Jesus sprach zu seinen Jüngern, als es Abend geworden war:
Lasst uns den See Genezareth überqueren!
Und nachdem sie die Menge entlassen hatten, fuhren sie mit ihm, weil er bereits im Boot war;
andere Boote waren bei ihm.
Da erhob sich ein gewaltiger Sturm, und die Wellen schlugen ins Boot,
sodass das Boot schon vollgelaufen war.
Er aber schlief im Heck auf einem Kissen.
Die Jünger weckten ihn mit den Worten:
Meister, kümmert es dich nicht, dass wir untergehen?
Als er wach war, schimpfte er mit dem Wind und sprach zum See:
Schweig, sei still!
Der Wind legte sich, es herrschte eine große Flaute.
Da sprach er zu ihnen:
Warum seid ihr feige? Habt ihr noch keinen Glauben?
Die Jünger befiel eine schreckliche Angst,
und sie sprachen zueinander:
Was ist das bloß für einer, dass ihm Wind und See gehorchen?
Liebe Schwestern und Brüder,
die Geschichte von der Sturmstillung erzählt von einem Wunder.
„Wunder gibt es immer wieder“, heißt es in einem Schlager, und wir möchten das gerne glauben.
Das Wunder, von dem der Schlager singt, ist, dass man die Liebe findet.
Es ist tatsächlich ein Wunder, wenn zwei Menschen sich verlieben.
Man kann es manchmal nicht glauben, dass man liebenswert ist, dass sich jemand ausgerechnet in mich verliebt.
Darum bezeichnet man das, was einem an Gutem widerfährt, obwohl man nicht - oder nicht mehr - damit rechnete, als „Wunder“.
I. In der Wundergeschichte, die der Evangelist Markus erzählt, geht es nicht um das Wunder der Liebe oder ein anderes unerwartetes Geschehen.
Markus berichtet davon, dass Jesus in die Naturgesetze eingreift:
Er stillt einen Sturm und glättet die Meereswogen.
Die Naturgesetze außer Kraft zu setzen: Davon träumten Menschen schon immer.
Fliegen und Schwimmen sind auch deshalb wunderbar, weil sie scheinbar an den Naturgesetzen rütteln: Sie setzen unsere Erfahrung außer Kraft, dass alles fällt, alles Schwere im Wasser versinkt.
Deshalb kann einen auf einem Schiff oder in einem Flugzeug ein mulmiges Gefühl beschleichen, weil man weiß: Wasser und Luft haben keine Balken. Manche haben regelrecht Angst davor, mit Schiff oder Flugzeug zu reisen, weil das Gefühl, dass es nicht „richtig“ ist, stärker ist als das Wissen, das man im Physikunterricht gelernt hat.
Auch die Jünger haben Angst. Angst vor dem Sturm, der das Boot zu versenken droht.
Im Gegensatz zu den Jüngern sehen wir Jesus seelenruhig schlafen, wie in Abrahams Schoß.
Er bekommt von der dramatischen Situation nichts mit. Die Jünger müssen ihn wecken, damit er die Gefahr überhaupt wahrnimmt. Als er aber wach ist, hilft er seinen Jüngern: Auf seinen Befehl hin legt sich der Sturm; der See Genezareth, den sie überqueren wollen, liegt plötzlich spiegelglatt da.
Ist es nicht großartig, wie Jesus seinen Jüngern zu Hilfe kommt und sie aus ihrer verzweifelten Lage rettet? Geschichten wie diese ermutigen Menschen dazu, ebenfalls auf ein Wunder zu hoffen. Man denkt: Wenn Jesus für seine Jünger die Naturgesetze außer Kraft setzen konnte, wird er das doch auch für mich tun können oder für den Menschen, den ich liebe und um den ich mir so große Sorgen mache. Ich verlange ja nicht viel, nur ein kleines Wunder. Nichts im Vergleich zu dem, was Jesus für seine Jünger tat.
Aber das Wunder geschieht nicht, so sehr man auch betet und bittet.
II. Die Jünger haben Angst. Auch dann noch, und dann noch viel mehr, als Jesus den Sturm gestillt hat. Es befällt sie eine schreckliche Furcht. Diese Furcht kommt aus einer schrecklichen Ahnung: Wenn einer so etwas tun kann, dann könnte er noch ganz andere Dinge tun.
Vom allmächtigen Gott erzählt die Bibel nicht nur, dass er die Welt geschaffen und das Volk Israel aus Ägypten befreit hat. Sie erzählt auch von der Sintflut, mit der Gott alles Leben auf der Erde auslöscht, und von den Plagen, die Gott über die Ägypter bringt, bis hin zur Ermordung aller Erstgeborenen.
Die Allmacht Gottes hat zwei Seiten: Sie spendet Leben, aber sie kann auch Leben nehmen. Gott ist gut und schrecklich zugleich. Deshalb haben die Jünger nach dem Wunder größere Angst als vorher: Sie erkennen, welche Macht in Jesus wohnt, und wozu er in der Lage ist.
Wer sich Gott allmächtig wünscht, muss mit beiden Seiten der Macht leben: mit der guten, lebensspendenden ebenso wie mit der schrecklichen, zerstörerischen. Es gibt keine Macht, die nur gut ist, nur Gutes bewirkt. Sobald man in den Lauf der Dinge eingreift, geraten sie aus dem Gleichgewicht: Was dem Einen zum Vorteil gereicht, wird für den Anderen zum Nachteil. Was einer gewinnt, hat ein anderer verloren.
Der Wunsch, Gott möge eingreifen und den Lauf der Dinge ändern, ist deshalb ein kindlicher Wunsch. Sollte Gott wirklich eingreifen, könnte er das Leben auch in einer Weise verändern, die man sich nicht wünscht. Wenn Gott aber nur da eingreifen soll, wo ich will, würde er nicht existieren. „Gott“ wäre dann nur eine Projektion: eine Verlängerung meiner Wünsche und Träume ins Unendliche.
Zu einem „erwachsenen“ Glauben gehört darum die Einsicht und die Erkenntnis, dass Gott nicht eingreifen wird. Dass man sein Leben allein bewältigen muss, ohne Hilfe von oben. Trotzdem hofft man weiter auf ein Wunder. Besonders, wenn man Angst hat. Angst um das eigene Leben, oder Angst um das Leben eines geliebten Menschen.
III. Ängste sitzen sehr tief in uns, sie lassen sich nicht beherrschen. Man kann sie nicht wegdiskutieren oder mit Argumenten widerlegen wollen. Ein Beispiel, das ich auf Twitter fand:
Ängste sind gut. Sie schützen vor Gefahren. Sie lassen einen aufmerksam sein und fluchtbereit.Ich habe leider schlimme Flugangst. Mein Mann versucht daher, mir anhand von Beispielen und Statistiken aufzuzeigen, dass das Flugzeug das sicherste Verkehrsmittel ist und das Auto viel, viel gefährlicher.— Lucy in the Sky 💎 (@Lucyversum) 27. Januar 2019
Das wirkt: Langsam aber sicher kriege ich auch Angst vorm Autofahren.
Ängste können aber auch belastend sein, wenn sie lähmen und handlungsunfähig machen.
Die größte Angst ist die vor dem Tod. Der Tod vernichtet uns. Wir sind nicht mehr da, können uns nicht mehr am Leben, an den Menschen, die wir lieben, an der Welt freuen. Es gibt uns nicht mehr, und damit auch nicht unsere Erinnerungen, unsere Gedanken, unsere Gefühle, unsere einmalige Art, die Welt so zu sehen, wie wir sie sehen.
Die Jünger auf dem Boot stehen kurz davor, ihr Leben zu verlieren. Ihre Angst ist nur zu verständlich. Was man nicht versteht, ist, warum Jesus in dieser Situation so ruhig bleibt. Warum er kein Mitgefühl mit seinen Jüngern zeigt, sondern sie auch noch tadelt.
An dieser eigenartigen Stelle scheint der Knackpunkt der Geschichte zu liegen. Wenn Jesus seine Jünger tadelt: „Warum seid ihr feige? Habt ihr noch keinen Glauben?“, will er damit offenbar sagen: Wer glaubt, braucht keine Angst zu haben.
Könnte der Glaube die Angst besiegen? Und wenn ja: Wie soll das gehen? Die Geschichte gibt dazu keine Hinweise. Da ist nur Jesus, der inmitten eines schrecklichen Sturms, der das Boot jeden Moment zum Kentern bringen kann, seelenruhig schläft. Offenbar sollen wir uns fragen: Wie kann Jesus mitten im Sturm so ruhig sein? Diese Frage lenkt uns zurück in unsere Kindheit: Kinder haben keine Angst, solange Mama oder Papa in der Nähe sind. Solange die starken, verlässlichen Eltern da sind, findet man immer Trost, fasst man neuen Mut, traut man sich als Kind fast alles. Auch, weil die Eltern im Notfall eingreifen. Daher kommt unsere Wunschvorstellung des „Eingreifens von oben“:
Es war die Hand von Mutter oder Vater, die von oben kam und uns im letzten Moment festhielt, wenn wir stolperten. Die uns aufrichtete, wenn wir fielen. Die uns heilte und wärmte und schützte. Es war das Vertrauen in die Güte und die Hilfe der Eltern, die uns keine Angst haben ließ, damals, als wir Kinder waren.
Die Geschichte vom schlafenden Jesus in stürmischer See erzählt von diesem kindlichen Vertrauen: Jesus fühlt sich ganz und gar geborgen bei Gott, seinem Vater. Sogar in dieser über dem Abgrund schaukelnden Nussschale.
IV. Wir konnten unseren Eltern vertrauen, als wir Kinder waren. Aber irgendwann verloren wir dieses Vertrauen, und die Angst kam. Die Angst kam, weil wir erlebten, dass unsere Eltern uns nicht immer helfen konnten. Je älter wir wurden, desto öfter mussten wir Herausforderungen und Probleme allein bewältigen. Die Angst kam, weil wir erlebten, dass sogar unsere Eltern manchmal machtlos waren. Auch sie hatten Angst - Angst vor dem Tod.
Wie gewinnt man Vertrauen, das die Angst besiegt? Sucht man es erst in der Gefahr, wird man es nicht finden. Man muss sich offenbar vorher darum bemühen. Vertrauen, das weiß man aus Erfahrung, fällt nicht vom Himmel. Es muss wachsen, und es braucht dazu viel Zeit. Zu diesem Wachstumsprozess gehört auch die Enttäuschung. Kinder erleben, dass ihre Eltern doch nicht alles können, dass sie nicht immer da sein können, wenn sie Angst haben und dass sie manchmal nicht da sind, wenn sie sie brauchen.
Man erlebt, dass Freunde das Vertrauen enttäuschen oder sogar missbrauchen.
Sogar in einer Partnerschaft kann man den Missbrauch oder den Bruch des Vertrauens erleben.
Zum Prozess des Erwachsenwerdens gehört, dass man die Enttäuschung überwindet - die Enttäuschung, dass die Eltern doch nicht alles können; die Enttäuschung, die einem Freunde oder Partner bereiten - und eine neue Basis für die Beziehung findet.
Auch der Glaube ist eine Beziehung. Auch in der Glaubensbeziehung wird man enttäuscht: Gott greift nicht ein. Gott verweigert das Wunder, um das man ihn bittet. Das ist eine heftige Beziehungskrise. Manche beenden in einer solchen Situation die Beziehung, wenden sich ab von einem Gott, den sie für ungerecht halten. Andere finden eine neue Basis ihrer Beziehung zu Gott.
Jesus hat Gott als „Vater“ empfunden und angesprochen. In diesem Namen schwingt die ganze Zweideutigkeit unserer Erfahrungen mit unseren Eltern mit: Einerseits sind sie stark, verlässlich, hilfsbereit. Andererseits sind sie manchmal schwach und verletzlich, verletzen uns, wissen selbst nicht, wie es weitergeht. Wenn unsere Kindheit einigermaßen gut verlief, bleibt - trotz aller Enttäuschungen - etwas, das unzerstörbar ist. Mit unseren Eltern verbindet uns etwas, das alle Enttäuschungen, alle Erfahrungen von Grenzen und Schmerzen übersteigt und überwindet.
V. Was uns mit Eltern, Freundinnen oder Freunden, der Partnerin oder dem Partner verbindet, ist die Liebe. Liebe ist das Wunder in unserem Leben. Je älter man wird, desto besser erkennt man, dass nichts, was das Leben geben und bieten kann, dieses Wunder übersteigt. Wenn man älter wird, musste man von Menschen Abschied nehmen, die man liebte. Dabei machte man die wunderbare Erfahrung, dass die Liebe bleibt, auch wenn der Mensch, den man liebte, nicht mehr da ist.
Jesus schläft sicher in der schaukelnden Nussschale über dem gähnenden Abgrund, weil er sich der Liebe Gottes sicher sein kann. Diese Liebe ist stärker als alle Mächte der Welt und alle Todesmächte. Diese Liebe trägt auch uns über die Brüche und Klüfte unseres Lebens hinweg. Trägt uns durch alle Dunkelheiten und Schmerzen ins Licht jenes Lebens, das uns bei Gott erwartet. Von diesem Licht fällt ein Strahl in unser Leben. Dieser Liebe sicher zu sein, darum geht es beim Glauben; das gilt es zu lernen.