Predigt zu Erntedank am 27.9.2020 über Markus 8,1-9
Zu dieser Zeit war wieder eine große Volksmenge bei Jesus zusammengekommen.
Da die Menschen nichts zu essen hatten,
rief Jesus die Jünger zu sich.
Er sagte zu ihnen:
»Die Volksmenge tut mir leid.
Sie sind nun schon drei Tage bei mir
und haben nichts zu essen.
Wenn ich sie hungrig nach Hause schicke,
werden sie unterwegs zusammenbrechen –
denn einige sind von weit her gekommen.«
Seine Jünger antworteten ihm:
»Wo soll in dieser einsamen Gegend das Brot herkommen,
um diese Leute satt zu machen?«
Und er fragte sie:
»Wie viele Brote habt ihr?«
Sie antworteten: »Sieben.«
Und er forderte die Volksmenge auf,
sich auf dem Boden niederzulassen.
Dann nahm er die sieben Brote.
Er dankte Gott, brach sie in Stücke
und gab sie seinen Jüngern zum Verteilen.
Und die Jünger teilten das Brot an die Volksmenge aus.
Sie hatten auch noch einige kleine Fische.
Jesus sprach das Segensgebet über sie
und ließ sie ebenfalls austeilen.
Die Menschen aßen und wurden satt.
Danach sammelten sie die Reste
und füllten damit sieben Körbe.
Es waren etwa viertausend Menschen.
Jetzt schickte Jesus sie nach Hause.
Liebe Schwestern und Brüder,
eine Wundergeschichte ist das,
die Geschichte von der Sättigung von 4.000 Menschen
mit sieben Broten.
Und man fragt sich:
Wie hat Jesus das gemacht?
Wie hat er 4.000 Menschen mit sieben Broten satt bekommen?
Hat sich das Brot tatsächlich auf wunderbare Weise vermehrt,
sodass am Ende mehr übrig blieb,
als am Anfang da war?
Das würde unseren Erfahrungen
und den Naturgesetzen widersprechen.
Oder war es ein symbolisches Mahl,
ein Abendmahl,
bei dem jeder nur ein winziges Stück bekam,
aber es war so schön, so heilig,
dass sich trotzdem alle gestärkt und gesättigt fühlten?
Man kann trefflich spekulieren
und vielleicht noch ganze andere „Erklärungen” dieses Wunders finden.
Am Ende steht man wieder am Anfang,
beim Wunder.
Was aber, wenn die wunderbare Brotvermehrung gar nicht das Wunder wäre?
Wenn wir die ganze Zeit sozusagen auf die falsche Stelle schauten?
So, wie ein Zauberer sein Publikum ablenkt,
um heimlich etwas zu vertauschen oder verschwinden zu lassen.
Man hat nicht gesehen, wie er das gemacht hat,
weil man woanders hin geschaut hat.
Wir schauen auf die sieben Brote und fragen uns,
wie diese sieben Brote so viele Menschen sättigen konnten.
Aber das Wunder sind nicht diese sieben Brote,
oder die sieben Körbe mit Brocken, die am Ende übrig blieben.
Solche Wunder können wir mittlerweile selber wirken:
Unsere Landwirtschaft erzielt Erträge,
die unsere Altvorderen für unvorstellbar,
für ein Wunder gehalten hätten.
Mit unserem Wissen und unserer Technik lassen wir wahre Wunder geschehen.
Unsere Produktivität in der Landwirtschaft ist so hoch,
dass auf der Welt niemand hungern müsste,
wenn uns nur das Wunder gelänge,
die Erzeugnisse der Landwirtschaft gerecht zu verteilen.
4.000 Leute satt machen? - kein Problem!
Das eigentliche Wunder ist ein anderes,
und es geschieht an anderer Stelle der Geschichte.
Da, wo Jesus sagt:
„Die Volksmenge tut mir leid”.
Das ist das Wunder.
Warum ist das ein Wunder?
Was ist schon besonderes an diesem Satz:
„Die Volksmenge tut mir leid”?
Hört man das nicht immer wieder mal:
Die oder der kann einem leid tun.
Nicht immer ist der Satz so gemeint,
wie Jesus ihn spricht: Aus Mitleid.
Oft ist er aus der Position dessen gesagt,
dem es gut geht und der froh ist,
dass es einem nicht so geht wie denen,
die einem leid tun können.
Es ist die Position eines Beobachters,
der sich nicht verantwortlich fühlt,
nicht verpflichtet, zu helfen, einzugreifen.
Jesus aber fühlt sich verantwortlich.
Es fühlt sich verantwortlich für wildfremde Menschen,
die er wahrscheinlich nicht einmal kennt.
Was kann er dafür, dass sie ihm nachlaufen?
Was kann er dafür, dass sie nicht an Verpflegung dachten,
als sie ihm nachgelaufen sind?
Was kann er dafür, dass sie einen weiten Heimweg haben?
Das wären wahrscheinlich unsere Überlegungen.
Bevor wir helfen, fragen wir uns, ob wir zuständig sind.
Ob diese Leute uns etwas angehen.
Und ob es überhaupt an uns ist, zu helfen.
Nehmen wir z.B. die Flüchtlinge in Moria.
Was können wir dafür, dass sie ihre Heimat verlassen haben?
Was können wir dafür, dass ihr Lager abgebrannt ist?
Was haben wir mit denen zu tun?
Gibt es nicht noch andere Länder in Europa,
die sich um sie kümmern könnten und sollten?
Oft wird solches Kümmern auch
als Einmischung in fremde Angelegenheiten empfunden,
die einen nichts angehen.
Man will mit fremden Leuten keinen Ärger bekommen
und es sich mit seinen Nachbarn nicht verderben.
Also hält man sich lieber heraus.
Man fühlt sich nicht verantwortlich
für den Müll, den ein anderer weggeworfen hat,
für die Kinder, die zuhause kein Mittagessen bekommen,
für die Jugendlichen, die nichts mit sich anzufangen wissen,
für die Alten, die einsam zuhause hocken.
Man fühlt sich nicht verantwortlich für die Gemeinde,
in der man lebt,
für den Staat, zu dem man gehört,
für die Erde, auf der wir zuhause sind.
Das eigentliche Wunder in dieser Geschichte ist,
dass einer, Jesus, sich verantwortlich fühlt
und Verantwortung übernimmt:
Er sorgt dafür, dass die 4.000 zu Essen bekommen.
Jesus fühlt sich verantwortlich
und übernimmt Verantwortung
auch für uns.
Das ist das Wunder:
Dass wir ihm nicht egal sind,
wie uns oft viele Menschen, viele Dinge egal sind.
Jesus sind wir nicht egal.
Er opfert sich für uns auf,
er opfert sich für uns,
weil wir ihm leid tun.
Nicht dieses Leidtun von oben herab,
aus dem sicheren Gefühl heraus,
dass es mir besser geht als diesem armen Kerl da.
Sondern ein Leidtun aus Mitleid,
aus dem Mit-Leiden mit uns,
dem Mitfühlen mit uns.
Jesus will nicht, dass es uns schlecht geht,
dass wir Kummer haben, Sorgen haben, leiden.
Jesus will nicht, dass wir Hunger haben
nach etwas, das wirklich satt macht:
nach Liebe, nach Aufmerksamkeit,
nach Anerkennung, nach einem Sinn.
Wir müssen nicht wie Jesus sein.
Wir können nicht Jesus sein.
Aber heute, an Erntedank,
können wir es uns einmal eingestehen,
wie gut es tut,
dass wir einem, Jesus, nicht egal sind.
Wie gut es tut,
dass einer, Jesus, sich um uns sorgt
und sich für uns verantwortlich fühlt.
Dann fällt uns vielleicht ein und auf,
dass es nicht nur Jesus ist:
Dass da auch andere sind,
denen wir nicht egal sind,
die sich um uns sorgen,
und wie gut das tut,
wie schön das ist: ein Wunder.
Wenn uns das heute, an Erntedank,
bewusst werden sollte,
dann finden wir vielleicht Gelegenheit,
Danke zu sagen:
Danke, Jesus, dass du dich um uns sorgst,
dass du dich für uns verantwortlich fühlst,
dass wir dir nicht egal sind.
Vielleicht gelingt es uns auch,
denen unsere Dankbarkeit zu zeigen,
die so zu uns sind, wie Jesus es ist.
Und vielleicht geschieht sogar ein Wunder:
Das Wunder, dass auch wir uns verantwortlich fühlen
für die Menschen um uns
und für wildfremde Menschen,
für den Ort, an dem wir leben
und für diesen Planeten,
der unsere Heimat ist.
„Die Volksmenge tut mir leid”.
Damit dieses Wunder geschieht,
braucht es nicht viel.
Nur dieses eine:
Mitgefühl.
Gebe Gott,
dass wir dieses Mitgefühl empfinden.
Amen.