Sonntag, 19. März 2023

Wände stürzen ein

Predigt am Sonntag Lätare, 19.3.2023, über Jesaja 54,7-10


Liebe Schwestern und Brüder,


es ist die ewiggleiche Frage,

die Menschen seit Menschengedenken stellen.

Von den Tagen Jesajas bis heute:

„Wo warst du, Gott?”


Wo warst du, als das Unglück geschah?

Wo warst du, als der geliebte Mensch starb?

Wo bist du, Gott, wenn Menschen in Kellern zittern

beim Einschlag der Marschflugkörper;

wenn Menschen im Meer ertrinken

auf der Suche nach etwas Besserem als dem Tod?

Wo bist du, wenn Menschen die Diagnose hören,

die ihr Leben besiegelt und für immer verändert?


Was Jesaja unternimmt,

ist einer der unzähligen Versuche,

eine Antwort auf diese Frage zu geben.

Ein Antwortversuch, der die Frage nach dem abwesenden Gott,

dem Deus absconditus wirklich ernst nimmt.

Ein Antwortversuch, der nicht Gott verteidigt -

das hat er gar nicht nötig,

und wer wären wir, dass wir uns anmaßen könnten,

als Verteidiger:innen Gottes aufzutreten -,

sondern an der Seite der Fragenden bleibt.

Denn es ist ja auch unsere Frage.

Jede und jeder von uns hat selbst schon so verzweifelt gefragt:

Wo warst du, Gott?

Wo bist du, Gott?

So fragt auch Gottes Sohn am Kreuz:

„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?”


„Ich habe dich einen kleinen Augenblick verlassen.”

Wir kennen das:

Da sieht man einen Moment nicht hin,

schon ist das Malheur passiert:

das Kind hat den Suppenteller umgekippt;

ist vom Stuhl gefallen;

hat sich am Feuer verbrannt.


Man war einen Moment unaufmerksam,

mit den Gedanken nicht bei der Sache,

da ist man gestürzt;

da ist man auf den anderen Wagen aufgefahren;

da ist etwas geschehen,

was man nicht wieder rückgängig machen kann.


„Ich habe dich einen kleinen Augenblick verlassen.”

Wollen wir Gott diese Unachtsamkeit durchgehen lassen?

Können wir es entschuldigen,

dass Gott einen Moment nicht hingesehen hat,

mal kurz nicht bei der Sache war?

Ist nicht dadurch, dass Gott im entscheidenden Moment nicht da war,

etwas zerbrochen in unserer Beziehung zu Gott,

das selbst Gott nicht wieder reparieren kann?


Vielleicht muss das so sein.

Vielleicht muss etwas zerbrechen,

muss unsere Beziehung zu Gott infrage stehen,

wenn unser Leben durch ein Unglück erschüttert wird.


Wenn unser Leben erschüttert wird,

wie sollte da unser Glaube nicht erschüttert werden?

Zu dem Schmerz, den die Abwesenheit Gottes verursachte,

als das Unglück geschah,

kommt das Schweigen Gottes hinzu,

das kaum zu ertragen ist.


So beschreibt es Rainer Maria Rilke in seinem „Stundenbuch”:


„Du, Nachbar Gott,

wenn ich dich manchesmal

in langer Nacht mit hartem Klopfen störe, -

so ist’s, weil ich dich selten atmen höre

und weiß, du bist allein im Saal.

Und wenn du etwas brauchst, ist keiner da,

um deinem Tasten einen Trank zu reichen:

Ich horche immer:

Gib ein kleines Zeichen.

Ich bin ganz nah.”


Auf den Vorwurf der Abwesenheit, des Schweigens

antwortet Gott bei Jesaja:


„Ich halte es wir zur Zeit Noahs,

als ich schwor, dass die Wasser Noahs

nicht mehr über die Erde gehen sollten.”


Die Wasser Noahs, die Sintflut,

gehören zu den Geschichten im Anfang.

Den Geschichten, die das Fundament für alles Weitere bilden.

Für Gottes Geschichte mit seinem Volk Israel

und für Gottes Geschichte mit uns.


Im Anfang, so erzählt die Bibel,

war Gott so zornig auf das Versagen der Menschen,

die er zum Tun des Guten bestimmt hatte,

zu treuen, gewissenhaften Haushaltern seiner Schöpfung,

dass er in seinem Zorn die ganze Menschheit auslöschte

durch die Sintflut.

Nur einen Rest ließ er übrig.

Ein Rest, der die Fähigkeit zum Guten ebenso in sich trug

wie den Keim zum Bösen,

das die Sintflut doch vertilgen sollte.


Auf diesen furchtbaren Zornesausbruch Gottes

folgt ein Schwur, den Gott mit dem Regenbogen besiegelt:

„Dass ich nicht mehr über dich zürnen

und dich nicht mehr schelten will.”


Gottes Zorn gehört der Vergangenheit an.

Einer Vergangenheit, die weit vor unserer Geschichte mit Gott liegt.

Gott ist nicht zornig auf uns.

Er war es nie und wird es niemals sein.

Am Anfang unserer Beziehung mit Gott,

die durch die Taufe begründet wurde,

steht sein Schwur:

„Es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen,

aber meine Gnade soll nicht von dir weichen

und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen.”


Gott verspricht uns seine Nähe,

seine Solidarität mit und seine Loyalität zu uns,

die unerschütterlich sind und unvergänglich.

Wenn selbst die ewigen Berge nicht mehr sein werden,

werden wir immer noch untrennbar mit Gott verbunden sein.


Wie aber kann es dann sein,

dass wir Gott „so selten atmen” hören

und uns gerade dann allein,

gerade dann im Stich gelassen fühlen,

wenn wir Gottes Beistand und Trost am nötigsten haben?


Hören wir dazu noch einmal Rilke:


„Nur eine schmale Wand ist zwischen uns,

durch Zufall; denn es könnte sein:

ein Rufen deines oder meines Munds -

und sie bricht ein,

ganz ohne Lärm und Laut.


Aus deinen Bildern ist sie aufgebaut.”


„Du sollst dir kein Bildnis

noch irgendein Gleichnis machen”,

lautet das 2. Gebot.

Dabei geht es für uns nicht um die Götzenbilder,

gegen die Jesaja polemisiert.

Jesus hat uns gelehrt,

dass die Gebote keine Verbote im juristischen Sinn darstellen,

sondern eine Markierung der Grenzen,

die wir aus eigener Kraft nicht überschreiten können.


Das 2. Gebot ist kein Bilderverbot,

sondern die Feststellung,

dass wir uns Bilder von Gott machen.

Und dass wir gar nicht anders können,

als von Gott in Bildern und Gleichnissen

zu denken und zu sprechen.

Bilder, die zwischen Gott uns uns stehen.


Wir errichten Wände, die uns von Gott trennen,

weil wir Bilder gebrauchen müssen,

wenn wir uns Gott vorstellen wollen.

Den Unvorstellbaren kann man sich nicht vorstellen.

Gott, der ganz anders ist, totaliter aliter,

der allmächtig ist und allgegenwärtig,

ewig und allwissend,

kann sich kein Mensch denken.


Wir müssen aber Gott denken,

um mit Gott in Beziehung treten zu können.

Doch sobald wir ihn denken,

errichten wir die Wände unserer Bilder und Gleichnisse

und versperren uns selbst den Zugang zu ihm.


Deshalb zerbricht jedes Mal etwas,

wenn wir Gottes Schweigen erfahren:

Es zerbricht eine der Wände, die wir errichteten.

Dahinter kommt für einen Augenblick der zum Vorschein,

der uns mit großer Barmherzigkeit sammeln

und sich unser mit ewiger Gnade erbarmen will.

- Bevor wieder eines unserer Gottesbilder

die Sicht auf Gott versperrt, wie er wirklich ist.


Wie aber sollen, wie können wir

die Beziehung zu Gott aufrecht erhalten,

wenn wir sie uns immer wieder selbst verbauen?


Wir können es nicht.

Darum sandte Gott seinen Sohn,

um die Wände, die wir zwischen Gott und uns aufbauen,

einzureißen, ein für allemal.

Als Jesus am Kreuz starb, heißt es bei Mt, Mk und Lk,

„zerriss der Vorhang im Tempel in zwei Stücke

von oben an bis unten aus“ (Mt 27,51).


Jesus zerreißt die Vorhänge,

zerbricht die Wände,

die wir immer wieder aufbauen,

wenn wir versuchen, uns Gott vorzustellen.

Er zerreißt die Bilder, die wir uns von Gott machen,

damit für einen Augenblick zum Vorschein kommen kann,

dass Gott da ist, an unserer Seite.

Dass er immer schon da war

und immer da sein wird,

voller Barmherzigkeit und Erbarmen.


Wenn wir die Härte von Gottes Schweigen erfahren,

sehen wir auf das Kreuz,

das für uns zum Zeichen für Gottes Schwur geworden ist,

und lassen uns daran erinnern,

dass wohl Berge weichen und Hügel hinfallen sollen,

aber Gottes Gnade nicht von uns weichen wird

und der Bund seines Friedens niemals hinfällt. Amen.