Sonntag, 4. August 2024

Noch steht es aus

Predigt am 10. Sonntag nach Trinitatis, 4.8.2024, über Sacharja 8,20-23:

So spricht der Herr der Heerscharen:
Noch steht es aus, dass Völker kommen werden und Bürger vieler Städte.
Ein Bürger wird zum andern gehen und sagen:
Wir müssen unbedingt los, um den Herrn für uns einzunehmen
und den Herrn der Heerscharen aufzusuchen - ich werde auch gehen.
Es werden viele Völker kommen und zahlreiche Ungläubige,
um den Herrn der Heerscharen aufzusuchen
und den Herrn für sich einzunehmen.

So spricht der Herr der Heerscharen:
In diesen Tagen wird es geschehen,
dass zehn Leute aus allen Sprachen der Ungläubigen
einen Juden am Saum zupfen und sagen:
Wir wollen mit euch gehen
denn wir haben gehört, dass Gott mit euch ist.

Liebe Schwestern und Brüder,

noch steht es aus.
Mit diesen vier Worten wird ein Punkt in der Zukunft markiert,
wie man früher auf einer Landkarte den Ort markierte, zu dem die Reise gehen sollte.
Und wie man heute den Zielort markiert, zu dem Google die Route berechnen soll.

Wenn man sich die Zeit als eine weite Fläche vorstellt,
gibt es auf dieser weiten Fläche jetzt einen Punkt.
Die Zeit ist nicht mehr gleichförmig und gleichmäßig;
ein Ereignis ist herausgehoben,steht hervor wie der Fleck auf einem weißen Tischtuch:
man kann ihn nicht mehr übersehen.

Jetzt, wo dieser Punkt markiert wurde,
ist eine Zukunft nicht nur bezeichnet, sondern festgelegt: Diese Zukunft wird kommen.
Sie wird eintreten, weil Gott sie angekündigt hat.
Er hat in der weiten Fläche der Zeit dieses Ereignis festgesetzt.

Wie jede Zeichnung mit einem Punkt beginnt,
wo man den Stift ansetzt und von dem aus man die erste Linie zieht,
so gehen von diesem zukünftigen Punkt Linien aus,
die sich von der Zukunft her erstrecken bis zu uns
und unser Leben mit dieser Zukunft verbinden.

Aber, wie das so ist mit den biblischen Zukünften, wann sie eintreten, ist ungewiss.
Das Ereignis in der Zukunft ist markiert,
aber nicht für morgen, nächste Woche oder nächstes Jahr.
Auf der weiten Fläche der Zeit fällt es schwer, Entfernungen einzuschätzen.
Der Punkt ist da, nicht zu übersehen.
Aber wie weit es zu diesem Punkt ist,
wie lange es dauert, bis es kein Punkt in der Ferne mehr ist,
sondern zum Ereignis wird, das unmittelbar bevorsteht, das lässt sich nicht sagen.

Noch steht es aus.
Die biblischen Zeitansagen sind keine, mit denen man rechnen kann.
Google kann einem sagen, wie lange die Reise zum gewählten Ziel dauert
mit dem Auto, mit dem Fahrrad, mit Bus und Bahn und sogar zu Fuß.
Die biblischen Zukünfte bleiben unbestimmt.
Und nach allem, was wir wissen,
rechnet die Bibel in Jahrhunderten und Jahrtausenden, nicht in Tagen oder Jahren.

Und doch ist dieser Punkt markiert, das heißt: Er ist gesetzt, ist nicht mehr zu übersehen.
Er orientiert uns, gibt uns die Richtung an.
Seit wir von ihm wissen, gehen wir darauf zu.
Er bestimmt unser Denken und Handeln.

Ein solcher Punkt ist z.B. die Auferstehung der Toten. Wann sie kommt, wissen wir nicht.
Aber weil wir wissen, dass sie kommt,
ist sie ein Fixpunkt unseres Lebens: Wir gehen darauf zu.
Wir richten unser Leben daran aus.

Der Tod eines Menschen, den wir lieb hatten,
ist trotzdem noch ein großer Schmerz, ein immenser Verlust,
ein tiefgreifender Einschnitt in unserem Leben.
Aber er ist nicht mehr das Ende.
Die Gestorbene, den Gestorbenen wie uns erwartet die Auferstehung.

Für sie, für ihn, für uns gibt es eine Zukunft.
Eine gemeinsame Zukunft jenseits des Todes.
Wir wissen nicht, wann sie kommt, aber wir bewegen uns auf sie zu.
Wir können sie nicht verfehlen.
Sie ist als Ziel unseres Lebens markiert und gesetzt.
Dadurch wirkt sie auf uns, auf unser Leben zurück:

Wir leben aus der Auferstehung.
Von dem fernen Punkt in der Zukunft ziehen sich Linien bis zu uns,
bilden ein Liniennetz, das uns mit anderen verbindet:
Mit denen, die uns vorausgingen;
mit denen, die mit uns gegenwärtig sind
und mit denen, die nach uns kommen werden.

Noch steht es aus.
Nicht nur diese eine Zukunft der Auferstehung.
Die Bibel kennt viele Zukünfte:

„Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen.
Ein jeder wird unter seinem Weinstock und Feigenbaum wohnen,
und niemand wird sie schrecken” (Micha 4,3-4)

Oder:

„Jeder Stiefel, der mit Gedröhn dahergeht, und jeder Mantel, durch Blut geschleift,
wird verbrannt und vom Feuer verzehrt” (Jesaja 9,4).

Oder:

„Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein,
noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein, denn das Erste ist vergangen” 
(Offenbarung 21,4).

Was diese Zukünfte gemeinsam haben: Sie sprechen Sehnsüchte aus.
Sehnsucht nach Frieden, nach Gerechtigkeit,
nach Leben, nach einem Zuhause.

Sprechen sie die Sehnsüchte aus, oder wecken sie sie erst?
Die biblischen Zukünfte markieren Ziele auf der Fläche der Zeit.
Es sind Zukünfte, die sich noch nicht ereignet haben.
Darum sind es Sehnsuchtsorte.

Als Sehnsuchtsorte geben sie unserer Hoffnung ein Ziel. Zu ihnen werden wir hingezogen.
Sie geben uns die Richtung vor.
Damit sind sie der Maßstab, an dem wir unsere Gegenwart messen.

Dank dieser Sehnsuchtsorte wissen wir,
dass Ungerechtigkeit nicht der Normalzustand ist;
dass Kriege nicht unvermeidlich sind;
dass das Leben nicht sinnlos und wertlos ist;
dass ein Leben auf uns wartet, das vom Leid nicht mehr eingeschränkt
und vom Tod nicht mehr besiegt werden kann.

Kein Wunder, dass sich die Völker aufmachen, um von diesen Zukünften zu hören,
die uns die Bibel vor Augen stellt,
und dass zehn Leute einen Juden am Saum zupfen, damit er sie mitnimmt.

Denn die Juden haben diese Worte überliefert.
Sie haben die Weisung Gottes aufgeschrieben und bewahrt.
Sie haben danach gelebt und sie dadurch lebendig gehalten.
Durch sie haben wir Gott kennen gelernt.
Durch sie wissen wir, was Gottes Wille für uns ist,
„nämlich Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott” (Micha 6,8).

Noch steht es aus.
„Siehe, Finsternis bedeckt das Erdreich und Dunkel die Völker” (Jesaja 60,2).
Sieht man sich in der Welt um,
muss man wohl feststellen, dass die biblischen Zukünfte
den heutigen Menschen keine Orientierung mehr geben.

Die Worte Sacharjas benennen eine Sehnsucht.
Die Sehnsucht, Menschen mögen spüren,  dass das, was ihnen fehlt,
Gottes Wort ist und Gottes Weisung,
an dem sie ihr Handeln und die Handlungen anderer messen und orientieren können.

Wer diese Sehnsucht empfindet, ist bereit, über sich und sein Handeln nachzudenken,
zu bereuen und sich zu ändern.
Wer diese Sehnsucht empfindet, erhält mit ihr einen Kompass,
der verlässlich die Richtung für das eigene Leben angibt.

Diese Sehnsucht können wir wecken, wenn wir von ihr erzählen.
Von den Zukünften, die unserem Leben Richtung und Ziel geben.
Die uns hoffen lassen, uns trösten und uns die Kraft geben,
unbeirrt bei der Wahrheit zu bleiben,
uns für Gerechtigkeit einzusetzen
und Gottes Liebe weiterzugeben.

Damit bringen wir Licht in die Welt,
wie es ein anderes Zukunftwort der Bibel ausmalt:

„Finsternis bedeckt die Erde und Dunkel die Völker, aber über dir geht auf der Herr,
und seine Herrlichkeit erscheint über dir.
Und die Heiden werden zu deinem Lichte ziehen und die Könige zu deinem Glanz” (Jesaja 60,2-3).