Samstag, 10. September 2022

Die Zukunft wirft ihre Schatten zurück

Predigt zur Goldenen Konfirmation am 13. Sonntag nach Trinitatis, 11. September 2022, über Lukas 10,25-36


Liebe Schwestern und Brüder,

„mit 66 Jahren, da fängt das Leben an”, singt Udo Jürgens. Das 66. Lebensjahr, das erste Jahr im Ruhestand. Nicht mehr ganz. Inzwischen muss man bis 67 arbeiten. Und ginge es nach dem Willen einiger Arbeitgeber, dürfte es auch gern erst das 71. Lebensjahr sein, in dem das Leben anfängt.

Manchen wäre das gar nicht unrecht. Während die meisten sich danach sehnen, endlich den Hammer fallen lassen zu können, fürchten sie sich vor dem Tag, an dem sie nicht mehr arbeiten gehen können. Und manche haben gar keine Wahl, als immer weiter zu arbeiten.

Für die meisten liegt die Goldene Konfirmation am Übergang vom Erwerbsleben zu einem neuen Lebensabschnitt. Manche von Ihnen kennen dieses neue Leben bereits. Andere probieren es gerade aus. Vielleicht gibt es sogar jemand unter Ihnen, die oder der sich noch ein wenig gedulden muss, bis es endlich so weit ist.

„Mit 66 Jahren, da fängt das Leben an.” Und was war vorher? Haben wir da etwa nicht gelebt? Wer all die guten Vorsätze, die Träume von einer großen Reise oder von einem neuen Hobby bis zum  Ruhestand aufschiebt, muss zuweilen die bittere Erfahrung machen, dass manches nicht mehr geht. Die Gesundheit lässt eine weite Reise nicht mehr zu. Die Beweglichkeit ist nicht mehr da, die Schmerzen sind zu groß, um noch etwas Neues anzufangen.

Trotzdem fängt ja etwas Neues an, oder hat bereits angefangen: Eine Zeit, in der man nicht mehr arbeiten muss, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, sondern arbeiten kann. Eine Zeit, in der man nicht mehr dafür verantwortlich ist, dass die Kinder etwas lernen und ihren Weg im Leben finden, sondern sich an den Enkeln freuen und sie verwöhnen kann, ohne alle Verpflichtungen. Eine Zeit, in der eine:n niemanden und nichts mehr hetzt. Wo man sich Zeit lassen kann. Zeit wofür?

„Meister, was muss ich tun,
dass ich das ewige Leben ererbe?”

Die Frage klingt, als hätte da einer sein Testament gemacht. „Ewiges Leben” kommt nach dem Tod, und der liegt hoffentlich in weiter Zukunft. Auch das Stichwort „erben” lässt an ein Testament denken, und damit an das Lebensende - dabei fängt, wie Udo Jürgens singt, das Leben gerade erst an.

Und doch ist uns diese Frage vielleicht nicht fremd. Manchmal grübelt man, wozu es da ist, dieses Leben. Ob es einen Sinn hat und wenn ja, welchen. Was man aus seinem Leben gemacht hat. Bei solchem Grübeln stellt man fest, dass manches im Leben nicht so lief, wie man wollte. Wege verliefen anders als geplant. Träume erfüllten sich nicht, Hoffnungen zerplatzten. Man fragt sich, was man vom Leben hatte und was davon einmal bleiben wird.

„Meister, was muss ich tun,
dass ich das ewige Leben ererbe?”

Was an dieser Frage stutzig macht: Dass man etwas tun muss für’s ewige Leben. Wir dachten, es fällt uns zu, wie den Kindern das Erbe zufällt, ohne dass sie etwas dafür getan oder es sich verdient hätten. Ebenso, dachten wir, hat Jesus uns durch seinen Tod am Kreuz das Leben erworben. Es gibt nichts, was wir dem noch hinzufügen könnten. Nichts, womit wir uns Leben erwerben, gar erkaufen könnten. Mit der Taufe bekamen wir sozusagen die Eintrittkarte ins Paradies. Wir werden sie nicht einmal vorzeigen müssen, wie man im Alten Griechenland den Toten ein Geldstück unter die Zunge legte, damit sie den Fährmann, Charon, bezahlen konnten, der sie über den Fluss Styx ins Totenreich bringen sollte. Nein, unsere Namen stehen schon jetzt im Buch des Lebens geschrieben. Wozu also diese Frage?

Das ewige Leben liegt hinter dem Horizont, liegt jenseits unserer Vorstellungskraft. Wenn wir eines Tages im ewigen Leben erwachen werden, haben wir diese Welt verlassen. Wir werden uns wohl an sie erinnern. Aber von der Zukunft her gibt es keine Erinnerung zurück in unsere Gegenwart. Es sei denn in den Visionen der Propheten, die von Gottes Reich des Friedens und der Gerechtigkeit träumen. 

Auch der Ruhestand lag einmal hinter dem Horizont. Während der Berufstätigkeit träumt man wohl  manchmal davon, wie es sein wird, wenn man endlich die Beine hochlegen kann. Man sieht an denen, die bereits im Ruhestand sind, wie sie ihn meistern und genießen - oder auch nicht. Aber wie man selbst den Ruhestand erleben und gestalten wird, das kann man erst wissen, wenn man selbst an der Reihe ist.

Im Kleinen ist es auch bei einer Reise so: Man plant, bereitet sich vor. Aber erst am Urlaubsort weiß man, wie es dort wirklich ist. Vielleicht fahren deshalb manche immer an den selben Ort. Sie wollen keine Überraschungen erleben. Sie wollen sich die Urlaubsfreude nicht verderben durch die Unsicherheit, ob es dort wirklich so schön ist, wie sie es sich vorstellen.

Man könnte zu Hause bleiben. Da weiß man, was man hat.
Man könnte nie aufhören zu arbeiten. Dann müsste man sein Leben nicht umstellen.

Das ewige Leben, unsere Zukunft, wirft seinen Schatten voraus. Und weil dieses ewige Leben Gerechtigkeit und Frieden ist - weil wir dann im Einklang mit der Natur, Gottes Schöpfung, leben; weil wir dann Konflikte friedlich lösen, Mitleid empfinden und Mitleid erfahren werden; weil wir dann anderen das Gute gönnen, denn es fehlt uns selbst an nichts: Darum können wir uns schon jetzt auf dieses ewige Leben vorbereiten, wie man sich auf eine Reise vorbereitet oder auf den Ruhestand.

Und wie manchmal die Vorbereitung und die Vorfreude fast schöner sind als die Erfüllung, können wir uns unser Leben schon jetzt schön machen, indem wir menschlich und freundlich zu uns selbst und zu unseren Mitmenschen sind.  Auch und gerade, wenn sie es nicht sind oder wir meinen, dass sie es nicht verdienen. Unsere Freundlichkeit, unsere Menschlichkeit öffnet ein kleines Stück vom Paradies mitten in unserem Alltag. Das Licht, das von diesem kleinen Stück Paradies ausstrahlt hat die Macht,  Menschen zu verändern. Gott hat die Macht, Menschen zu verändern. Das Paradies, das ewige Leben, dem wir entgegengehen, sind nur andere Worte für Gott, weil Gott die Fülle und die Erfüllung unseres Lebens ist.

An Gott glauben, Gott lieben bedeutet, die Welt mit Gottes Augen zu sehen: Als seine Schöpfung, die er uns anvertraut hat zu treuen Händen, damit wir sie schützen und bewahren. Bedeutet, uns mit Gottes Augen zu sehen: Menschen, die Gott über alles liebt. Gott glaubt an uns, an unsere Güte, unsere Träume von einer besseren Welt, unseren guten Willen. Gott will für unser Leben Gutes und eine gute Zukunft für uns. Und es bedeutet, unsere Mitmenschen mit Gottes Augen zu sehen als Menschen, die Gott nicht weniger liebt als uns. Bei denen er keinen Unterschied macht in Bezug auf Hautfarbe, Bildung, beruflichen Erfolg oder Geschlecht. Gott liebt alle Menschen, auch wenn wir uns manchmal fragen, was an ihnen liebenswert sein soll. Diese Liebe Gottes erkennen: Das ist Glauben.

Indem wir glauben, gehen wir Gott entgegen. Und Gott kommt uns entgegen. Als Licht, das Dunkelheit und Angst vertreibt. Als Wärme, die Hass, Egoismus, Neid und Menschenverachtung wegschmilzt. Darum lautet die Antwort auf die Frage, was man tun muss, um das ewige Leben zu ererben:

„Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben
von ganzem Herzen, von ganzer Seele
und mit all deiner Kraft und deinem ganzen Gemüt
und deinen Nächsten wie dich selbst.”

„Mit 66 Jahren, da fängt das Leben an.” Während wir die Träume verwirklichen, die wir uns für den Ruhestand vorgenommen haben und die Ruhe des Ruhestandes genießen, träumt Gott von einer Welt des Friedens zwischen Mensch und Mensch, zwischen Mensch und Natur. Gott träumt von einer Welt der Gerechtigkeit im Kleinen unserer Beziehungen und im Großen des weltweiten Miteinanders. Und lädt uns ein, mitzuträumen. Damit heute schon die Welt von morgen aufblitzen kann.

Amen.