Sonntag, 5. März 2023

Leben mit dem Handicap

Predigt am Sonntag Reminiscere, 5.3.2023, zur Kantate „Ja, mir hast du Arbeit gemacht” von Johann Ludwig Bach/ Jesaja 43,24-25


Der Junge klettert im Baum herum.

Viel zu hoch, viel zu weit vom Stamm entfernt.

Immer weiter rutscht er auf dem Ast nach außen.

Ein kleines Stückchen noch, noch eins, noch eins - - -

Der Ast wackelt schon heftig.

Er wird doch nicht … ?

Da! Er fällt!


Genau in diesem Moment ist ein freundlicher Herr zur Stelle,

der ihn auffängt und auf dem Boden absetzt.

Kaum hat er festen Boden unter den Füßen,

läuft der Junge ohne ein Wort davon.


Liebe Schwestern und Brüder,


vielleicht kennen Sie diese Szene aus dem Film

„Täglich grüßt das Murmeltier”.

Bill Murray muss in diesem Film

den selben Tag immer und immer wieder durchleben,

bis aus einem unausstehlichen Ekel

der gute Mensch geworden ist,

der den Jungen im letzten Augenblick rettet.

Wie lange er für diese Verwandlung gebraucht hat,

deuten die Worte an, die er dem Jungen hinterherruft:

„Du hast dich kein einziges Mal bedankt!”


„Ja, mir hast du Arbeit gemacht” -

auch so ein Satz, der einem hinterhergerufen wird.

Ein Satz, wie ihn manche von uns schon hören mussten:

„Du machst mir nichts als Kummer!”;

„deinetwegen muss ich hier schuften!”;

„dir muss man immer alles hinterherräumen!”


Der Vorwurf, der in diesen Sätzen liegt,

ist nicht zu überhören.

Man möchte am liebsten weglaufen bei solchen Sätzen -

wer hört sich schon gerne Vorwürfe an?


Dabei steht hinter solchen Vorwürfen

der sehnliche Wunsch,

dass der andere sein Verhalten ändert,

damit die Beziehung bestehen bleiben kann.


Doch Vorwürfe sind das denkbar schlechteste Mittel,

einen Menschen dazu zu bewegen, sich zu ändern.

Das muss man in Beziehungskrisen erleben:

Ist man an dem Punkt angelangt,

wo man sich gegenseitig Vorwürfe macht,

ist es fast schon zu spät.


Dennoch ist auch das wahr:

Ein Vorwurf, so ungern man ihn hört,

ist der Versuch, die Beziehung aufrecht zu erhalten.

Übersetzt man den Vorwurf in eine Bitte,

so würde er lauten:

Bitte ändere dich, ändere dein Verhalten,

damit ich mir dir zusammen bleiben kann.


Wie kommt es überhaupt dazu,

dass man Vorwürfe erhebt?

Vorwürfe werden geäußert,

wenn in der Beziehung ein Ungleichgewicht herrscht.

Wenn eine:r der Partner:innen das Gefühl hat,

mehr für die Beziehung zu tun,

mehr zu arbeiten, mehr zu investieren als der andere.


Es kommt ziemlich häufig vor,

dass in einer Beziehung einer der Partner

mehr tut als der andere.

Trotzdem endet solches Ungleichgewicht selten in Vorwürfen.

Im Verhältnis von Eltern zu ihren Kindern z.B.

Keine liebende Mutter,

kein liebevoller Vater käme auf die Idee,

dem eigenen Kind vorzurechnen,

was sie an Arbeit, Zeit und Geld für das Kind investiert haben.

Sollte es soweit kommen,

wäre die Beziehung zwischen Eltern und Kind in Gefahr

oder schon zerbrochen.


Auch wenn ein:e Partner:in die andere pflegt,

oder wenn ein:e Partner:in ein Handicap hat,

auf dass die andere Rücksicht nehmen muss,

ist das Verhältnis zwischen beiden ungleich.

Trotzdem macht man gewöhnlich dem Partner, der Partnerin

keinen Vorwurf deswegen.


Aber natürlich ist es Arbeit,

die einem auch mal zu viel werden

und an die eigenen Grenzen bringen kann.

Dann seufzt man vielleicht manchmal:


„Ja, du hast mir Arbeit gemacht mit deinen Sünden,

du hast mir Mühe gemacht mit deinen Missetaten.”


In unserer Beziehung zu Gott

sind Sünden und Missetaten unser Handicap.

Sünden: Das sind unser Glaube an die eigene Kraft

unsere Weigerung, nach Gottes Willen zu fragen

und uns danach zu orientieren,

die uns von Gott trennen.


Sünde kann auch das Verhalten anderen gegenüber sein:

Unterlassen von Hilfe und Unterstützung,

Gleichgültigkeit gegenüber dem Leid anderer,

Ablehnung und Unbarmherzigkeit gegenüber Menschen,

die als Fremde kommen,

die anders leben, anders lieben, anders sind als wir,

trennen uns von Gott.


Gott wirft uns dieses Handicap nicht vor.

Gott hilft uns, damit zu leben.

Gott leistet Beziehungsarbeit:


„Ich tilge deine Übertretungen um meinetwillen

und gedenke deiner Sünden nicht.”


Johann Ludwig Bach und seine Zeitgenossen

konnten Gottes Vergebung so noch nicht erleben und verstehen.

Für sie war es undenkbar,

„Sünde” mit einer Behinderung, einem Handicap zu vergleichen.

Unvorstellbar, dass Gott aus reiner Liebe

auf dieses Handicap Rücksicht nehmen

und uns helfen könnte, damit zu leben.


Sie konnten nicht übersehen,

dass Gottes Freundschaft zu uns

mit dem Tod seines Sohnes bezahlt worden war.

Sie fühlten sich schuldig an Jesu Leiden und Tod:


„Was ist doch wohl die Ursach solcher Plagen?

Ach, meine Sünden haben dich geschlagen!”


Über Jahrhunderte herrschte in der Kirche die Überzeugung,

der Mensch sei so böse, so schlecht,

dass Jesus für unsere Schuld leiden und büßen musste,

damit wir überhaupt in ein Verhältnis zu Gott treten könnten.


Dass Jesus Leiden und Tod aus freien Stücken auf sich nahm,

aus Liebe zu uns,

wurde dabei ebenso vergessen

wie die Tatsache, dass Gott uns längst vergeben hat.


Hinter der Absicht, uns unsere Schuld

immer wieder unter die Nase zu reiben,

stand die Überzeugung,

dass diese Schuld uns von Gott trennt.

Ja, dass Gott deswegen so zornig auf uns ist,

dass er nichts mehr von uns wissen will.

Nur die contritio, die Zerknirschung,

kann den Menschen zu Gott zurückbringen.


Doch ebensowenig wie ein Vorwurf

ist Zerknirschung das geeignete Mittel,

eine Beziehung wiederherzustellen.

Zerknirschung macht klein, zerbricht den Menschen -

das ist ja schon im Wort „Zerknirschung” enthalten.

Zerknirschung gehört zum Repertoire

der Schwarzen Pädagogik, die den Eigenwillen brechen will,

um den Menschen auf den Weg zu bringen,

den andere für den richtigen halten.

Wer sich klein machen muss,

damit die Beziehung hält,

wer seinen Willen brechen lassen muss

tut gut daran, so eine toxische Beziehung zu fliehen.


Menschen klein machen, Menschen brechen,

das ist nicht Gottes Art.

Gott will nicht unseren Willen brechen.

Gott wartet mit unendlicher Geduld darauf,

dass wir nicht weiter vor ihm davon laufen

wie der Junge, der vom Baum fiel -

aus Scham, oder Furcht vor Vorwurf und Strafe.

Sondern dass wir dankbar feststellen:

wir wurden aufgefangen.

Da ist einer, der uns zuverlässig hält,

unser ganzes Leben lang.

Der uns den Rücken stärkt,

damit wir ihn nicht beugen müssen,

vor niemandem,

und damit niemand ihn brechen kann.


Sein Sohn nahm das Leid,

nahm Kreuz und Tod nicht auf sich,

um unsere Schuld bei Gott zu bezahlen.

Was wäre Gott für ein Vater,

wenn er seine Arbeit an uns,

wenn er unsere Schulden bei ihm aufrechnen würde?

Jesus opferte sich,

damit sich niemand mehr aufopfern,

niemand mehr Opfer, Sündenbock werden muss.


Ja, wir haben Gott Arbeit gemacht.

Wir werden ihm weiterhin Arbeit machen.

Aber Gott tut es gern.

Weil wir seine Kinder sind.

Weil er uns liebt.