Montag, 29. April 2019

Resilienz

Predigt zur Konfirmation am Sonntag Quasimodogeniti, 28. April 2019, über Jesaja 40,26-31:

Hebt eure Augen in die Höhe und seht!
Wer hat dies geschaffen?
Er führt das Heer der Sterne vollzählig heraus
und ruft sie alle mit Namen;
seine Macht und starke Kraft ist so groß,
dass nicht eins von ihnen fehlt.
Warum sprichst du denn, Jakob,
und du, Israel, sagst:
»Mein Weg ist dem Herrn verborgen,
und mein Recht geht vor meinem Gott vorüber«?
Weißt du nicht? Hast du nicht gehört?
Der Herr, der ewige Gott, der die Enden der Erde geschaffen hat,
wird nicht müde noch matt,
sein Verstand ist unausforschlich.
Er gibt dem Müden Kraft,
und Stärke genug dem Unvermögenden.
Männer werden müde und matt,
und Jünglinge straucheln und fallen;
aber die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft,
dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler,
dass sie laufen und nicht matt werden,
dass sie wandeln und nicht müde werden.


Liebe Konfirmanden,
liebe Gemeinde,

wer hat ihn sich nicht schon einmal gewünscht,
diesen extra Schub Energie!?
Wenn man nach einer langen, anstrengenden Mountainbike-Tour
gegen den Wind bergauf nach Hause radeln muss;
bei einem Handball- oder Fußballspiel, wenn es aufs Ende zugeht
und man schon so viel gelaufen ist, dass man kaum noch kann,
aber die Mannschaft noch ein Tor braucht oder eines verhindern muss:
da wäre es toll, wenn man plötzlich Flügel bekäme!
Kein Wunder, dass ein bekannter Brausehersteller mit diesem Bild des Propheten Jesaja wirbt.
Im Werbespot sieht man, wie jemand, der zu schlapp ist oder gerade schlapp macht,
nach einem kräftigen Schluck aus der Brausedose plötzlich abhebt.
Ja, das wäre was, wenn einem ab und zu Flügel wüchsen!
Sie wären auch nützlich, wenn man sich ganz schnell aus dem Staub machen muss,
weil man etwas Dummes angestellt hat
oder sich in einer peinlichen Situation befindet.

Aber leider wachsen einem keine Flügel, wenn man sie braucht.
Auch der Schluck aus der Brausedose bringt einem nicht den erhofften Energieschub -
das wäre ja auch Doping, und unfair wäre es auch.

I. Obwohl es nicht der Wirklichkeit entspricht,
ist das Bild des Propheten von den Flügeln, die einem wachsen, eines,
mit dem wohl jede* etwas anfangen kann.
Hin und wieder ist man auf solche Kraftreserven angewiesen
und muss auf sie zurückgreifen - nicht nur beim Sport.
Auch z.B. bei der Kirmes, wenn man nach zu wenig Schlaf
am nächsten Tag wieder fit sein will und muss.
Oder in der Schule, besonders vor einer Klassenarbeit.
Auch in der Familie, im Beruf gibt es Situationen,
wo man letzte Kräfte mobilisieren muss
und einen Energieschub gut gebrauchen könnte.

Und dann gibt es die Härtefälle und Schicksalsschläge im Leben,
die einen von den Beinen holen und auf die Bretter schicken.
Die einem alle Kraft rauben, so dass man nicht weiß,
wie man wieder auf die Füße kommen soll.

Ein solcher Schicksalsschlag geht auch der Geschichte vom Regenbogen voraus,
die ihr vorhin vorgelesen habt.
Gott hatte mit der Sintflut den Reset-Knopf gedrückt
und die Erde auf Werkseinstellung zurückgesetzt:
Es herrschte wieder Tohuwabohu, wie am Anfang.
Das konnte niemand überleben -
bis auf die wenigen Menschen und Tiere,
die mit Noah auf der Arche waren.
Mit ihnen macht Gott einen neuen Anfang.

Was braucht man für einen neuen Anfang?
Was braucht man, wenn man am Boden liegt
und wieder aufstehen will, aufstehen muss?
Eine Dose Brause?

II. Heute ist die letzte Gelegenheit,
euch noch etwas beizubringen,
und ich werde sie schamlos ausnutzen.
Was ich euch heute beibringen will, ist ein Wort:
Resilienz.

Resilienz ist die Fähigkeit, es erneut mit dem Leben aufzunehmen,
nachdem man zu Boden gegangen ist.
Es ist die Fähigkeit, wenn das Leben einem Zitronen gibt,
Limonade daraus zu machen.

Psychologen haben untersucht,
welche Eigenschaften nötig sind,
damit Kinder, die in schwierigen Verhältnissen,
in Armut oder mit Gewalt aufgewachsen sind,
sich aus diesen Verhältnissen befreien
und ein selbstbestimmtes, glückliches Leben führen können.
Bei den Kindern, denen das gelang,
fand man eine innere Widerstandskraft,
die man „Resilienz“ nannte.

Eine solche innere Kraft schenkt einem, wenn es gut geht, die Familie,
schenken Eltern, Geschwister, Großeltern.
Auch Lehrer*innen oder Trainer*innen, wenn sie ein Vorbild sind,
können einem zu Resilienz verhelfen.
Eine wichtige Rolle für die Entwicklung von Resilienz spielt auch die Religion.
Wer in einer religiöse Gemeinschaft, eine Gemeinde, eingebunden ist,
hat eine größere innere Widerstandskraft als andere, die es nicht sind.
Das leuchtet ein:
Wer sich in einer Gemeinde aufgehoben oder sogar geborgen weiß,
fällt nicht so tief, wenn er mal zu Boden geht.
So jemand findet schnell Menschen, die ihm wieder aufhelfen,
gewinnt Kraft und Mut aus dem Wissen,
dass man an ihn denkt, ihn vermisst, für ihn betet.

III. Der Neuanfang, den Noah nach der Sintflut macht,
beginnt mit einem Gottesdienst.
Er krempelt nicht erst die Ärmel hoch,
baut ein Haus und bestellt den Acker.
Nein, zuerst wird Gottesdienst gefeiert.
Eine Gemeinde entsteht.
Was diese Gemeinde zusammenhält,
ist der Bund, den Gott mit den Menschen unter dem Regenbogen schließt.
Eine Gemeinschaft braucht etwas, das sie verbindet.
Etwas, das selbst resilient ist gegenüber den Wirren des Lebens und des Schicksals.

Eine Familie kann Halt und Geborgenheit geben.
Aber sie kann auch schweren Belastungen ausgesetzt sein,
wenn eine Beziehung zerbricht,
wenn Krankheit oder Sorgen den Alltag bestimmen,
wenn ein geliebter Mensch nicht mehr da ist.

Die Gemeinde gibt Halt und schenkt Geborgenheit,
weil sie nicht abhängig ist von den Leistungen und dem Wohlwollen Einzelner -
auch nicht der Pfarrer*in,
sondern mit Gott im Bunde ist,
der niemals müde und matt wird.

Aber, könnte man jetzt schlau einwenden,
wenn man Kraft und Ausdauer direkt von Gott bekommen kann,
wenn der Glaube Flügel verleiht,
ist die Gemeinde doch nicht nötig!
Dann kann man es sich sparen, sonntags in den Gottesdienst zu gehen
und dort möglicherweise Leute zu treffen,
die nicht zum Freundeskreis gehören.

Die Wissenschaftler, die die Resilienz entdeckten und erforschten,
fanden heraus, dass die eigene Frömmigkeit
keinen Einfluss auf die innere Widerstandskraft hat.
Was zählt, ist nicht die Stärke des eigenen Glaubens,
sondern das Eingebundensein in eine Gemeinschaft.
Auch das leuchtet ein:
Wer gelernt hat, sich mit anderen auseinandezusetzen,
Verschiedenartigkeit und Fremdheit auszuhalten
und es zu ertragen, auch mal neben jemandem zu sitzen,
den man nicht kennt oder mag,
übt damit sozusagen für den Ernstfall.
Und stellt vielleicht überrascht fest,
dass gerade die* für mich da ist, von der* man es am wenigsten erwartet hatte.

IV. Heute sagt ihr ja zu eurer Taufe.
Ihr sagt ja zu Gottes Bund mit euch,
dessen Zeichen der Regenbogen und das Kreuz sind.
Ihr sagt auch ja zur Gemeinde, und sie sagt ja zu euch.
Ihr gehört zur Gemeinschaft der Christ*innen.
Diese Gemeinschaft ist nicht nur die Gemeinde hier in Rohr.
Es ist die landesweite, bundesweite, europaweite, weltweite Gemeinschaft der Christ*innen.
Jede Kirche ist euer Zuhause.
Jede Gemeinde ist eine Gemeinschaft, in der ihr willkommen seid.
Die bereit ist, euch zu tragen und zu unterstützen,
wenn ihr bereit seid, euch auf sie einzulassen.

In der Gemeinde begegnen wir unserem auferstandenen Herrn.
„Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind,
da bin ich mitten unter ihnen“, sagt Jesus (Matthäus 18,20).
Wo wir uns zum Gottesdienst versammeln, da ist Jesus.
Da gibt Gott „dem Müden Kraft,
und Stärke genug dem Unvermögenden“.
Da lässt er Adlerschwingen entstehen,
mit denen wir über uns hinauswachsen.

Natürlich wachsen uns nicht wirklich Flügel.
Natürlich bekommt man nicht wirklich einen Energieschub,
wie ihn das Brausegetränk verspricht.
Was man im Gottesdienst der Gemeinde findet, ist Resilienz.
Sind Momente der Klarheit, der Schönheit;
des Wissens, dass uns nichts trennen kann von der Liebe Gottes
und dass wir uns deshalb vor nichts und niemandem zu fürchten brauchen.

V. Ihr, liebe Konfirmanden, seid schon eine Weile unterwegs.
Ihr habt einiges geschafft, viel gelernt,
habt viel vor, habt Hoffnungen und Pläne.
Eure Konfirmation heute ist ein kurzer Zwischenhalt auf eurem Weg.
Eine Gelegenheit, eine kurze Pause einzulegen, um sich zu orientieren.
Und um festzustellen, wie viele Menschen euch auf eurem Weg unterstützen
und euch dafür Gutes wünschen:
Eure Familie.
Eure Verwandten.
Eure Freund*innen.
Und auch die Menschen, mit denen ihr hier in Rohr zusammenlebt, die Gemeinde.

Hier, in der Kirche, in diesem Gottesdienst,
wachsen wir alle über uns hinaus.
Hier verleiht Gott uns Flügel.
Hier beschließen wir, bessere Menschen zu werden und zu sein -
auch euch gegenüber.
Hier beschließen wir, toleranter gegenüber euren Macken zu sein;
euch zu helfen und für euch da zu sein;
euch zu akzeptieren, wie ihr seid,
und euch die Chance zu eigenen Fehlern, eigenen Erfolgen, einer eigenen Zukunft zu geben.

Gebe Gott, dass wir unseren guten Willen auch in die Tat umsetzen!
Amen.