Predigt am Sonntag Septuagesimae, 17. Februar 2019, über Kohelet 7,15-18:
Das alles sah ich in meinem nichtigen Leben:
Da ist ein Gerechter, der an seiner Gerechtigkeit zugrunde geht.
Und da ist ein Ungerechter, der in seiner Bosheit lange lebt.
Sei nicht übermäßig gerecht und gebärde dich nicht allzu weise -
warum willst du dich zugrunde richten?
Sei nicht übermäßig ungerecht und sei kein Narr -
warum willst du vor der Zeit sterben?
Gut, wenn du an diesem festhältst
und auch bei jenem nicht nachlässt.
Denn wer gottesfürchtig ist, entgeht dem allen.
Liebe Schwestern und Brüder,
wie wollen wir leben?
Ist das eine Frage?
Das Leben mit allem, was es bietet, kann einen so in Anspruch nehmen,
dass man gar nicht auf die Idee kommt, man hätte eine Wahl:
Es gibt so viel zu sehen, zu erleben,
zu schmecken, zu hören, zu fühlen und zu riechen.
Es gibt so viel zu tun und zu erledigen.
Es gilt, so viele Leute zu treffen,
so viele fremde Gegenden und Länder kennen zu lernen.
Das Leben selbst sorgt dafür, dass man nicht zur Besinnung
und damit zum Nachdenken kommt.
Ständig verändert sich etwas,
ständig präsentieren sich einem neue Herausforderungen und Probleme.
I. Wie wollen wir leben?
Trotz allem, was es zu erleben gilt,
trotz aller Anforderungen, die das Leben stellt,
kann man dieser Frage nicht ausweichen.
Sie drängt sich auf.
Darum kommen wir unter anderem heute und an den anderen Sonntagen zusammen,
weil uns diese Frage umtreibt und wir eine Antwort darauf suchen.
Die Antwort des Predigers ist überraschend und vielleicht sogar enttäuschend:
Wähle den Mittelweg. Wähle das Mittelmaß.
Mittelmäßig möchte man eigentlich nicht sein.
Mit dem Mittelmaß gibt man sich in der Regel nicht zufrieden.
Auch, wenn laut Gauß‘scher Normalverteilung
die meisten von uns mittelmäßige Schülerinnen und Schüler
oder sogenannte „Otto-Normalverbraucher“ sind.
Man sucht sich das ja nicht aus.
Man tendiert in eine Richtung und denkt oft in Gegensätzen:
Schwarz und Weiß, Gut und Böse, Links und Rechts usw.
Im Laufe der Zeit pendelt man sich allerdings in dem Bereich ein,
der von den großen Parteien so heftig umworben wird:
in der Mitte.
Und nun sagt der Prediger:
Mitte ist gut!
Will er, dass wir alle nur mittelmäßig sind?
Will er, dass wir uns mit dem Mittelmaß zufrieden geben?
II. Die Frage, wie man leben soll,
beantwortet der Prediger unter dem Blickwinkel eines gläubigen Menschen.
Unter diesem Blickwinkel gibt es zwei Haltungen:
gerecht zu sein, d.h. sich an Gott und seine Gebote zu halten,
sich um Weisheit zu bemühen, weil sie hilft, Gottes Wort zu verstehen.
Und ungerecht zu sein, d.h. zu tun, was Vorteile und persönlichen Gewinn bringt.
Gott und Gottes Wort sowie alle sonstigen Regeln und Werte sind dafür unnötig,
ja ungünstig, weil sie die Gewinnmaximierung erschweren
und vielleicht sogar Skrupel aufkommen lassen.
Beide Haltungen können ins Extrem ausschlagen:
Der Gerechte kann so besessen von der Idee sein,
Gottes Gebote bis aufs i-Tüpfelchen zu befolgen,
dass er sich damit zugrunde richtet.
Das ist kein Leben mehr, nur noch Pflicht und Gehorsam.
So ein Mensch hat keine Freunde -
auch, weil er in seinem Streben nach Weisheit
zum Klugscheißer, Besserwisser oder Rechthaber geworden ist.
Das andere Extrem ist der Ungerechte,
der zur Erfüllung seiner Wünsche buchstäblich über Leichen geht.
Und sich mit seiner Rücksichtslosigkeit Feinde macht,
die ihrerseits danach trachten, sein Leben zu verkürzen.
Der zwar in allem, was seine Gier betrifft,
eine unglaubliche Gerissenheit und Schläue zeigt.
Aber in allen zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Fragen keinen Fettnapf auslässt,
sodass er als peinlicher, tumber Tor gilt.
Mit den beiden Extremen, die ja nicht gänzlich aus der Luft gegriffen sind,
will der Prediger die Gefahren aufzeigen, die in so einseitigen Haltungen lauern:
Als gläubiger Mensch darf man sich nicht völlig von der Welt und den eigenen Bedürfnissen entfernen.
Als ungläubiger Mensch darf man sich nicht gänzlich von Recht und Gesetz,
von gesellschaftlichen Regeln und Werten abkoppeln.
III. Der Prediger betrachtet das Leben unter der Perspektive des Glaubens.
Dabei stellt er von Anfang an klar, dass der Glaube keinen Vorteil verschafft:
Ein Gerechter lebt nicht notwendigerweise länger als ein Ungerechter.
Die Statistiken, die man befragt, wenn man entscheiden will, was man tun muss,
um sein Leben zu verlängern - Sport treiben, sich bewegen, sich gesund ernähren -
und was man lassen soll, um nicht krank zu werden -
Rauchen, Alkohol, schlechte Ernährungsgewohnheiten -
liefern für die Frage, welchen Einfluss der Glaube auf die Lebenserwartung hat,
kein eindeutiges Ergebnis.
Für die Lebenserwartung ist der Glaube irrelevant, meint der Prediger.
Wozu ist er dann gut?
Der Prediger warnt vor den Extremen:
Man kann es mit der Gerechtigkeit wie mit der Gemeinheit übertreiben.
Woher aber kommt dieser Extremismus,
wenn wir alle doch eher mittelmäßig sind?
Er kommt daher, dass wir unser Leben tatsächlich selbst gestalten,
auch wenn wir oft den Eindruck haben, das Leben lebe uns.
Wir gestalten unser Leben, weil wir tun oder lassen, was die Statistiken sagen.
Und wir gestalten es auch, wenn wir bewusst nicht tun,
was wir laut Statistik tun sollten.
Dabei schießen wir allzu oft über das Ziel hinaus.
Wir schießen über das Ziel hinaus und geraten in Extreme,
sobald und solange wir uns selbst zum Maßstab unseres Handelns machen,
sobald und solange wir selbst Richtung und Ziel unseres Lebens vorgeben.
Wenn wir uns zum Maß aller Dinge machen, haben wir jeden Maßstab verloren.
IV. Der Glaube gibt uns das rechte Maß.
Er ist der Maßstab, durch den wir,
aber auch unsere Mitmenschen und Mitgeschöpfe am Leben bleiben.
Maßstab für den Umgang mit unseren Mitmenschen und unserer Umwelt
ist der Glaube, indem er uns erkennen lässt, dass wir nicht allein auf der Welt sind
und die anderen nicht nur unseretwegen existieren.
Die Welt dreht sich nicht um uns. Sie dreht sich um keinen Menschen.
Wir alle sind verwoben in ein Netzwerk allen Lebens,
das die Bibel „Schöpfung“ nennt.
In diesem Netzwerk kann eines nicht ohne das andere sein,
ist keines wichtiger oder wertvoller als das andere -
und auch keiner unwichtig oder wertlos.
Der Glaube an die Schöpfung
gibt uns das Maß im Umgang miteinander und mit unserer Umwelt.
Maßstab für unser Leben ist der Glaube, indem er uns erkennen lässt,
dass Gott die Welt uns und allem Leben zur Freude geschaffen hat.
Leben bedeutet nicht Verzicht, sondern Genuss.
Wir sollen und dürfen alle Gaben der Schöpfung genießen.
Wir sollen und dürfen das Miteinander, die Liebe zum anderen Menschen
in der Art und Weise genießen, die Gott uns geschenkt hat,
solange wir den anderen in seiner Würde respektieren
und ihm das gleiche zugestehen wie uns.
Wir tun das alles in rechter Weise, wenn wir glauben,
d.h. unser Tun und Lassen vor Gott verantworten
und nicht vergessen, dass wir mit allem anderen Leben aufs engste verwoben sind.
Und nicht vergessen, dass uns unser Leben
und die Gaben der Schöpfung geschenkt wurden
und wir keinen Anspruch auf sie haben.
Der Glaube führt daher den Mittelweg
zwischen dem Aufgeben aller Wünsche
und dem rücksichtslosen Durchsetzen des eigenen Willens.
Dieser Weg ist schwer oder sogar unmöglich zu gehen,
wenn man meint, man müsse diese Mitte austarieren,
müsse genau abwägen und abwiegen, was einem zusteht und was dem anderen.
Er wird kinderleicht, wenn man sich Gott und seiner Liebe überlässt.
V. Das Leben ist ein Wunder.
Und unsere Zeit, dieses Wunder zu erleben, ist kurz,
viel zu kurz.
Wenn wir begreifen, dass wir unser Leben nicht für uns leben,
sondern gemeinsam mit all den anderen Menschen, Tieren und Pflanzen,
könnte es für uns und für alle zu einem Paradies werden.
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Das Tagesgebet für den Sonntag Septuagesimae steht hier.