Montag, 15. August 2022

Vertrauen gewährt

Predigt am 9. Sonntag nach Trinitatis, 14.8.2022, über Matthäus 25,14-30 
Lothar Zenetti, i Ev. Gesangbuch unter Liednummer 513


„Ein Mensch, der außer Landes ging, rief seine Knechte und vertraute ihnen sein Vermögen an.” 

Liebe Schwestern und Brüder, 

 auf diesen Satz lässt sich die Parabel von den anvertrauten Talenten zusammenfassen. 
Ich gebe zu, diese nüchterne Zusammenfassung scheint der Dramatik der Parabel kaum gerecht zu werden. Sie berichtet davon, wie die Knechte mit dem Vermögen umgehen, das ihnen anvertraut wurde. Und wie am Tag der Abrechnung zwei von ihnen gelobt und befördert werden, einer aber getadelt und hinausgeworfen wird. Doch die Dramatik, die sich in ihr entfaltet, liegt bereits in diesem einem Wort beschlossen: In dem Wort „anvertrauen”. 
 Im „Anvertrauen” steckt das Vertrauen, ohne das man niemandem etwas anvertrauen würde. Der abreisende Herr vertraut darauf, dass seine Knechte in seinem Sinne handeln werden. Das wirft er am Ende auch dem Knecht vor, der sein Talent vergrub, statt damit zu handeln: „Du wusstest, dass ich ernte, wo ich nicht gesät habe, und einsammle, wo ich nicht ausgestreut habe. Du hättest mein Geld zu den Wechslern bringen sollen!” Ohne Vertrauen kann man niemandem etwas anvertrauen. Nur selten wird einem das wirklich bewusst. Wenn man z.B. sein Lieblingsbuch verleiht, oder sein Auto. Da hat man dann schon ein mulmiges Gefühl und fragt sich, ob man Buch oder Auto heil wieder zurückbekommt. In den meisten Fällen aber machen wir uns keine Gedanken darüber. 
Bemerkenswerterweise gerade dann, wenn wir anderen etwas viel wertvolleres anvertrauen als Buch oder Auto: Wir vertrauen unsere Kinder fremden Menschen an, wenn wir sie in den Kindergarten oder in die Schule bringen. Wir vertrauen darauf, dass Erzieher:innen und Lehrer:innen sich mit der gleichen Aufmerksamkeit, Fürsorge und Liebe unserer Kinder annehmen, wie wir das zuhause tun. Und wissen zugleich, dass das bei Gruppen und Klassen von 20 oder 30 Kindern gar nicht möglich ist. Dennoch vertrauen wir, ohne uns darüber Gedanken zu machen. Wir haben ja selbst Kindergarten und Schule durchlaufen und erfahren, dass man sie in der Regel einigermaßen unbeschadet übersteht - oder dass das sogar eine richtig schöne Zeit war, an die wir gern zurückdenken und die wir nicht missen wollten.
Leider gibt es auch in Kindergarten und Schule unnütze Knechte, die das Vertrauen nicht verdienen, das man in sie gesetzt hat. Obwohl sie genau wissen, was von ihnen erwartet wird. Die Missbrauchsskandale in kirchlichen, aber auch in staatlichen und privaten Einrichtungen und Schulen sind die extremsten Beispiele dafür. Die kleinen oder größeren Gemeinheiten, die manche von uns erleben mussten, lassen sich damit nicht vergleichen; sie stehen in keinem Verhältnis zu dem, was die Opfer von Missbrauch erleiden mussten. Dennoch waren Demütigung oder Wegsehen, Gleichgültigkeit oder Respektlosigkeit auch schmerzhaft. Sie haben vielleicht nicht geschadet, wir sind darüber hinweg gekommen. Trotzdem wurde das Vertrauen unserer Eltern, wurde unser Vertrauen enttäuscht. Und manchmal hat man sich vielleicht sogar gewünscht, es möchte eine Abrechnung geben wie in der Parabel, bei der die unnützen Knechte hinausgeworfen werden und das ertragen müssen, was sie anderen antaten. 
 Natürlich und in weit größerem Maße gibt es auch das andere: Dass unser Vertrauen gerechtfertigt war. In Kindergarten und Schule konnten wir viele gute Erfahrungen machen durch liebevolle, einfühlsame Erzieher:innen, durch vorbildliche Lehrer:innen, die wir vielleicht sogar ein bisschen anhimmelten oder verehrten. Auch unsere Kinder machten und machen solch gute Erfahrungen. Diese guten Erfahrungen sind große Schätze. Wie die 10 und 4 Talente, die die tüchtigen Knechte erwirtschaften. 
Unser Vertrauen wird nicht nur dort oft belohnt, wo wir unsere Kinder anderen anvertrauen. Auch in der Partnerschaft spielt Vertrauen eine große Rolle. Auch da kann es enttäuscht werden. Viel mehr aber gibt es Halt und Kraft, Energie und Lebensfreude, die weit über das hinausgehen, was man sich selbst vorgestellt oder zu träumen gewagt hat. 
Eine solche, auf Vertrauen gegründete Beziehung ist auch unsere Beziehung zu Gott. Auch hier haben wir manchmal das Gefühl, unser Vertrauen sei enttäuscht worden. Wenn es im Leben nicht so geht, wie wir dachten. Wenn wir Krankheit, Leid, den Tod eines geliebten Menschen erfahren. Aber Gott hat uns nie einen Rosengarten versprochen. Die Welt, die er geschaffen und in die er uns gerufen hat, ist kein gemachtes Bett, kein Paradies. Gott hat sie uns übergeben und anvertraut, damit sie ein Lebensraum für Mensch und Tier werde und bleibe. Gott ist sozusagen abgereist und hat uns die Verantwortung für seine Schöpfung übertragen. 
 Trotzdem lässt Gott uns mit der Welt nicht allein. Gott ist und bleibt ansprechbar für uns. Gott ist und bleibt in unserer Nähe. Durch das Leiden und Sterben seines Sohnes hat Gott uns gezeigt, dass er Gutes für uns will, uns vergeben und unser Leben vor dem Tod retten wird. Unser Leben wird unter allen Umständen ein gutes Ende nehmen. Wir werden nicht hinausgeworfen. Auf uns wartet am Ende kein Heulen und Zähneklappern. 
Gott begleitet uns nicht nur durchs Leben und sorgt dafür, dass es ein Happy End haben wird. Gott hat uns so viel geschenkt, was unser Leben lebenswert macht und was uns hilft, das Leben zu bestehen, Die Talente, die der Hausherr seinen Knechten anvertraut, sind zu den sprichwörtlichen Talenten geworden, die jede:r von uns besitzt. Wir übersehen sie, wenn wir darunter nur die herausragenden Leistungen verstehen, die Sportler:innen, Musiker:innen oder Künstler:innen erbringen. Auch Zuhören ist ein Talent. Unterrichten. Kindern ein:e gute Begleiter:in sein. Alten Menschen hilfsbereit und respektvoll begegnen. Einen „grünen Daumen” haben. Tiere gut und artgerecht behandeln. Mit all diesen und vielen weiteren Talenten gestalten wir unser Miteinander auf dieser Erde, gestalten und bewahren wir Gottes Schöpfung. 
Wie der abreisende Herr in der Parabel, so hat Gott uns Talente anvertraut, mit denen wir wirtschaften, d.h.: seine Schöpfung bewahren sollen. Gott vertraut uns. Gott vertraut darauf, dass wir wissen, was er von uns erwartet. Gott vertraut darauf, dass wir in seinem Sinne handeln. Rechtfertigen wir dieses Vertrauen? Gehen wir mit der Welt und unseren Mitmenschen so um, wie wir es für unsere liebsten Dinge und für unsere größten Schätze, unsere Kinder, wünschen? Sind wir uns bewusst, dass Gott Rechenschaft über unsere Verwaltung verlangen könnte? Oder rechnen wir nicht mehr damit, dass der Herr der Welt jemals zurückkehren könnte? 
Wenn man den Zustand unserer Welt betrachtet, muss man den Eindruck bekommen: Viele haben ihre Talente, die sie für das Miteinander auf dieser Erde und für den Erhalt unserer Welt bekamen, tief vergraben. Die meisten glauben nicht, dass die Welt ihnen nicht gehört, dass sie nicht damit tun können, was sie wollen, sondern dass sie ihnen nur zu treuen Händen anvertraut ist. 
 Wer von diesen sind wir? Und wer wollen wir sein? Es ist nicht zu spät, das Vertrauen zu rechtfertigen, das Gott in uns setzt. Es ist nicht zu spät, zu handeln und mit unseren Talenten zu wuchern. Gott jedenfalls hört nicht auf, uns zu vertrauen. Trotz allem, was wir Menschen seiner Schöpfung, unseren Mitmenschen und Mitgeschöpfen antun. Dieser Vertrauensvorschuss Gottes gibt uns Kraft, das Leben auf dieser wundervollen, gefährlichen und gefährdeten Welt zu meistern. Die Kraft, das Leben, Gottes Schöpfung, zu bewahren. Amen.