Samstag, 29. Dezember 2018

Lesestärke

Predigt am Neujahrstag, 1.1.2019, über Josua 1,1-9:

Nachdem Mose, der Knecht Gottes, gestorben war,
sprach Gott zu Josua, dem Sohn Nuns, dem Diener Moses:
Mein Knecht Mose ist gestorben.
Nun mache dich auf, den Jordan zu überqueren, du und dieses ganze Volk,
in das Land, das ich euch, den Kindern Israels, gab.
Jeden Ort, auf den eure Füße treten, habe ich euch gegeben, wie ich Mose gesagt hatte.
Von der Wüste und vom Libanon bis zum großen Fluss, dem Euphrat,
das ganze Land der Hetiter, und bis zum großen Meer im Westen sei euer Gebiet.
Niemand wird dir standhalten dein Leben lang.
Wie ich mit Mose war, werde ich mit dir sein.
Ich werde dich weder verlassen noch im Stich lassen.
Sei fest und stark, denn dir ist das Volk als Erbe übergeben
und das Land, das ich ihren Vätern schwor zu geben.
Sei nur sehr fest und stark, dass du darauf achtest,
nach allen Weisungen zu handeln, die ich Mose, meinem Knecht, gebot.
Weiche nicht von ihnen ab, weder zur Rechten, noch zur Linken,
dann wirst du erfolgreich sein, wohin du auch gehst.
Entferne das Torabuch nicht von deinem Mund,
sondern lies murmelnd darin Tag und Nacht,
damit du darauf achtest, alles zu tun, was darin geschrieben steht.
Denn dann wird dein Vorhaben Erfolg haben, dann wird es dir gelingen.
Habe ich dir nicht geboten, fest und stark zu sein?
Fürchte dich nicht und sei nicht mutlos.
Denn mit dir ist der Herr, dein Gott, wohin du auch gehst.


Liebe Schwestern und Brüder,

dreimal ermahnt Gott Josua dazu, „fest und stark“ zu sein.
Was man dreimal wiederholt, muss wirklich wichtig sein.
Warum ist es so wichtig, fest und stark zu sein?
Ist das so ein Männderding,
weil Männer doch nicht weinen
und man als echter Kerl keine Schwäche zeigt?

I. „Du musst jetzt sehr stark sein!“
Mit solchen Worten wird man auf eine schlimme Nachricht vorbereitet.
Man hält sich jetzt besser fest, oder setzt sich lieber hin.
Man macht sich jetzt besser auf das Schlimmste gefasst,
damit man nicht gleich losheult.
Stark sein bedeutet, seine Gefühle,
sein Getroffen- oder Verletztsein,
seine Hilflosigkeit oder seine Verzweiflung nicht zu zeigen.
Sondern seinen Mann zu stehen
und dem Schicksal die Stirn zu bieten wie ein echter Kerl.
Schwäche, Hilflosigkeit sind da nicht vorgesehen
und auch nicht erwünscht.

Das ist aber nicht die Stärke, die Gott von Josua fordert.
Gott erwartet überhaupt keine Stärke von Josua,
die man gemeinhin mit Männlichkeit in Verbindung bringt.
Es ist fast das Gegenteil:
Gott erwartet von Josua, dass er - - - liest.
Und zwar in der Tora, also in dem, was wir als das „Alte Testament“ kennen.
Besser gesagt: In den fünf Büchern Mose.

Es kann nicht schaden, wenn Josua als Nachfolger des Mose nachliest,
was Mose aufgeschrieben hat.
Da wird sich der eine oder andere wertvolle Hinweis finden lassen.
Allerdings gab es zu der Zeit, in der das Buch Josua spielt, die Tora noch gar nicht.
Eine spätere Zeit legt Josua das Torabuch in die Hand,
das er noch gar nicht kennen konnte - die Leser des Josuabuches aber sehr wohl.
Die Geschichte Josuas ist also kein Bericht, wie es damals zuging,
als Israel vom gelobten Land Besitz ergriff.
Es ist eine Geschichte, die sich an uns, ihre Leserinnen und Leser, wendet.

II. „Sei fest und stark“. Diese Mahnung ist also an uns gerichtet.
Wir hatten schon gesehen, dass damit nicht unsere Qualitäten gemeint sind,
Schicksalsschläge oder schlechte Nachrichten mannhaft zu ertragen.
Die Stärke, die hier gefordert wird, hat mit dem Lesen zu tun.
Nun gibt es zwar eine Leseschwäche,
aber von einer Lesestärke spricht man gemeinhin nicht.
Was könnte da gemeint sein?

Der erste Psalm fällt einem ein.
Darin wird der gelobt, der „Freude hat am Gesetz des Herrn
und sinnt über seinem Gesetz Tag und Nacht“.
Was Martin Luther mit „sinnen“ übersetzte,
ist das halblaute, murmelnde Lesen, von dem auch hier die Rede ist.
Und das „Gesetz des Herrn“ ist natürlich das Torabuch.
In dem soll man Tag und Nacht murmelnd lesen,
sie also Wort für Wort, Satz für Satz studieren und verinnerlichen.
Dazu sind Festigkeit und Stärke nötig.
Vielleicht, damit man beim Lesen nicht einschläft?
Denn so spannend manche Geschichten der Tora sind,
andere Texte sind furchtbar eintönig und langweilig.
Will Gott also, dass man sich am Riemen reißt;
diszipliniert, regelmäßig und intensiv in der Tora liest?

III. Der Auftrag, das Volk Israel ins gelobte Land zu führen,
ist sehr anspruchsvoll und nicht ungefährlich.
Mose hatte seine liebe Mühe mit dem Volk,
und es ging oft über seine Kräfte, mit dessen Launen
und dessen Heimweh nach den Fleischtöpfen Ägyptens umzugehen.
Josua wird mit seiner Beauftragung aber nicht ins kalte Wasser geworfen.
Gott sichert ihm umfassende Unterstützung zu:
„Niemand wird dir standhalten dein Leben lang.
Wie ich mich Mose war, werde ich mit dir sein.“
Gott macht aus Josua eine Art Bulldozer,
der jedes Hindernis aus dem Weg räumen kann,
ja, vor dem die Hindernisse praktisch aus dem Weg springen,
sobald er sich ihnen nur nähert.

Es fällt auf, dass diese Bulldozerhaftigkeit keine Eigenschaft Josuas ist.
Josua ist nicht besonders breit gebaut und verfügt auch nicht über Superkräfte.
Er bringt nichts Bulldozerhaftes mit.
Dass ihm trotzdem niemand standhalten kann, das kommt von Gott.
Gott ist es, der für ihn alle Hindernisse aus dem Weg räumt.

Man könnte also meinen, das Torastudium sei der Preis für diesen Service:
Solange Josua sich mit Gottes Weisung beschäftigt,
wird Gott ihm den Weg ebnen.
Aber was wäre das für ein komischer Handel!
Sollte Gott so eitel sein, dass man sich Tag und Nacht mit ihm beschäftigen soll?
Etwa wie ein schlechter Autor, dessen Bücher langweilig sind
und der darum jedem Geld zahlt, der ihn trotzdem liest?

Da wir, die Leserinnen und Leser des Josuabuches, die Angesprochenen sind,
kann es um eine solche Belohnung nicht gehen.
Wir machen ja auch nicht die Erfahrung,
dass uns Hindernisse aus dem Weg geräumt werden.
Eher hat man im Gegenteil manchmal das Gefühl,
dass einem Knüppel zwischen die Beine geworfen werden.

IV. „Fürchte dich nicht und sei nicht mutlos.
Denn mit dir ist der Herr, dein Gott, wohin du auch gehst.“
Gott geht mit uns mit.
Wie macht er das?

Der Vorteil eines Buches ist es,
dass man es überall mit hinnehmen kann -
ins Bett, aufs Sofa, in den Urlaub.
Ein Buch kann zum ständigen Begleiter werden.
Je besser man es kennt, desto selbstverständlicher geht es mit einem durchs Leben.
Das merkt man an den Gedichtzeilen, die einem manchmal unvermittelt einfallen.
Oder an Bibelstellen.

Gott geht in seinem Wort, der Bibel, mit uns durchs Leben.
Im Wort der Bibel sind wir mit Gott verbunden,
stehen wir mit ihm in Kontakt,
sind wir mit ihm im Gespräch.
Dadurch gelingt unser Leben.
Nicht so, dass alle Wünsche in Erfüllung gehen,
alle Vorhaben gelingen,
dass wir niemals krank oder unglücklich oder traurig sind.
Sondern so, dass wir trotz aller Fehler, Irrtümer und Verletzungen wissen:
Gott liebt uns.
Gott steht auf unserer Seite.
Gott lässt unser Leben gelingen
und gibt ihm ein gutes Ende -
auch, wenn wir nicht sehen können,
wie es weitergehen soll.

V, Festigkeit und Stärke haben nichts mit Muskelkraft,
nichts mit Willen oder Disziplin zu tun.
Sie bestehen vielmehr im Festhalten an Gottes Wort -
im wörtlichen Sinn:
Dass man darin Halt sucht.
Und im übertragenen Sinn:
Dass man Gott bei seiner Zusage behaftet,
mit uns zu sein, wohin wir auch gehen.
Und sich dabei nicht irre machen lässt
von den Unbilden des Lebens,
vom Gerede der anderen,
von den Heimsuchungen des Schicksals.
Das klingt schwerer, als es ist.
Denn wie alle unsere Kräfte und Fähigkeiten
fließen uns auch Festigkeit und Stärke von Gott zu, aus seinem Wort,
wenn wir darüber nachsinnen am Tag oder in der Nacht.