Dienstag, 26. Dezember 2023

Geheimnisse

Predigt am 2.Weihnachtstag, 26.12.2023, über 2.Kor 8,7-9 und die Stölzel-Kantate „Kündlich groß ist das gottselige Geheimnis”

Wie ihr euch in allem hervortut -

im Glauben und im Predigen,

in der Erkenntnis und aller Bereitwilligkeit

und in der Liebe, die wir zu euch haben,

sollt ihr euch auch bei der Kollekte hervortun.

Ich sage das nicht als Befehl,

sondern wegen der Bereitwilligkeit der anderen,

und um die Echtheit eurer Liebe zu prüfen.

Denn ihr kennt die Gnade unseres Herrn Jesus Christus:

obwohl er reich ist, wurde er am um euretwillen,

damit ihr durch seine Armut reich würdet.



Liebe Schwestern und Brüder,


darf ich Ihnen ein Geheimnis anvertrauen?


Wenn ich’s mir recht überlege:

ein Geheimnis, das man anderen anvertraut,

ist kein Geheimnis mehr -

vor allem, wenn es so viele sind wie hier.

Nicht, dass ich an Ihrer Verschwiegenheit zweifeln würde!

Aber ist es nicht der Sinn eines Geheimnisses,

dass es niemand erfährt, dass man es mit ins Grab nimmt?


Freilich, wenn niemand je von meinem Geheimnis erfährt,

wie sollte ich dann ein Geheimnis haben?

Ich würde zwar behaupten, ich hätte eins -

aber das kann jede:r sagen.

Ich muss also mindestens eine Person ins Vertrauen ziehen,

damit jemand bestätigen kann,

dass ich tatsächlich ein Geheimnis hüte.


Diese Person wäre jemand Besonderes,

weil sie als einzige etwas von mir wüsste,

was sonst niemand weiß.

Auf diese Weise arbeiten Geheimgesellschaften:

Sie teilen Geheimnisse, die für Außenstehend tabu sind.

Das sind meist sehr banale Dinge.

Aber weil man nicht weiß, was es ist,

beflügelt das Geheimnis die Phantasie.

Das macht einen Geheimbund so interessant,

dass man selbst gern Mitglied wäre,

um das Geheimnis zu erfahren.


Die christlichen Gemeinden waren

zur Zeit der Christenverfolgungen

notgedrungen auch Geheimgesellschaften.

In Rom traf man sich heimlich auf dem Friedhof,

in den Katakomben.

Das muss - neben dem Argwohn -

auch die Neugier Außenstehender erregt

und großes Interesse am damals noch neuen Glauben geweckt haben.


In der Kantate ist von einem „kündlich großen Geheimnis” die Rede.

Diesem Titel liegt ein Vers aus dem 1.Timotheusbrief zugrunde:

„Groß ist, wie jedermann bekennen muss,

das Geheimnis des Glaubens:

Er ist offenbart im Fleisch.”

Hier wird von einem Geheimnis gesprochen -

und im selben Moment wird es ausgesprochen:

Kündlich ist dieses Geheimnis:

„Gott ist offenbart im Fleisch.”

Nun ist es raus, nun ist es in der Welt.

Ein Geheimnis, das man ausgeplaudert hat,

ist kein Geheimnis mehr.

Oder doch?


Geheimnis meint hier nicht etwas, das niemand wissen darf.

Sondern etwas, das man nicht versteht,

wenn man nicht eingeweiht ist.

„Gott ist offenbart im Fleisch”:

Der unendliche, ewige, unbegreifliche und allmächtige Gott

liegt als neu geborenes, hilf- und schutzloses Baby in einem Futtertrog:

Das ist tatsächlich nicht zu begreifen.


Es ist ähnlich schwer vorstellbar wie der Urknall:

Alles, was existiert, das fast unendliche Weltall,

darin als winziger Punkt unsere Heimatgalaxie,

die unvorstellbar große Milchstraße,

in dieser, am Ende eines ihrer Spiralarme,

als winziger Punkt unser Sonnensystem,

in dem selbst die Reise zu unserem nächsten Planeten Mars

zwei Jahre dauert, und darin unsere Erde,

die ja auch nicht gerade klein ist -

dies alles soll einmal in einem Punkt konzentriert gewesen sein.


Aber das ist ja noch nicht alles.

Nicht nur, dass Gott in dem Kind in der Krippe

wie in einem Punkt konzentriert ist.

Nein, dieses Kind hat selbst etwas Unbegreifliches getan,

wie Paulus schreibt:

„obwohl er reich ist, wurde er arm um euretwillen,

damit ihr durch seine Armut reich würdet.”

Jetzt ist die Verwirrung komplett.

Dagegen scheint der Urknall noch relativ leicht vorstellbar.


Das doppelte Geheimnis der Menschwerdung Gottes

und unseres Reichtums durch seine Armut

braucht man nicht zu verheimlichen.

Es kann sowieso niemand verstehen.

Wie aber geht es uns damit,

denen die Worte der Kantate und die Worte des Paulus gelten?


Um solche Art von Geheimnissen verstehen zu können,

muss man in sie eingeweiht werden.

Geheimgesellschaften machen das mit einigem Brimbamborium,

verbundenen Augen und heiligen Schwüren.

Bei uns erfolgt die Initiation in das Geheimnis des Glaubens

vergleichsweise schlicht und unspektakulär:

durch die Taufe.


Moment mal:

Was hat die Taufe mit der Menschwerdung Gottes zu tun?

Nun, das ist auch wieder eines dieser Geheimnisse;

es würde zu weit führen, das auch noch zu besprechen.

Sagen wir: Die Taufe ist eine Adoption.

Gott nimmt uns mit der Taufe in seine Familie auf.

Jesus, Gottes Sohn, wird dadurch unser Bruder.


Und zwar unser großer Bruder.

Ein Bruder, der für uns durchs Feuer geht, wenn es sein muss -

und das tatsächlich auch getan hat.

Wer „Die Brüder Löwenherz” von Astrid Lindgren liest,

bekommt eine Vorstellung davon, was ein großer Bruder ist und tut.


Jesus geht für uns durchs Feuer.

Er opfert sich für uns - aus Liebe,

wie auch wir uns manchmal aufopfern

für Menschen, die wir lieben.

Und nun sagt Jesus:

Durch mein Opfer seid ihr reich geworden.

Ich liebe euch so sehr,

dass ihr meine Liebe wie einen großen Schatz habt.

Ihr besitzt sie im Überfluss,

sie kann euch nicht verloren gehen,

und sie wird nie weniger, wie viel ihr auch davon verschenkt.

Eure Liebe soll deshalb nicht nur den Menschen gelten,

die ihr euch aussucht.

Weil ihr in Gottes Familie aufgenommen seid,

sind alle Menschen eure Geschwister,

stehen alle Menschen euch nahe.


Was Jesus da von uns verlangt,

bedeutet nicht, dass wir alle Menschen lieben müssen.

Das kann niemand, das überlassen wir ihm.

Es bedeutet, dass wir alle Menschen als Mitmenschen,

als Geschwister ansehen können.

Wir müssen sie nicht mögen,

wie sich auch Geschwister manchmal nicht mögen.

Trotzdem ist und bleibt man miteinander verbunden.


Diese Verbundenheit zeigt sich im Tun.

Paulus bittet seine Gemeinde in Korinth

um eine Kollekte für die Jerusalemer Gemeinde.

Diese Kollekte soll die geschwisterliche Verbundenheit

der christlichen Gemeinden zum Ausdruck bringen.

Und offensichtlich hat Paulus den Ehrgeiz,

dass seine Gemeinde sich dabei hervortut,

mehr spendet als die anderen.


Diese Sammlung ist für Paulus auch ein Prüfstein,

wie es bei den Korinthern mit dem Glauben bestellt ist:

Nur wer wohlhabend ist, wer reichlich hat,

kann von seinem Überfluss etwas abgeben.

Das weiß auch Paulus.

Er würde niemals verlangen,

dass jemand sein letztes Hemd für diese Sammlung gibt.


Reichtum und Überfluss bemessen sich nicht nur am Geld.

Wer glücklich ist, braucht keine Millionen, nur die Musik.

Wer sich reich beschenkt fühlt, lebt im Reichtum,

obwohl er oder sie nach unseren Maßstäben arm sein kann.

Der Glaube lässt uns Reichtum und Glück an Orten entdecken,

wo man sie nicht vermuten würde.


Wer diesen Reichtum entdeckt hat,

braucht wenig von den Gütern dieser Erde,

um glücklich zu sein.

Wer den Reichtum entdeckt hat,

den das Kind in der Krippe verschenkt,

möchte ihn mit anderen teilen.


Die Kantate spricht von einem „frommen Leben”.

Wir müssen uns darunter nicht ein Leben vorstellen,

in dem man auf alles verzichtet, was Spaß macht.

Ein „frommes Leben” ist ein Leben,

das damit ernst macht, dass wir das Wichtigste für unser Leben

von Gott geschenkt bekommen

und deshalb vom Zweitwichtigsten -

Zeit, Geld, Macht, Besitz, unserer Kraft und unserem Wissen -

anderen abgeben, mit anderen teilen können.


Beim Teilen, beim Helfen und für andere da Sein

kann man die überraschende Erfahrung machen,

dass Gottes Geheimnis auf einmal kein Geheimnis mehr ist,

sondern unmittelbar einleuchtet.

Auf einmal erscheint es nicht mehr verrückt,

dass der große Gott ein kleines Kind wird.

Auf einmal ist es nicht mehr verwirrend,

wie Christi Armut uns reich macht.


So ein Aha-Erlebnis hat man manchmal auch in der Musik.

Vielleicht gerade eben bei der Kantate, die wir gehört haben.

Was beide, Musik und „frommes Leben”, gemein haben ist,

dass sie uns ohne Umweg über den Kopf direkt zu Herzen gehen.

Dann wird das Herz zu einem Ort, in dem Gott wohnen kann:

Eine Krippe, in der „der süße Immanuel” auch in uns geboren wird.