Montag, 24. Juni 2024

ich muss abnehmen

Ansprache am Johannistag, 24.6.2024, über Johannes 3,22-30


Liebe Schwestern und Brüder,


ich muss abnehmen - das schießt einem manchmal durch den Kopf,

wenn man an sich hinunter auf die Anzeige der Waage blickt.

„Ich muss abnehmen”, denkt man. 

Aber dann locken der leckere Nachtisch,

dies eine, kleine Stückchen Schokolade zwischendurch, 

die paar Chips vor dem Fernseher.

Und beim nächsten Mal auf der Waage

ist der blöde Zeiger schon wieder ein Stück nach rechts gerückt.


„Er muss wachsen, ich aber muss abnehmen.”

Johannes muss auch abnehmen,

obwohl er bei seiner kargen Diät von Heuschrecken und Honig

nichts ansetzen konnte.

Was bei Johannes schwindet, ist denn auch nicht der Bauch,

der ohnehin nicht vorhanden war, sondern der Einfluss.

Johannes hatte mit seiner Botschaft von der Umkehr

viele Menschen erreicht,

hatte Jünger um sich geschart

und war so etwas wie eine Berühmtheit geworden.

Selbst König Herodes kannte und fürchtete ihn,

weil Johannes öffentlich dessen liederliches Leben angeprangert hatte:

Herodes lebte mit der Frau seines Bruders zusammen.

Aber seit er Jesus getauft hatte,

war der in den Mittelpunkt des Interesses gerückt,

während Johannes’ Einfluss geschwunden war.


Johannes ist nicht traurig darüber,

er ist nicht neidisch auf Jesus’ Erfolg.

Er war der Vorläufer, der Wegbereiter.

Seine Arbeit ist getan, mission accomplished.

Jetzt übernimmt der Sohn Gottes.


Es ist alles andere als selbstverständlich,

dass jemand, der selbst etwas darstellt,

der wichtig und bedeutend ist,

sich mit der Position am Rand zufrieden gibt

und sich über den Erfolg des anderen von Herzen freut.


Auch in unserer Gemeinde sind meist nur wenige zu sehen,

während viele am Rand oder im Hintergrund dafür arbeiten,

dass alles läuft und gut gelingt.

Viele, die im Leben etwas geleistet haben oder noch leisten,

die Verantwortung trugen, wichtige Leute waren oder sind,

die man kennt und auf der Straße grüßt,

übernehmen in der Gemeinde ganz selbstverständlich Aufgaben,

für die sie selten gewürdigt werden und ein Dankeschön erhalten.

Aufgaben, die man oft nicht sieht, nur deren Ergebnisse,

und bei denen Sie meist nicht sichtbar sind.

Doch ohne Sie, ohne die vielen Johannas und Johannesse,

gäbe es die Domgemeinde nicht, würde hier nichts stattfinden,

wäre der Dom nicht ein so einladend offenes Haus, wie er es ist.


Sie tun das nicht für uns, die vorne stehen und zu sehen sind.

Denn wir sind ja nicht Jesus.

Auch wir, die Lektorinnen und Lektoren, 

Kantor, Gemeindepädagoge und Pastor,

auch wir sind Johannas und Johannesse, die auf Jesus weisen,

von ihm erzählen mit Worten und Musik, um ihn groß zu machen.

Gemeinsam mit Ihnen arbeiten wir daran, dass die Gemeinde wachsen 

und die Freude am Glauben zunehmen kann.

Die einen sozusagen vor der Kamera, und die anderen dahinter.


Bei aller Bescheidenheit, bei allem auf-Jesus-Weisen

darf man auch selbst im Rampenlicht stehen

und das Lob, den Beifall genießen, 

wenn man seine Sache gut gemacht hat.

So haben die Konfirmandinnen und Konfirmanden

bei ihrer Vorstellung und ihrer Konfirmation

zu recht viel Aufmerksamkeit und Lob bekommen,

weil sie ihre Sache sehr, sehr gut gemacht haben.

Das hat der Sache Jesu keinen Abbruch getan.

Im Gegenteil: Gerade sie haben mit ihrem Auftreten -

im biblischen Sprachgebrauch würde man sagen: mit ihrem Zeugnis - 

noch einmal ganz andere Menschen erreicht

und Menschen noch einmal ganz anders erreicht,

als z.B. ich das mit meiner Predigt kann.


Darum ist es mir so wichtig,

dass Sie alle zu sehen sind, wenigstens ab und zu.

Ich weiß, dass das vielen von Ihnen unangenehm ist.

Man möchte nicht im Licht der Öffentlichkeit stehen,

man möchte vielleicht auch nicht als unbescheiden gelten.

Trotzdem ist es so wichtig, dass Sie zu sehen sind:

Jede und jeder von Ihnen weist auf seine und ihre Weise auf Jesus.

Auf eine Weise, die einzigartig ist

und die Menschen anspricht, die anders 

und von anderen nicht angesprochen werden.

Ganz abgesehen davon darf man sich auch mal loben lassen

und stolz sein auf das, was man geleistet hat.


Ich habe keine Sorge, dass Sie dabei übermütig

oder gar eingebildet werden könnten.

Denn in diesem Satz des Johannes:

„Er muss wachsen, ich aber muss abnehmen”

steckt noch etwas anderes.

Darin steckt, dass durch den Glauben

Christus immer mehr in uns Raum gewinnt.

Christus wächst in uns,

während wir selbst kleiner werden.

Nicht in dem Sinn, dass wir unwichtig sind,

oder dass wir uns nicht zeigen,

uns über eine gute Leistung freuen dürfen.


Siegmund Freud hat den Satz geprägt:

„Wo Es war, soll Ich werden”.

Er meint damit, dass durch die analytische Arbeit

Unbewusstes bewusst gemacht werden soll.

Man ist dann nicht mehr seinen Stimmungen, 

seinen Gefühlen - dem Es - ausgeliefert.

Man kann entscheiden, ob man Zorn oder Trauer

ausleben will oder, weil man weiß, woher sie kommen,

sie wahrnimmt und beiseite legt.

Aus dem unbewussten Es wird das bewusste Ich.


Paulus schrieb, lange vor Freud:

„Nun lebe nicht mehr ich, sondern Christus lebt in mir”.

Er meint damit etwas ähnliches wie Freud.

Wenn Christus in uns wächst,

werden unsere Entscheidungen immer mehr von Gottes Liebe bestimmt, 

die Christus lebte und verkörperte.

Wenn Christus in uns wächst,

werden Nächsten -, Gottes- und Selbstliebe eine Einheit.

Sie machen sich nicht Konkurrenz, sie ergänzen einander

und gehen ineinander über.

Auf diese Weise wird unser Ich kleiner,

ohne zu verschwinden, und Christus wird groß in uns.


Und weil Christus in uns wächst und groß wird,

darum sind wir alle seine Botschafterinnen und Botschafter.

Wir alle erzählen von ihm auf unsere besondere, einzigartige Weise,

mit Musik, mit Worten, mit Blumen,

durch den Kaffee, den wir für andere kochen,

die Würstchen, die wir grillen.

Indem wir den Dom öffnen und ihn Leuten erklären,

die wissen wollen, was das für ein Gebäude ist.

Sie alle, wir alle tun eine unschätzbare, unbezahlbare

und so wichtige Arbeit als Johannas und Johannesse.


Heute, am Johannistag, soll Ihnen das einmal bewusst werden.

Wenigsten heute sollen Sie stolz auf sich sein,

auf das, was Sie leisten und der Domgemeinde von sich geben.

Und ich will Ihnen heute dafür Danke sagen:

Danke im Namen des Kirchengemeinderates.

Danke im Namen der unzähligen Menschen,

die den Dom besuchen, die Konzerte und Gottesdienste.

Wie schön, dass es Sie gibt,

dass Sie Ihr Herz an die Domgemeinde verloren haben

und dass Sie auf Ihre ganz besondere Art

Botschafterinnen und Botschafter der Liebe Gottes sind!