter,
wird geschossen und gemordet, werden Bomben gezündet,
als wolle man sich über das Lied der Engel vom Frieden auf Erden lustig machen.

II. Hier und dort,
Traum und Wirklichkeit.
An Weihnachten begegnen und berühren sie sich.
An Weihnachten hören wir, dass ein Kind ein Wunder-Rat ist,
ein Gott-Held, Ewig-Vater und Friedefürst.
Ein Kind, wohlgemerkt, nicht ein Erwachsener!
Ein Kind, das noch gar keinen Rat geben kann,
weil es noch nichts weiß und noch so viel zu lernen hat.
Ein Kind, in seiner Schwachheit das genaue Gegenteil eines Helden.
So klein und hilfsbedürftig ist es auch das Gegenteil eines Vaters.
Wie soll ein kleines Kind den Frieden bringen?

Es ist unser Sinn für die Realtität,
der solche Feststellungen macht, solche Fragen stellt.
Unser Sinn für Realität, der sofort merkt,
dass das nicht gehen und deshalb nicht stimmen kann.
In der Traumwelt der Geschichte vom Kind,
das ein Rat ist, ein Held, ein Vater und ein Friedefürst,
und in der Vision des Johannes vom Thronsaal und dem Lamm
ist das alles keine Frage:
da ist es Wirklichkeit.

Aber wie kann etwas Wirklichkeit sein, das nur behauptet wird?
Wie kann ein Traum wahr werden?
Zu allen Zeiten haben Menschen geträumt.
Vom Fliegen, zum Beispiel.
Vom Entdecken fremder Länder und Kulturen.
Vom Erklimmen unbesteigbarer Gipfel.
Vom Reisen in die tiefsten Tiefen des Meeres,
zum Mond, oder zu den Sternen.

Menschen haben geträumt von der Befreiung aus der Sklaverei;
davon, als Frau genauso viel zu gelten und tun zu können wie ein Mann;
von der Aufhebung der Rassentrennung,
von Gerechtigkeit, von Frieden, von Reisefreiheit und der Öffnung der Mauer.

Viele dieser Träume gingen in Erfüllung.
Manche sind dabei, sich zu erfüllen.
Bei manchen steht die Erfüllung noch aus.
Kurioserweise sind die Träume, die sich am schwersten erfüllen lassen die,
die eigentlich am leichtesten zu verwirklichen sein sollten:
Die Gleichberechtigung von Frau und Mann.
Die gerechte Verteilung des zum Leben Notwendigen.
Das Ende der Diskriminierung von Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe.
Frieden.

III. Der Seher Johannes träumt vom Ende der Zeiten,
an denen es keine Unterschiede mehr zwischen den Menschen geben wird
und das Evangelium alle Menschen erreicht hat.
Johannes träumt davon, dass Gott alles Leid gestillt
und sogar den Tod besiegt hat.
Gott, und nicht der Mensch mit seinem Erfindungsreichtum,
seinem Drang, jede Grenze zu überwinden und selbst Gott zu spielen.
Und Johannes träumt davon,
dass die Macht sich nicht in den Händen einiger weniger konzentriert,
sondern in der Hand dessen, der allein verantwortungsvoll damit umgeht.

Wir werden nicht erleben, dass diese Träume des Sehers Johannes sich erfüllen.
Zu ihrer Erfüllung können wir auch nichts beitragen.
Wir können das Ende der Zeiten nicht beschleunigen.
Wir wollen das auch gar nicht - dazu leben wir viel zu gern auf dieser Erde.

Es muss Träume geben, die sich nicht erfüllen dürfen.
Es sind Träume, die uns, unserem Willen und unseren Fähigkeiten Grenzen setzen,
indem sie Gott vorbehalten, was nur Gott allein kann.
Aber wie soll man die Träume unterscheiden?
Woher soll man wissen, welchen Traum wir verwirklichen
und von welchem wir besser unsere Finger lassen sollten?

In den USA hat es Menschen gegeben, und es gibt sie noch,
die der Meinung sind, die Trennung der Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe
sei von Gott so gewollt, und Gott habe die weiße Rasse bevorzugt
und zur Herrschaft über die Schwarzen bestimmt.
Diese Leute würden sagen,
dass der Traum von der Aufhebung der Rassenschranken
sich erst am Ende der Zeiten verwirklichen wird.

Würden Sie zustimmen?
Was wäre Ihr Kriterium?
Woran würden Sie erkennen, ob ein Traum verwirklicht werden kann
oder besser ein Traum bleibt?

Für den Seher Johannes ist das Kriterium die Reinheit.
Für ihn bedeutet sie die Vergebung von Schuld.
Die weißen Gewänder, die Reinheit symbolisieren,
dürfen diejenigen tragen, deren Sünden vergeben wurden.
Die Sündenvergebung - das ist das eigenartige Bild
vom Waschen der Gewänder im Blut des Lammes.
Man könnte meinen, Johannes hätte keine Ahnung vom Wäschewaschen.
Blut gehört zu den Flecken, die am schwersten rausgehen.
Aber das Blut des Lammes ist kein Waschmittel im herkömmlichen Sinn.
Damit ist der Tod Jesu am Kreuz gemeint.
Der Tod, der alles von uns abgewaschen hat,
was uns von Gott und unseren Mitmenschen trennt.

Das Kriterium, ob man einen Traum verwirklichen sollte oder nicht,
ist also die Aufhebung jeder Trennung.
Die Sünde, also die Trennung zwischen Gott und Mensch,
kann nur Gott aufheben.
Aber das, was uns Menschen voneinander trennt, zu beseitigen,
das liegt in unserer Macht.
Es liegt durchaus in unserer Macht,
die Träume vom Ende aller Rassenschranken,
vom Ende der Ungleichheit der Geschlechter,
vom Ende der Ungerechtigkeit zwischen Arm und Reich
nicht nur zu träumen,
sondern auch Wirklichkeit werden zu lassen.

IV. Hier die Wirklichkeit,
dort der Traum - oder ist es andersherum?
Ist nicht der Gedanke, dass alle Menschen gleich viel wert sind,
viel realer, viel wirklicher als die Ungleichheit, die wir erleben,
weil er gerecht ist?
Ist die Vision des Johannes, dass es keinen Hunger, keinen Durst mehr gibt
und dass Gott alle Tränen abwischen wird,
nicht viel realer als die oft leidvolle Wirklichkeit,
weil sie Trost spenden kann?
Und ist das Angebot von Gottes Vergebung nicht viel realer
als die Schuld, die wir uns selbst zuschreiben,
als unser schlechtes Gewissen
und als all die Bewertungen und Urteile, denen wir uns ausgesetzt sehen,
weil es uns frei macht,
unsere Träume zu leben und wahr werden zu lassen?

Real, wirklich ist nicht nur das, was man sehen und anfassen kann.
Real, wirklich ist das, was uns real werden lässt:
Was uns zu den Menschen werden lässt,
die wir nach Gottes Willen sein sollten.

V. Da liegt es, das Kindlein, auf Heu und auf Stroh.
Ahnt es das Schicksal, das ihm bevorsteht?
Dass sein Weg es ans Kreuz führen wird,
damit es zum Lamm Gottes wird,
das alle Trennungen aufhebt?

Sein Weg ist dort am Kreuz nicht zuende.
Nach Karfreitag kommt Ostern.
Wie mitten im kalten Winter
das Licht der Engel aufstrahlt,
die die Geburt des göttlichen Kindes verkündigen,
so strahlt am Ostermorgen das Licht der Auferstehung.

Auf dieses Licht gehen wir zu.
Es macht unseren Weg hell
und hilft uns, zwischen den Träumen zu entscheiden
und aufzuheben, was uns Menschen voneinander trennt.