Sonntag, 4. September 2022

Ein damaszenischer Stierkämpfer

Predigt am 12. Sonntag nach Trinitatis, 4. September 2022, über Apostelgeschichte 9,1-20

Stierkampf in Arles, ein Torrero lässt den angreifenden Stier unter dem roten Tuch hindurchlaufen.

Liebe Schwestern und Brüder,

„Paulus schnaubte mit Drohen und Morden …” - bei diesen blumigen Worten stellt man sich einen wütenden Stier vor, der mit blutunterlaufenen Augen das rote Tuch fixiert, bereit, jeden Moment anzugreifen.
Tatsächlich schnauben Rinder manchmal. Wenn man einen wütenden Stier vor sich hat, kann dieses Schnauben fürchterlich klingen, sodass man sich besser in Sicherheit bringt.

Saulus, ein wütender Stier, ein unberechenbarer, geradezu tollwütiger Eiferer, der auf alle losgeht, die sich zu Christus bekennen. Dazu mit Vollmachten ausgestattet, die Anhänger:innen Jesu gefangenzunehmen und seine Opfer nach Jerusalem zu verschleppen, wo das Gefängnis auf sie wartet. Sein schlimmer Ruf ist ihm nach Damaskus vorausgeeilt. Man kann sich vorstellen, wie die Christ:innen dort seine Ankunft fürchten. Wie sie sich überlegen, ob sie es wagen können, in der Stadt zu bleiben, oder ob sie besser die Flucht ergreifen.

Saulus ist in seinem Eifer nicht nur unberechenbar, sein Hass auf die Christ:innen macht ihn auch blind. Er ist davon überzeugt, dass er im Glauben auf der richtigen Seite steht. Es kann in Glaubensdingen nur eine Wahrheit geben; Saulus kennt sie, und darum müssen die Christ:innen im Irrtum, im Unrecht sein.

Warum aber verfolgt er sie so erbarmungslos? Warum genügt es ihm nicht, recht zu haben und die anderen im Unrecht, im Irrtum zu wissen? Warum muss das Andere bekämpft werden? Warum wollen religiöse Fanatiker wie Saulus bis heute Menschen, die anders glauben als sie, den Schädel einschlagen  wie zuletzt beim Attentat auf Salman Rushdie? Auch unter den sogenannten „Querdenkern” gibt es einige, die ihre Weltsicht mit geradezu religiösem Eifer vertreten. Sie schleudern Andersdenkenden, und vor allem der von ihnen so bezeichneten „Lügenpresse”, ihren Hass entgegen. Warum muss die andere Meinung, der andere Glaube so vehement bekämpft werden? 

Vermutlich spielen Unsicherheit und Verunsicherung dabei eine große Rolle. Wenn man etwas messen oder nachprüfen kann, lässt sich in aller Regel Einmütigkeit über einen Sachverhalt erzielen. Scheint die Sonne, ist es Tag; wird es dunkel, ist es Nacht. Dem wird niemand widersprechen. Auch nicht, dass dieser Sommer sehr heiß war. Aber ob diese extreme Hitze durch den Klimawandel verursacht wird, oder ob es einfach Kapriolen des Wetters waren, wie sie immer wieder vorkommen, darüber herrscht Streit. Man streitet auch darüber, wie schlimm die Klimaveränderungen sind, ob und wie dringend etwas dagegen unternommen werden muss und wie einschneidend die Maßnahmen sein müssen, damit nicht der Punkt erreicht wird, an dem es kein Zurück mehr gibt.

Das Klima verändert sich. In der Ukraine herrscht Krieg, mit der Folge explodierender Kosten für Heizung, Benzin und Strom. Grenzen, die bisher scheinbar felsenfest waren, verschwimmen. Das begann mit dem Fall der Mauer 1989; seitdem gibt es kein „West” und „Ost” mehr. Die Welt ist zusammengerückt, und manchmal rückt sie uns regelrecht auf die Pelle. Auch die Grenzen von Partnerschaft und Geschlecht öffnen sich. Und während die einen das als neue Freiheit, als den Aufbruch in ein neues, aufregendes Land begrüßen, sind andere davon verunsichert, fühlen sich dadurch bedroht und meinen, sich dagegen wehren, den Verfall der Grenzen aufhalten zu müssen.

Dabei wird der Ton immer schärfer, während die Bereitschaft, die andere Seite wenigstens anzuhören, verschwindet. In den Vereinigten Staaten sehen wir, wie sich eine ganze Gesellschaft in zwei unversöhnliche Hälften gespaltet hat, die nicht mehr miteinander sprechen können.

Wenn es zwei gegensätzliche Positionen gibt, kann nur eine recht haben, oder? Und natürlich hat immer die Position recht, die man selbst vertritt. Man muss nicht mit Drohen und Morden schnauben und kann trotzdem kompromisslos und unerbittlich sein.

Auch der Jünger Hananias, den Jesus zu Saulus schicken will, hat sich eine Meinung über Saulus gebildet und eine ablehnende Haltung eingenommen. Er äußert schwere Bedenken gegen den Auftrag, den Jesus ihm gibt: Über Saulus wird Schlimmes erzählt, und außerdem soll er Briefe dabei haben, die ihn mit Vollmachten gegen die Christ:innen ausstatten. Zu dem möchte er lieber nicht hingehen.

Das Erlebnis, das Saulus zum Paulus macht, wird eindrücklich geschildert: Da sind ein Leuchten vom Himmel und eine Stimme. Da ist die Blindheit, die Saulus’ Blindheit gegenüber dem Glauben an Christus entspricht. Auch Hananias erlebt eine Bekehrung, die ihn von seiner Angst vor Saulus befreit. Durch die Bekehrung erkennt er ihn als Bruder: „Lieber Bruder Saul”, spricht er ihn an. Dieser Schritt, den Hananias tat, ist nicht weniger groß als die Veränderung, die mit Saulus vorgegangen ist. Als Hananias dem blinden, aufgelösten und zutiefst verunsicherten Saulus gegenübertritt, erkennt er in ihm den Mitmenschen, den Bruder.

Es ist unmöglich, dass man keine Position einnimmt. Zu den Fragen des Klimawandels, der Gefährlichkeit von Atomwaffen, zu Krieg oder Unterdrückung von Menschen aufgrund ihres Geschlechtes, ihrer Hautfarbe, ihrer Herkunft oder ihres Glaubens kann es keine zwei Wahrheiten und auch keine Kompromisse geben. Aber sobald sich die Positionen verhärten, ist ein Gespräch nicht mehr möglich. Und sobald man die Person mit ihrer Haltung in eins setzt, wird aus Gegnerschaft unerbittliche Feindschaft. Wir sehen das überall in der Welt; wir selbst sind nicht frei davon. Obwohl wir uns selbst nie als intolerant oder gar als fanatisch bezeichnen würden. Auch wir haben Positionen, die wir nicht aufgeben wollen, nicht aufgeben können. Wir sehen uns im Recht und andere im Unrecht. Wir haben Ängste und Vorurteile, die wir aus eigener Kraft nicht überwinden können - gerade, weil wir davon überzeugt sind, dass sie zu recht bestehen.

Wenn aus einem Saulus ein Paulus wird, wenn ein Hananias zu seinem Feind geht und ihm die Hände auflegt, ist ein Wunder geschehen. Ein Wunder ist es, weil wir diesen Sinneswandel nicht selbst bewerkstelligen können. Wir können nur darum beten, nur darauf vertrauen, dass Gott verhärtete Positionen löst und den Mut schenkt, auf Gegner:innen zuzugehen.

Was uns dabei helfen kann, ist das Mitleid: „Ich will ihm zeigen, wie viel er leiden muss”. Mit diesem Satz erkennt Hananias, dass auch Saulus ein Mensch ist und sich in der gleichen Situation befindet wie er.

Wenn auch wir im Gegner, hinter den wutverzerrten Gesichtern, dem Schnauben der Eiferer und Fanatiker den Menschen erkennen, werden wir fähig zum Mitleid. Fähig, für diese Menschen zu beten und mit Gottes Hilfe sogar auf sie zuzugehen. Doch zuerst muss Gottes Geist uns unsere eigene Verblendung, unsere eigene Fixierung auf Positionen, Meinungen und Vorurteile vor Augen geführt haben.

Saulus wie Hananias haben das Wunder erlebt, dass Jesus in ihr Leben eingegriffen und sie verändert hat. Mögen wir den Mut finden, auch für uns um dieses Wunder zu bitten, und mögen wir es erleben.

Amen.