Samstag, 16. Juli 2022

Ein Segen sein

Predigt am 5. Sonntag nach Trinitatis, 17. Juli 2022, über Gen 12,1-4:

Deutsche Emigranten gehen an Bord eines in die USA fahrenden Dampfers (um 1850)


Gott sprach zu Abram:

Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft

und aus deines Vaters Haus in ein Land, das ich dir zeigen will.

Und ich will dich zum großen Volk machen

und will dich segnen und dir einen großen Namen machen,

und du sollst ein Segen sein.

Ich will segnen, die dich segnen, und verfluchen, die dich verfluchen;

und in dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden.

Da zog Abram aus, wie der Herr zu ihm gesagt hatte.



Liebe Schwestern und Brüder,


„geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft

und aus deines Vaters Haus.”

Warum lässt jemand alles hinter sich

und zieht in die Fremde, ins Ungewisse?

Niemand gibt freiwillig seine Komfortzone auf,

sein Elternhaus, seine vertraute Umgebung,

seine Heimat, seine Muttersprache,

wenn er oder sie nicht unbedingt muss.

Die Heimat verlässt man nur gezwungenermaßen.

Wie im Märchen die Bremer Stadtmusikanten.


Die Bremer Stadtmusikanten würden auf die Frage

nach dem Warum antworten:

„Etwas Besseres als den Tod findest du überall.”

Esel, Hund, Katze und Hahn aus dem Märchen hatten gehofft,

bei ihren Herrinnen und Herren das Gnadenbrot zu erhalten.

Aber die wollten ihnen ans Leben.

Also nahmen sie Reißaus,

denn etwas Besseres als den Tod findest du überall.


So flohen gestern noch Menschen aus Syrien,

fliehen heute Menschen aus der Ukraine.

Morgen werden vielleicht Menschen aus der Sahelzone fliehen,

weil es besser ist, die Heimat aufzugeben,

als im Krieg oder vor Hunger zu sterben.


Abram aber muss nicht fort.

Elternhaus, Verwandtschaft, Heimat verlässt er ohne Not.

Was treibt ihn dazu?


Mit Abram, der später Abraham heißen wird,

beginnt der Glaube.

Abraham verlässt seine Heimat aufgrund der Hoffnung,

dass Gott ihn in ein Land bringt,

wo er der Stammvater eines großen Volkes werden wird.

Anhand dieses Verhaltens Abrams

beschreibt der Hebräerbrief den Glauben als

„eine feste Zuversicht auf das, was man hofft,

und ein Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht” (Hebr 11,1).

Glaube vertraut auf etwas, das erst noch kommen muss.

Und, davon ist der Glaube überzeugt, auch kommen wird.

Abram ist der erste Glaubende.

Er ist der Vorläufer aller Gläubigen.


Das Land, das Gott Abram verspricht, ist das Land Israel.

Das Land der Verheißung.

Das Gelobte Land hat zu allen Zeiten Menschen angelockt.

Im 19. Jahrhundert waren die Vereinigten Staaten so ein Gelobtes Land.

Auswanderer aus Mecklenburg und vielen anderen Teilen Deutschlands

wollten dort ihr Glück machen.

Die meisten waren, was man heute „Wirtschaftsflüchtlinge” nennt:

Unzufriedene, die in der alten Heimat keine Zukunft für sich sahen.

In der Fremde wollten sie ein besseres Leben führen,

auf eigener Scholle ihre eigenen Herren sein.


Auf diese Hoffnung hin gaben sie ihr ganzes Erspartes

für eine Schiffspassage im untersten Deck.

Ohne einen Pfennig in der Tasche

zogen sie in ein Land, das sie nicht kannten

und dessen Sprache sie nicht beherrschten.

Wie stark muss die Hoffnung sein,

wenn sie zu einem so endgültigen Schritt beflügelt!

Wie groß das Leiden an den Verhältnissen in der Heimat,

wenn man alles aufgibt,

denn etwas Besseres als den Tod findest du überall.


Wie aber kommt es dazu,

dass der Glaube einen Menschen wie Abram dazu bringt,

die Komfortzone zu verlassen,

das Gewohnte, Bequeme, Vertraute

und alle Sicherheiten aufzugeben?

Abram tut es ja ohne Not - im Gegenteil:

Abram verzichtet auf die Sicherheiten,

die ihm sein Elternhaus, seine Verwandtschaft

und seine vertraute Heimat bieten.

Er verzichtet auf eine Zukunft, die für ihn bereit liegt:

In die Fußtapfen seines Vaters zu treten,

den Betrieb von ihm zu übernehmen

und eines Tages an seine Kinder weiterzugeben.

Offenbar muss der Glaube ihm etwas bieten,

das besser ist als diese Sicherheiten,

besser als eine gemachte Zukunft.


Wie kommt man überhaupt zum Glauben?

Glauben ist offensichtlich etwas,

was alle Menschen in sich haben,

was allen Menschen möglich ist.

Aber nur wenige tun es.


Man könnte einwenden:

Auch die Auswanderer, die Flüchtlinge glauben.

Sie sind zuversichtlich, dass sie eine bessere Zukunft erwartet.

Und sie zweifeln nicht daran, dass diese bessere Zukunft

in einem fremden Land zu finden ist.


Der Unterschied dieser Erwartungen der Auswanderer

zum Glauben Abrams besteht darin,

dass der Glaube nicht etwas mit Händen zu Greifendes,

nichts Materielles erhofft, sondern den Segen.

Segen ist nichts, was man in die Tasche stecken

oder zu Geld machen könnte.

Segen lässt sich auch nicht beschreiben.

Höchstens umschreiben,

wie es der aaronitische Segen am Schluss des Gottesdienstes tut:


„Gott segne dich und behüte dich.”

Behüten ist, was Eltern für ihre Kinder tun.

Es ist mehr als Aufpassen, dass ihnen nichts passiert.

Es ist ein wohlwollendes Begleiten,

das das Beste für das Kind will und erhofft,

das sich über Erfolge des Kindes freut

und sie ihm von Herzen gönnt.


„Gott lasse leuchten sein Angesicht über dir

und sei dir gnädig.”

Das leuchtende Angesicht sahen wir zum ersten Mal,

als unsere Eltern sich über unser Kinderbettchen beugten.

Das leuchtende Angesicht sagt:

Ich freue mich über dich. Ich bin stolz auf dich.

Du bist schön, du bist wunderbar.

Ich habe dich lieb.

Dieses leuchtende Angesicht ist Gnade.

Denn wenn man Fehler macht,

wenn man jemanden verletzt,

etwas Falsches oder Unrechtes tut,

glaubt man nicht, dass andere sich noch über eine:n freuen können,

dass man noch Liebe verdient.

Mit seinem Segen sagt Gott aber genau das:

Ich habe dich trotzdem lieb.


„Gott erhebe sein Angesicht auf dich

und gebe dir Frieden.”

Solange etwas nicht fertig,

solange die Zukunft ungewiss,

solange ein Streit nicht beigelegt ist,

findet man keinen Frieden.

Wenn Gott auf uns schaut, indem er sein Angesicht erhebt,

also seinen Blick auf uns richtet,

ist er wie eine Mutter oder ein Vater,

die ihrem Kind das Vertrauen geben:

Du schaffst das. Ich vertraue dir. Ich glaube an dich.


Der Segen, den der Glaube erwartet und erfährt,

ist also kein Ziel wie das Gelobte Land,

wie die Erfüllung eines Traumes,

wie ein Beruf oder eine Berufung, für die man sich entscheidet.

Der Segen ist der Weg zu diesem Ziel.

Er ist die Kraft,

die uns das Leben bestehen lässt.


Jetzt wird erkennbar, wie man zum Glauben kommt:

Wenn diese Kraft, das Leben zu bestehen, fehlt,

oder geschwächt ist.

Weil kein Angesicht leuchtet, wenn man anderen begegnet.

Oder man es nicht bemerkt,

weil man den Kopf gesenkt hält

aus einem Gefühl der Scham, der Schuld, der Minderwertigkeit.

Weil man kein Vertrauen spürt

oder kein Selbstvertrauen.

Weil man sich schutzlos fühlt.

Dann ist der Glaube besser als alles, was man hat.

Er ist das Beste, was einem passieren kann.


Wer sich auf den Glauben einlässt,

erfährt den Segen

und kann ihn, wenn es gut geht, auch annehmen.

Wer Gottes Segen erfährt und annehmen kann,

wird dadurch verändert.

Entdeckt mit einem Mal,

dass jemand Trost bräuchte oder Ermutigung.

Dass jemand hören müsste, dass er oder sie schön ist;

spüren müsste, dass man ihr oder ihm vertraut;

Dankbarkeit erfahren müsste

für das, was er oder sie getan hat -

oder einfach dafür, dass es diesen Menschen gibt.

So wird man für andere ein Segen.


Abram wurde, wie Gott ihm versprach,

Vater eines großen Volkes.

Aus Abram wurde Abraham,

Vorläufer aller, die glauben.


Wir sind viele.

Unser Angesicht leuchtet,

wenn wir Gottes liebevollen Blick auf uns spüren.

Mit diesem Leuchten geben wir Gottes Segen weiter.

Machen anderen Mut, die gewohnten Sicherheiten aufzugeben;

sich einzulassen auf den Glauben,

der Gottes Segen erfahren lässt,

sodass man für andere ein Segen wird.


Amen.