Sonntag, 30. Juni 2024

Paradoxa

Predigt am 5. Sonntag nach Trinitatis, 30. Juni 2024, über 2.Korinther 12,9+10:

Predigt am 5. Sonntag nach Trinitatis, 30. Juni 2024, über 2.Korinther 12,9+10:


Christus sagte mir:

Dir soll meine Gnade genügen,

denn die Kraft vollendet sich in Schwachheit.

Darum gefallen mir Schwachheit, Misshandlung, Zwang,

Verfolgung, oder dass ich in der Klemme stecke,

wenn es für Christus ist.

Denn wenn ich schwach bin, bin ich stark.


Liebe Schwestern und Brüder,


Glauben ist nicht Wissen, sagt man. Das stimmt natürlich.

Wenn ich glaube, dass Spanien heute Abend gegen Georgien gewinnt,

hat das einige Wahrscheinlichkeit für sich.

Aber wissen kann man es erst, wenn das Spiel abgepfiffen wurde.

Mein Glauben ist ein Vermuten,

eine mehr oder weniger gut begründete Annahme.

Ob ich glaubwürdig bin, hängt unter anderem davon ab,

wie oft ich mit meinen Vermutungen richtig liege.

Wer mich kennt, weiß, dass ich keine Ahnung von Fußball habe

und wird deshalb meinem Glauben nicht trauen,

jedenfalls, was das Spiel heute Abend betrifft.


Auch der Glaube an Gott ist kein Wissen.

Der Glaube an Gott hat aber auch nichts zu tun

mit dem alltäglichen Glauben, das ein Vermuten ist.

Diese Unterscheidungen zwischen Glaube und Wissen,

zischen Glaube und Vermutung werden oft verwischt.

Wenn es im Glaubensbekenntnis heißt:

„Ich glaube an Gott, den Schöpfer des Himmels und der Erde”,

dann steht dieser Glaubenssatz nicht im Widerspruch

zu unserem heutigen Wissen.

Wer Gott als Schöpfer bekennt,

ist nicht automatisch davon überzeugt,

dass die Welt in sechs Tagen entstand,

oder dass sie erst 5784 Jahre alt ist,

wie es der jüdische Kalender errechnet.


Glaube ist auch kein Vermuten,

mit dem man manchmal richtig liegt und manchmal nicht.

„Ich glaube an Gott” bedeutet nicht,

dass ich vermute, dass es Gott gibt.

Ich weiß, dass es Gott gibt.

Wäre Glauben dasselbe wie Vermuten,

würde man auf eine Bestätigung warten, dass es Gott tatsächlich gibt.

Diese Bestätigung erhält man nicht.

Man kann Gott nicht sehen, messen oder beweisen.

Das ist das stärkste Argument derer,

die den Glauben an Gott für Unsinn halten.

Dabei haben sie gar nicht begriffen, was Glauben tatsächlich ist.


Glauben an Gott ist etwas anderes als Vermuten oder Wissen.

Es ist eine besondere Fähigkeit, die alle Menschen besitzen,

so wie jeder Mensch zu Mitgefühl oder Liebe fähig ist.

Sie ist nur bei jeder und jedem unterschiedlich ausgeprägt,

und manche haben sie noch nicht für sich entdeckt.


Will man von dieser Fähigkeit sprechen,

und will man dabei vermeiden,

sie mit Wissen oder Vermuten zu verwechseln,

kann man einen Trick anwenden: Das Parádoxon.

Ein Parádoxon ist eine Aussage, die keinen Sinn ergibt,

wenn man sie auf herkömmliche Weise zu verstehen versucht.

Paulus ist geradezu ein Meister der Parádoxa.

Ständig benutzt er solche widersinnigen Aussagen,

um den Leserinnen und Lesern seiner Briefe deutlich zu machen,

was der Glaube an Christus bedeutet, und was nicht.


Auch der Gemeinde in Korinth schreibt er allein im heutigen Abschnitt

drei paradoxe, widersinnige Sätze.

Der erste lautet: „Die Kraft vollendet sich in Schwachheit”,

der zweite: „Mir gefallen Schwachheit, Misshandlung, Zwang, Verfolgung”

und der dritte: ”Wenn ich schwach bin, bin ich stark.”


I

Der Widerspruch des ersten Satzes,

„die Kraft vollendet sich in Schwachheit” sticht sofort ins Auge.

Kraft und Schwachheit bilden einen Gegensatz,

eins schließt das andere aus.

Entweder ist man stark, oder man ist schwach; beides geht nicht -

jedenfalls nicht in derselben Disziplin.


Im Sport geht es darum, die Kraft zu steigern, immer besser zu werden:

schneller, höher, weiter ist das Motto.

Bis zu einem gewissen Punkt macht das Spaß.

Aber irgendwann wird es eine Quälerei.

Ist schneller, höher, weiter zum Selbstzweck geworden,

geht die Freude am Sport verloren.

Man kann sich nur noch freuen, wenn man gewinnt,

freut sich nicht mehr am Spiel, an der Bewegung an sich.


Damit Sport Freude macht, muss man Schwäche zulassen.

Schwäche in dem Sinne, dass man darauf verzichtet

den Sieg um jedem Preis und mit allen Mitteln zu erringen.

So können die Freude an der Bewegung, am Können, am Miteinander

im Mittelpunkt stehen, und der Sieg ist nicht mehr die Hauptsache.


So verstehe ich Paulus’ Satz: „Die Kraft vollendet sich in Schwachheit”.

Auf den Glauben angewandt bedeutet er:

Glaube ist kein Leistungssport.

Im Mittelalter versuchten manche Gläubige, besonders Mönche und Nonnen,

auf groteske Weise, Höchstleistungen im Glauben zu vollbringen.

Sie fasteten, beteten oder wachten bis zum Umfallen.

Von Franz von Assisi wird erzählt, er habe mit einem Leprakranken

aus einer Schüssel gegessen, um sich selbst dafür zu bestrafen,

dass er sich vor dessen blutigen Händen geekelt hatte.

Andere taten sich körperliche Qualen an,

legten sich Steinchen in die Schuhe, schlugen sich mit Geißeln

und hielten das für einen Ausdruck besonderer Frömmigkeit.


Etwas von dieser Haltung steckt auch ins uns,

wenn wir ein schlechtes Gewissen bekommen,

dass wir nicht oft genug in die Kirche gegangen sind,

nicht oft genug gebetet oder in der Bibel gelesen haben,

nicht genug gespendet oder uns engagiert haben.


Glaube soll kein schlechtes Gewissen machen,

Glaube soll befreien und Freude machen.

Damit er das tun kann, muss man sich eingestehen,

dass man manchmal keine Lust auf Kirche hat,

und dass das in Ordnung ist.


II

Der zweite, widersprüchliche Satz von Paulus lautet:

„Mir gefallen Schwachheit, Misshandlung, Zwang, Verfolgung.”

Bei diesem Satz ist die Paradoxie noch offensichtlicher als beim ersten:

Wie kann einem Misshandlung, Zwang, Verfolgung gefallen?

Wer daran Freude hat, der ist doch nicht normal!?


Natürlich hat auch Paulus keine Freude daran,

wenn ihm weh getan wird oder er Angst ausstehen muss.

Warum sagt er es dann so,

dass man ihn missverstehen muss?


Wenn ich als Kind krank war, war es für mich das schönste,

dass ich im Bett liegen bleiben durfte

und meine Mutter mir neben der bitteren Medizin

leckeres Essen ans Bett brachte oder mir eine Geschichte vorlas.


Als Kind fällt es einem noch leicht, sich verwöhnen zu lassen.

Manche Erwachsenen behalten diese Fähigkeit ihr Leben lang -

man wirft ihnen wahlweise Faulheit vor, oder beneidet sie darum.

Vielen aber fällt es schwer, sich helfen zu lassen oder gar um Hilfe zu bitten,

weil sie das als Schwäche empfinden.


Wenn aber Glaube bedeutet, mit Gott in Kontakt zu kommen,

Gott zu begegnen, dann geht das nur dadurch,

dass man sich von Gott helfen lässt,

indem man sich eingesteht, dass man schwach ist und Hilfe braucht.

Darum gefällt Paulus Schwachheit: dadurch erfährt er Gottes Hilfe,

dadurch kommt ihm Christus nahe.

Diese Erfahrung kann er nicht machen, wenn er sich selbst hilft,

oder wenn er niemals Angst, Leid, Not erfährt.


Das bedeutet nicht, dass man Schlimmes erleben muss,

um die Erfahrung der Nähe Gottes zu machen -

wie auch ich nicht erst krank werden musste,

damit meine Mutter mir eine Geschichte vorlas

oder mir etwas Leckeres zu essen machte.


Es bedeutet, dass wir gerade in Situationen,

in denen wir uns schwach und hilflos fühlen,

die Erfahrung machen können, dass Gott uns nahe ist.

Glaube ist nicht nur etwas für schöne, unbeschwerte Tage,

sondern auch und gerade für die trüben Tage, die uns nicht gefallen.


III

Das dritte Parádoxon lautet: ”Wenn ich schwach bin, bin ich stark.”

Inzwischen ist klar, dass es sich dabei nicht um körperliche Stärke handelt.

Man kann, wie gesagt, nicht zugleich körperlich stark und schwach sein.

Aber es gibt ja noch andere Arten von Stärke:


Man spricht von starken Nerven,

wenn jemand auch in unübersichtlichen, anstrengenden oder

herausfordernden Situationen ruhig bleiben kann.


Man spricht von Charakterstärke,

wenn jemand seine Haltung bewahrt

und seine Meinung nicht der jeweils vorherrschenden anpasst,

auch wenn er oder sie dadurch Nachteile erfährt.


So bewundert man auch die Glaubensstärke bei jemandem,

die bei Leid oder Krankheit nicht mit Gott hadert,

sondern im Glauben Trost und Halt findet.


Solch innere Stärke ist eine Fähigkeit, die man trainieren kann,

wie man seine Muskeln trainiert.

Man kann sogar den Glauben trainieren,

indem man immer wieder das Gespräch, die Begegnung mit Gott sucht

und, wie es im ersten Psalm heißt, über Gottes Wort nachdenkt,

wann immer sich dazu eine Gelegenheit ergibt.


Solches Glaubenstraining schützt nicht vor Enttäuschung,

es schützt nicht vor Zweifel oder dem Gefühl,

von Gott vergessen oder im Stich gelassen worden zu sein.

Im Gegenteil: Damit der Glaube Halt geben und trösten kann,

muss man auch diese Erfahrungen gemacht haben.

Man lernt zu ertragen, dass der eigene Glauben schwach ist

oder vielleicht sogar abhanden gekommen scheint.


Das Glaubenstraining hilft dabei,

das Gespräch mit Gott wieder aufzunehmen.

Dabei kann man die Erfahrung machen:

Gott hat niemals den Hörer aufgelegt,

Gott hat die ganze Zeit am anderen Ende des Hörers gewartet,

dass wir wieder ans Telefon gehen.


Auch hier gibt es ein Parádoxon:

Wenn wir die Verbindung niemals abbrechen,

wenn wir nie vom Telefon weggehen,

können wir nicht die Erfahrung machen,

dass Gott die ganze Zeit in der Leitung war.

Unsere Schwäche gereicht uns nicht zum Nachteil,

sondern ermöglicht uns erst die Erfahrung des Glaubens:

Die Schwäche macht uns stark.


IV

Was will Paulus den Korinthern, was will er uns über den Glauben sagen?

Ich denke, zuallererst will er Mut machen zu scheitern.

Wenn man die Angst vor dem Scheitern,

die Angst vor dem Verlust des Glaubens verliert,

wird Glaube wieder das, was er sein soll:

eine wohltuende Erfahrung, die glücklich, frei und selbstbewusst macht.


Paulus will auch Mut machen, sich den Glauben schenken zu lassen.

Nicht dem Glauben hinterherjagen,

sondern warten, dass der Glaube zu einem kommt.

Manchmal braucht man eine Pause vom Gottesdienst, von der Kirche.

Manchmal sagt einem das alles nichts mehr,

fehlt die innere Beteiligung.

Das ist menschlich. Nur keine Panik.

Der Glaube kommt zurück, wenn man am wenigsten damit rechnet.


Glaube ist eine Kraft, die jede und jeder besitzt

und die man sich doch nicht selbst erschließen kann.

Sie fällt einem zu, wenn man sich dafür öffnet, das heißt: wenn man schwach ist,

nicht auf die eigene Kraft, die eigene Leistung allein vertraut.

Die Kraft des Glaubens fällt einem zu,

weil Gott uns seine Gnade schenkt.

Gottes Gnade schenkt uns den Glauben -

diese besondere, einzigartige Kraft,

die uns in Gottes Nähe führt

und durch die Gott uns nahe kommt.


Darum bekennen wir Gott als Schöpfer.

Gott weckt in uns die schöpferische Kraft des Glaubens,

die uns stark macht, wenn wir schwach sind

und durch die unsere Schwäche zur Stärke wird.