Sonntag, 11. August 2024

Dem Gesetz gestorben

Predigt am 11. Sonntag nach Trinitatis, 11.8.2024, über Galater 2,16-21


„Ich bin durchs Gesetz dem Gesetz gestorben.”

Das klingt wie ein Rätsel.

Es bleibt rätselhaft, wenn man nicht weiß, was Paulus damit meint.

Er setzt sehr viel voraus, was man beim Hören dieses Satzes mitdenken muss.

Es lohnt sich aber, diese Hintergründe zu betrachten.

Dadurch versteht man nicht nur Paulus’ Anliegen besser.

Es gibt auch etwas zu entdecken,

das für den Glauben wichtig, sogar wesentlich sein könnte.

Lassen Sie uns also einmal in Ruhe dieses Rätsel betrachten:

„Ich bin durchs Gesetz dem Gesetz gestorben.”


Was meint Paulus mit „Gesetz”?

Damit meint er das Halten der Gebote.

Seit Martin Luther sind wir gewohnt,

das Gesetz als Gegensatz zum Evangelium zu denken.

Wir stellen uns vor, dass Evangelium und Gesetz zwei Gegenpole bilden

wie Hund und Katze oder Tag und Nacht.

Das Evangelium ist dabei die gute Seite, das Gesetz ist schlecht.


Aber so einfach ist das nicht.

Denn die Gebote, die das Gesetz ausmachen, 

sind ja Gottes guter Wille für uns -

wie kann Gottes guter Wille schlecht sein?


Paulus, der ein Pharisäer war - heute würde man sagen,

ein orthodoxer Jude - hatte sich der Befolgung der Gebote verschrieben.

Orthodoxe Juden zeigen das auch äußerlich,

indem sie z.B. den Tallit, den Gebetsschal, tragen, 

denn eins der 613 Ge- und Verbote der Torah lautet,

solch einen Tallit zu tragen.

Das dient nicht der Zurschaustellung der eigenen Frömmigkeit,

wie es den Pharisäern oft vorgeworfen wurde.

Das Leben nach den Weisungen der Torah ist der Weg, 

eine Beziehung mit Gott einzugehen.


Diese Beziehung beruht auf Gegenseitigkeit:

Gott geht auch eine Beziehung zu den Gläubigen, zu uns, ein.

Diese Beziehung zu Gott ist manchmal

von der Seite der Gläubigen aus gestört.

Die Bibel nennt diese Störung „Sünde”.

Sünde bedeutet, dass man den Willen Gottes 

übertreten oder ignoriert hat.


„Sünde” enthält für uns immer schon ein Werturteil:

Sünde ist etwas Verwerfliches.

Diebstahl oder Ehebruch sind Sünde.

Man tut so etwas nicht, 

weil man damit Menschen schädigt oder verletzt.


Was man tut und was nicht, ist eine Frage der Moral.

Die gerade geltenden moralischen Maßstäbe

konnte man früher an der Rocklänge ablesen.

Heute ist es schwerer, weil vielen Menschen

die Maßstäbe verloren gegangen sind.

Oder weil sie mit zweierlei Maß messen.


Dem Glauben geht es aber nicht um Moral.

Ihm geht es um das Verhältnis zu Gott.

Für den Glauben sind Diebstahl und Ehebruch Sünde,

weil sie gegen Gottes Gebot verstoßen.

Nicht was Menschen richtig oder falsch finden, ist das Kriterium,

sondern was Gott will.


Aus dem Blickwinkel der Moral erscheint das als Umweg:

Es ist aber ein notwendiger Umweg.

Denn dadurch liegt die Entscheidung,

was Sünde ist und was nicht, bei Gott, und nicht bei uns.


Es gibt immer wieder Umstände,

unter denen Taten, die normalerweise als falsch gelten,

auf einmal richtig oder sogar geboten sind.

Im Krieg z.B. ist es nicht falsch, einen Menschen zu töten,

der mich, meine Familie oder meine Stadt angreift.

Vor Gott aber ist und bleibt es Sünde:

Ein Verstoß gegen das 5. Gebot „Du sollst nicht töten”.


Darum ist der scheinbare Umweg über den Glauben so wichtig:

Er entzieht die grundlegenden Regeln des Zusammenlebens

der menschlichen Willkür, die manchmal Richtiges falsch

und Falsches richtig nennt, je nachdem, wie es ihr passt.

Dazu muss man aber an Gott glauben.


Gottes Gebot ist also wichtig, lebenswichtig sogar.

Seine Übertretung, die Sünde, stört die Gottesbeziehung.

Das bedeutet nicht, dass man keine Gottesbeziehung haben kann,

wenn man Gottes Gebote befolgt. Im Gegenteil:

Wer sich bemüht, Gottes Willen zu tun, ist Gott nah.


Die Gebote zu befolgen, begründet eine Beziehung zu Gott.

Der Haken ist nur, dass das Befolgen der Gebote

immer wieder misslingt.

Niemand schafft es, alles richtig zu machen,

alle Gebote zu befolgen.


Das liegt nicht nur an unseren begrenzten Fähigkeiten und Möglichkeiten.

Grund ist auch nicht fehlende Willensstärke, mangelndes Bemühen.

Es liegt schlicht an widerstreitenden Interessen.

Mein Wollen setzt dem Willen des anderen eine Grenze - und umgekehrt.

In der Regel findet man einen Kompromiss,

mit dem beide leben können.

Es gibt aber bei jedem Menschen eine rote Linie,

die nicht überschritten werden darf:

Bis hierher und nicht weiter.

Ein solcher Interessenkonflikt stört die Beziehung,

manchmal zerstört er sie sogar - 

z.B. wenn die Partnerin, der Partner fremdgegangen ist.


Weil wir Menschen sind, können wir nicht nicht sündigen.

Es hat keinen Zweck, es zu versuchen.

Immer wieder überschreiten wir die Grenzen des anderen,

immer wieder sind wir auf Vergebung angewiesen.

Es geht nicht ohne.


Eine solche, auf Vergebung gegründete Beziehung funktioniert aber nur,

wenn die geschädigte Seite auch zur Vergebung bereit ist.

Wenn nicht, bleibt die Beziehung gestört - oder zerbricht.

Wir haben es also nicht selbst in der Hand,

unsere Beziehung zu Gott und zu unseren Mitmenschen zu gestalten.

Damit eine Beziehung bestehen bleibt,

braucht es die Bereitschaft des oder der anderen zur Vergebung.

Das meint Paulus, wenn er sagt:

„durch des Gesetzes Werke wird kein Mensch gerecht”.


Nun kann man die Gebote aber auch nicht ignorieren.

Sie sind ja Gottes guter Wille für uns.

Gottes Forderung steht uns vor Augen;

wir wissen aber, dass wir sie nicht erfüllen können:

Wir befinden uns in einem Dilemma,

aus dem wir selbst nicht herauskommen.


Zum Glück gibt es einen Ausweg: Der Glaube an Christus.

Jesus hat zwei Dinge für uns getan:


Einmal hat er Gottes Willen erfüllt.

Er hat geschafft, was keinem Menschen je gelang

und was nie einem Menschen gelingen wird:

So zu leben, wie Gott es wollte.

Weil Jesus so gelebt hat, brauchen wir es nicht mehr zu tun.

Was er geschafft hat, kommt uns allen zugute.


Zum anderen hat Jesus am Kreuz

alles auf sich genommen, was uns von Gott trennt:

die Sünden der ganzen Menschheit,

aller, die vor uns waren;

aller, die mit uns leben

und aller, die nach uns kommen werden.

Dadurch hat er uns einen Freibrief ausgestellt.

Wir können unsere Beziehung zu Gott nicht mehr zerstören,

was wir auch anstellen mögen.


Doch wie kommt man an diesen Freibrief heran?

Wir stecken doch fest in dem Dilemma,

zwischen der Forderung Gottes 

und unserer Unfähigkeit, sie zu erfüllen.

Wie können wir uns anrechnen lassen,

was Christus für uns getan hat?


Aus diesem Dilemma gibt es nur einen Ausweg:

Wir müssen sterben.

Bevor Sie einen Schreck kriegen:

Wir müssen nicht wirklich sterben.

Wir müssen für das Gesetz gestorben sein.

Gemeint ist: Wir müssen den Versuch aufgeben,

durch Erfüllung der Gebote

eine Beziehung zu Gott herstellen zu wollen.


Um aus dem Dilemma herauszukommen,

müssen wir uns also vom Gesetz überführen 

und verurteilen lassen als komplette Versagerinnen und Versager.

Erst, wenn uns keine Ausrede und kein Ausweg mehr bleibt,

sind wir durch das Gesetz dem Gesetz gestorben.

Dann kann Christus uns lebendig machen,

indem er für uns das Gesetz erfüllt

und unser Versagen auf sich nimmt.


Dadurch macht er uns frei.

Frei, eine Beziehung zu Gott zu führen,

die nicht dadurch steht und fällt,

dass wir den Willen Gottes tun - 

denn den hat Jesus für uns erfüllt.


Diese Beziehung kostet uns nichts,

wir bekommen sie geschenkt, gratis, sola gratia.

Allein deshalb, weil Jesus uns so liebt,

dass er uns die Beziehung zu Gott ermöglichen will.


Weil wir für unsere Beziehung zu Gott nichts tun müssen,

sind wir frei, Gottes Gebote zu befolgen.

Wir dürfen sie befolgen - so sehr und so intensiv,

wie wir wollen und können.


Weil sie keine Rolle für unsere Beziehung zu Gott mehr spielen,

dürfen sie ihre wichtige Rolle für unser Miteinander spielen.

Wir dürfen sie befolgen ohne Angst,

etwas falsch zu machen, zu wenig zu tun oder nicht gut genug zu sein.

Denn das kleinste Bisschen, das wir tun, ist mehr als nichts. 

Es kommt zu 100% unseren Mitmenschen zugute,

egal, wie viel oder wie wenig wir tun.


„Ich bin durchs Gesetz dem Gesetz gestorben.”

Im weiteren Sinne bedeutet das:

Wie wir vor Gott dastehen,

hängt nicht davon ab, was wir tun und wieviel;

es liegt allein am Glauben.


In einer Gesellschaft, in der Leistung, Wohlstand, Karriere

eine so große Rolle spielen,

fällt es schwer, sich auf den Glauben allein zu verlassen.

Es fällt schwer zu akzeptieren,

dass vor Gott nicht zählt, wer wir sind, was wir haben oder können.

Für Gott zählt, was wir nicht haben, wer wir nicht sind.


Für Gott zählt, dass wir ihn brauchen, also:

dass wir schwach sind, ohnmächtig, hilfsbedürftig.

Weil Gott dann für uns da sein kann

und wir dadurch in einer Beziehung zu Gott stehen.

Eine Beziehung, die nicht wir gestalten,

in der nicht wir entscheiden, sondern Gott,

dem wir vertrauen müssen.

Dieses blinde Vertrauen: Das ist Glauben.

Gott können wir voll und ganz vertrauen.

Er wird unser Vertrauen weder missbrauchen noch enttäuschen.


Insofern muss doch etwas sterben:

Unser Wahn, wir hätten alles im Griff,

könnten alles machen, alles schaffen -

alles nur eine Frage des Wissens, des Wollens, des Geldes.

Wirklich frei sind wir erst, wenn wir uns unsere Ohnmacht eingestehen:

Dann kann Gott endlich seine schöpferische Macht entfalten.