Donnerstag, 15. Oktober 2020

abgestempelt

Predigt am 19. Sonntag nach Trinitatis, 18.10.2020, über Epheser 4,22-32:
 
Ihr wurdet gelehrt,  
mit eurer früheren Lebensweise auch den alten Menschen abzulegen,  
der zugrunde geht im Verlangen nach dem Schein;
eure Einstellung durch den Geist zu erneuern
und den neuen Menschen anzuziehen,
der Gott gemäß geschaffen wurde in wahrhafter Gerechtigkeit und Heiligkeit.
Darum lasst das Lügen und „sprecht die Wahrheit,
jeder mit seinem Mitmenschen”
(Sacharja 8,16),
denn wir sind aufeinander angewiesen.
„Wenn ihr schon zornig sein müsst,
sündigt wenigstens nicht”
(Psalm 4,5).
Die Sonne soll über eurem Zorn nicht untergehen,
gebt auch dem Teufel keine Chance.
Wer bisher gestohlen hat, stehle nicht mehr,
vielmehr mühe er sich, mit seinen eigenen Händen das Gute zu bewirken,
damit er etwas hat, das er dem Bedürftigen geben kann.
Kein schlechtes Wort komme aus eurem Mund,
sondern wenn, dann ein Gutes,
das aufbaut, wo Bedarf dazu besteht,
damit es den Hörern Gottes Gnade mitteilt.
Und betrübt nicht den Heiligen Geist Gottes,
durch den ihr versiegelt seid für den Tag der Erlösung.
Alle Bitterkeit, allen Fanatismus, allen Zorn,
alles Jammern und Lästern schafft weg von euch mit allem Schlechten.
Seid vielmehr zueinander gutmütig, barmherzig
und vergebt einander,
wie Gott euch durch Christus vergeben hat.
 
 
Liebe Schwestern und Brüder,
 
in der langen, gut gemeinten Liste von Ermahnungen
bin ich über einen Satz gestolpert -
und Sie vielleicht auch:
„betrübt nicht den Heiligen Geist Gottes”.
Wie soll man das verstehen?
Wie kann man den Heiligen Geist „betrüben”,
also traurig machen?
 
Der Heilige Geist kam bei unserer Taufe über uns.
Da war nichts zu sehen und nichts zu spüren.
Trotzdem ist er bei uns, in uns -
nicht so, dass wir ihn besitzen
und in irgendeiner Weise benutzen könnten.
Vielmehr sind wir mit ihm „versiegelt”,
also bezeichnet, abgestempelt,
wie mit einem Muttermal oder einer Tätowierung:
Ein unauslöschliches Zeichen dafür,
dass wir zu Gott gehören, Gottes Kinder sind.
 
Diesen Geist Gottes kann man offenbar traurig machen.
Aber wie, und wodurch macht man ihn traurig?
Der rätselhafte Satz befindet sich in einer Aufzählung von Dingen,
die man nicht tun soll:
Lügen. Zornig sein. Stehlen.
Bedeutet das, der Heilige Geist wird traurig,
wenn wir so etwas tun?
 
Es gibt eine Form schwarzer Pädagogik,
bei der Eltern ihren Kindern,
statt mit ihnen zu schimpfen,
wenn sie etwas ausgefressen haben,
oder ihnen zu erklären,
warum das nicht richtig war,
ein schlechtes Gewissen machen,
indem sie ihnen sagen:
„Damit hast du mich sehr, sehr traurig gemacht.”
Das Kind hat nicht nur etwas falsch gemacht,
es hat auch noch den liebsten Menschen verletzt, den es hat.
Jetzt lastet eine doppelte Schuld auf seinem Gewissen
und macht die Tat größer, als sie war:
Statt des zerbrochenen Tellers, der zerrissenen Hose
hat es Mutter oder Vater selbst auf dem Gewissen.
 
Im Glauben steht an Stelle von Mutter und Vater
aber nicht der Heilige Geist, sondern Gott.
Wenn Gott solche Mittel schwarzer Pädagogik anwenden würde,
hätten wir ihn traurig gemacht.
Aber Gott ist nicht betrübt.
Gott wird zornig:
Er konfrontiert uns mit dem, was wir taten.
Aber er macht uns kein schlechtes Gewissen.
Sobald wir unser Verhalten bereuen,
ist auch Gottes Zorn verraucht.
Da gibt es kein Schmollen, keine Vorwürfe, kein Nachkarten:
„Wer bisher gestohlen hat, stehle nicht mehr” -
das ist alles.
Was vorher war, interessiert nicht mehr.
Wichtig und entscheidend ist, was ich jetzt tue.
 
Wenn es also nicht unser falsches Verhalten,
mit biblischen Worten: unsere „Sünde” ist,
die den Heiligen Geist traurig macht,
dann sind es vielleicht die Folgen unseres Verhaltens
für unsere Mitmenschen?
Alles, was der Predigttext aufzählt,
betrifft ja das Miteinander:
Lüge, Zorn, Diebstahl geschehen zum Nachteil eines anderen.
In diesem anderen, dem Mitmenschen, begegnet uns Jesus.
Jesus, dem ich selbst Gutes tue,
wenn ich dem Mitmenschen helfe,
Jesus, den ich abweise,
wenn ich dem Mitmenschen die Hilfe versage (Matthäus 25,31-46).
 
Aber so falsch Lüge, Zorn und Diebstahl sind,
sie fallen nicht unter „unterlassene Hilfeleistung”.
Es ist wichtig, zu erkennen und zu unterscheiden,
dass die bessere Gerechtigkeit,
die Jesus von denen erwartet, die ihm nachfolgen (Matthäus 6,33),
nicht darin besteht,
dass man ein vorbildliches
und moralisch einwandfreies Leben führt.
Man kann das tun,
aber es ist weder besonders christlich,
noch ist es die Voraussetzung fürs Christsein.
Was Jesus von uns verlangt,
ist Nächstenliebe in Wort und Tat.
Wenn wir erkennen,
dass uns in unseren Mitmenschen Jesus selbst begegnet,
und wir ihnen deshalb helfen,
wird das uns selbst und unser Leben verändern.
Wir werden dadurch zu „besseren” Menschen,
die nicht mehr lügen, zornig sein oder andere bestehlen möchten.
Aber das ist nicht die Voraussetzung.
Erst kommt die Nächstenliebe,
dann kommt, mehr oder weniger von selbst, alles andere.
 
Was bleibt dann aber noch,
womit wir den Heiligen Geist traurig machen könnten?
Es muss ja etwas sein,
das jede und jeder von uns tun,
das jeder und jedem von uns passieren kann.
Sehen wir uns noch einmal das Beispiel an:
„Wer bisher gestohlen hat, stehle nicht mehr”.
An diesem Satz fällt auf, dass er so kurz ist.
Es heißt nicht:
”Wer bisher stahl, ist ein Dieb und soll sich schämen,
soll Reue zeigen und alle um Verzeihung bitten,
und wenn er viel Gutes getan hat  
und lange Zeit nicht rückfällig geworden ist,
dann kann man ihm vielleicht vergeben
und ihn wieder in die Gemeinschaft aufnehmen.”
Man würde meinen, dass es da stehen müsste,
aber das steht da nicht.
Da steht nur:
„Wer bisher gestohlen hat, stehle nicht mehr”.
Alles, was von einem Sünder verlangt wird,
ist, nicht mehr zu sündigen.
 
Das klingt großartig -
und ist doch auch befremdlich.
Wir sind es nicht gewohnt,
dass man einfach ein anderer werden kann.
Für uns gehören Beschämung und Reue,
Vorwürfe und Vorhaltungen dazu.
Und ein „gesundes Misstrauen”,
wie wir das nennen,
einem Menschen gegenüber,
der einmal etwas Falsches getan hat.
Es hängt ihm an, man vergisst es nicht.
Wir nehmen einem Täter erst ab,
dass er sich geändert hat,
wenn er sich reuig und zerknirscht zeigt.
Und wir sind erst zum Verzeihen bereit,
wenn wir unserem Ärger, unserer Verletzung und Enttäuschung
gehörig Luft machen konnten.
 
So sind wir.
Und so müssen wir sein.
Um unserer selbst, und um der Opfer willen
müssen wir darauf bestehen,
dass ein Täter Reue und ein anderes Verhalten zeigt,
bevor wir ihm seine Umkehr glauben.
Und wenn wir selbst zu Tätern wurden,
müssen wir es aushalten,
dass unser Opfer misstrauisch bleibt,
uns nicht vergeben kann oder vergeben will.
 
Wir sind so.
Aber Gott ist nicht so.
Wenn Gott vergibt, dann ist uns vergeben,
ohne Wenn und Aber,
außer dem „Sündige hinfort nicht mehr” (Johannes 8,11).
Und selbst, wenn uns das nicht gelingt,
was es meistens tut,
ist Gott zur Vergebung bereit.
Wieder. Und wieder. Und wieder.
70 mal 7 mal, mindestens (Matthäus 18,22).
Der Heilige Geist, der seit unserer Taufe in uns ist,
verbürgt sich dafür, dass das so ist.
Er ist das Siegel, unser Pfand, dass es stimmt.
 
Und jetzt ahnen wir vielleicht,
womit wir den Heiligen Geist traurig machen:
Wenn wir das nicht glauben können.
Wenn wir nicht darauf vertrauen,
dass Gott uns vergeben hat.
Wenn wir uns selbst unsere Fehler wieder und wieder vorwerfen.
Wir betrüben den Heiligen Geist,
wenn wir meinen, wir müssten uns schämen,
wir wären schlechte Menschen,
die in Sack und Asche gehen müssten,
damit Gott ihnen vielleicht eines Tages vergibt.
 
Wir betrüben damit den Heiligen Geist,
weil wir dadurch immer noch am Alten hängen,
am Alten Menschen, der wir einmal waren,
durch Gottes Vergebung aber nicht mehr sind.
Durch Gottes schöpferisches Handeln an uns
sind wir neue Menschen geworden.
 
Wenn wir das begreifen und ergreifen könnten,
dann könnte uns vielleicht sogar der nächste Schritt gelingen:
Auch unsere Mitmenschen so anzusehen.
Sie anzusehen als die, denen Gott vergeben
und aus denen er neue Menschen gemacht hat.
Dann könnten wir darauf verzichten,
sie auf ihre Vergangenheit festzunageln
und ihnen die Chance geben,
andere zu werden,
anders zu sein.
Das wäre etwas,
über das der Heilige Geist vor Freude springen würde.