Freitag, 16. April 2021

Soll ich meines Bruders Hüter sein?

Predigt am Sonntag Miserikordias Domini, 18. April 2021, über Ezechiel 34,1-16:
Gott spricht: Ich suche meine Schafe und kümmere mich um sie. (Ezechiel 34,11)

Eine beruhigende Zusage: Gott selbst kümmert sich um seine Schafe! Da möchte man gern sein Schäflein sein. Hirte zu sein ist aber eigentlich gar nicht Gottes Aufgabe. Gott springt nur als Hirte ein, weil die eigentlichen Hirten ihrer Aufgabe nicht nachkamen. Sie kümmerten sich nicht um Kranke und Verletzte, sie suchten nicht das verlorene Schaf, sie beschützten die Herde nicht vor wilden Tieren. Und nicht nur das, sie bedienten sich selbst großzügig aus der Herde, schoren und aßen die Schafe, die sie beschützen sollten. Die Hirten haben die ihnen anvertrauten Schäflein nicht behütet. Die Geschichte von Kain und Abel kommt einem in den Sinn. Nachdem Kain seinen Bruder erschlagen hat, fragt Gott: „Wo ist dein Bruder Abel?” Kain antwortet: „Ich weiß nicht; soll ich meines Bruders Hüter sein?” (1.Mose 4,9).

„Soll ich meines Bruder Hüter sein?” Kains Frage ist auch unsere: Was sind wir denn, Schafe - oder Hüter? Wenn man nach einer Antwort auf diese Frage sucht, fällt zunächst auf, dass das Bild vom Hirten zwei Seiten hat: Der Hirte kümmert sich zwar um seine Schafe, verteidigt sie gegen wilde Tiere, sucht Weideplätze, pflegt Kranke – aber nicht als Selbstzweck, sondern weil die Schafe geschoren, verkauft oder geschlachtet werden sollen. Ein Hirte handelt am Ende gegen die Schafe. Da möchte man kein Schaf sein, sondern doch lieber ein*e Hirt*in.

Jesus sagt von sich im Evangelium: „Ich bin der gute Hirte” (Johannes 10,11). Ein guter Hirte ist er, weil er nicht reißaus nimmt, wenn der Wolf kommt, sondern gegen ihn kämpft. Ein guter Hirte ist er vor allem, weil er sogar sein Leben für uns opfert. Darin unterscheidet er sich vom herkömmlichen Hirten, der im Zweifel eher ein Schaf opfert als sich selbst. Er unterscheidet sich auch dadurch, dass nicht am Ende die Schafe geschlachtet werden, sondern dass er sein Leben für die Schafe gibt. Aber auch Jesus hütet uns nicht als Selbstzweck, ohne dass er etwas von uns will. Er will uns nicht verkaufen oder gar schlachten, und er will uns auch nicht an die Wolle. Aber er will, dass wir nach seinem Vorbild handeln und selbst zu Hirtinnen und Hirten werden.

Durch sein Opfer, seinen Tod am Kreuz, ist Jesus unser Hirte geworden. Durch seine Auferstehung hat er uns zu Hirtinnen und Hirten gemacht. Denn nun ist er als Hirte immer bei uns, und nichts kann uns von ihm trennen. Unser Hirte geht ständig an unserer Seite. Darum müssen wir uns um uns selbst keine Sorgen mehr machen, können Hüter*innen unserer Schwestern und Brüder sein. Weil der gute Hirte Jesus für uns da ist, können wir für andere da sein.

„Soll ich meines Bruders Hüter sein?” Eigentlich ist das keine Frage. Gott hat uns zu Hüter*innen unserer Schwestern und Brüder gemacht. Er wurde unser Hirte, damit wir uns nicht mehr um uns selbst kümmern müssen. Keine Angst haben müssen, zu kurz zu kommen, leer auszugehen, verloren zu gehen oder allein zurück zu bleiben. Dadurch haben wir einen großen Freiraum, einen Spielraum gewonnen. Die bösen Hirten, über die Gott im Ezechielbuch sein Donnerwetter hereinbrechen lässt, haben diesen Spielraum allein für sich genutzt. Ihnen waren die Schafe, die keinen Hirten hatten, gleichgültig. Wir können unschwer eine Parallele zu unserer heutigen Zeit ziehen. Sind uns unsere Mitmenschen gleichgültig, oder nehmen wir Anteil an ihrem Schicksal, ihrem Leid – und fühlen wir uns dafür verantwortlich, dass es ihnen besser geht? Wir nehmen Anteil am Tod von Prinz Philipp, am Leben der Stars und der Prominenten – interessiert uns auch das Leben unserer Nachbarin, des Flüchtlings, der Mitmenschen, die sich, wie wir, vor einer Infektion durch das Corona-Virus schützen müssen?

Gott ist unser Hirte. Damit schenkt er uns einen großen Freiraum – wie wir ihn nutzen, ist allein unsere Entscheidung. Aber wir werden der Frage Gottes nicht ausweichen können: Wo ist dein Bruder, wo ist deine Schwester? Was werden wir ihm antworten?