Sonntag, 29. September 2024

mit dem zweiten sieht man besser

Predigt am Sonntag Michaelis, 29.9.2024, über Numeri 22,31-35

Ein Machthaber fühlt sich bedroht.
Eine andere Macht ist an den Grenzen seines Landes aufgetaucht.
Er fürchtet, dass sie ihm wichtige Rohstoffe streitig machen wird.
Er plant einen Präventivschlag:
Er will diese andere Macht angreifen,
bevor sie sich in seiner Nachbarschaft festsetzen kann.

Um seinen Angriff vorzubereiten,
beauftragt er einen Influencer:
Er soll sein Volk gegen die Fremden aufhetzen
und es zu einem Krieg anstacheln.
Die fremde Macht soll er als schwach darstellen,
als feindlich und minderwertig.
So will der Machthaber sich einen Vorteil verschaffen,
damit er die Fremden besiegen kann.

Der Machthaber heißt Balak, König der Moabiter,
die in Palästina lebten.
Die fremde Macht, die an seinen Grenzen auftaucht,
ist das Volk Israel, dessen Fluchtweg 
aus Ägypten durchs Land Moab führt.
Und der Influencer, der die Israeliten schlecht machen soll,
ist Bileam, der aus Aram stammt, dem heutigen Iran.

Bileam lässt sich darauf ein,
gegen das Volk Israel zu agitieren
und reist dazu nach Moab, zu König Balak.
Aber seine Eselin, auf der er reitet,
weicht von der Straße ab und rennt querfeldein.
Nur mit Schlägen kann er sie auf den Weg zurück bringen.

Der Weg wird enger, von Mauern gesäumt.
Wieder weicht seine Eselin aus.
Ganz eng drückt sie sich an der Mauer entlang,
sodass Bileams Fuß eingequetscht wird.
Voller Wut schlägt er sie noch mehr,
bis sie endlich wieder in der Mitte des Weges läuft.

Schließlich verengt sich der Weg so sehr,
dass kein Ausweichen mehr möglich ist,
weder zur Rechten noch zur Linken.
Die Eselin bleibt stehen
und knickt mit den Vorderbeinen ein.
In blinder Wut prügelt Bileam auf sie ein.
Da hört er sie sprechen:
„Bin ich nicht deine Eselin, auf der du geritten bist von jeher?
War es je meine Art, mich so zu verhalten?”


Bileam werden die Augen geöffnet.
Man denkt spontan: Weil seine Eselin spricht.
Aber sprechende Esel gibt es nicht.
Vielmehr begreift Bileam in diesem Moment,
dass seine Eselin sich anders verhält als sonst.
Niemals ist sie so störrisch gewesen.
Es muss einen Grund geben,
dass sie jetzt nicht mehr weitergehen will,
obwohl er sie so heftig schlägt.

Als sich diese Erkenntnis bei Bileam einstellt, sieht er den Engel.
Kein liebes, putziges, kleines Engelchen.
Auch keiner von den Engeln mit Dauerwelle,
die auf dem Loste-Altar zu sehen sind.
Ein gebieterischer und furchterregender Engel steht ihm gegenüber.
Das Schwert in seiner Hand bedeutet Bileam: 
Keinen Schritt weiter. 

Wie öffnen sich die Augen,
dass man den Engel erkennt, der vor einem steht?
Bileams Augen sind ja offen, er kann ja sehen -
und sieht doch die Gefahr für sein Leben nicht, den tödlichen Engel, 
dem seine treue Eselin dreimal ausweicht, um Bileam zu retten.

Ein Leben lang macht man die Erfahrung,
dass manches anders ist, als es auf den ersten Blick erscheint.
Auf die Entfernung kann man Dinge oder Personen leicht verwechseln;
im Zwielicht, in der Dunkelheit täuschen die Schatten etwas vor,
das gar nicht existiert.
Manchmal sieht man den Wald vor lauter Bäumen nicht.
Manchmal will man etwas nicht sehen.
Und manchmal sieht man etwas,
weil man felsenfest davon überzeugt ist, dass es da sein muss.

Nach dem ersten Blick,
der die Dinge wahrnimmt, wie sie sich zeigen,
kommt der zweite Blick,
der die Fassaden, die Masken und Schleier durchdringt.

Der zweite Blick ist kein Sehen, sondern ein Wissen:
Das Wissen, dass das, was man sieht, oft nicht alles ist;
dass das, was man sieht, nicht unbedingt wahr sein muss
und dass unsere Sinne uns manchmal einen Streich spielen.

Aber wie kommt man auf den Gedanken,
etwas könnte nicht so sein, wie es dargestellt wird?
Wie kommt es dazu, 
dass jemand am Alltäglichen, Gewohnten zu zweifeln beginnt?

Die Ausstellung „Spurensuche”, die wir heute im Dom eröffnen, 
zeigt Bilder, die diesen Moment des Zweifels festgehalten haben.
Sie zeigt Räume, Gebäude, Dinge, 
die auf den ersten Blick harmlos wirken, unverdächtig, unscheinbar.
Erst die Geschichte, die sich mit diesen Spuren verbindet,
lässt erkennen, dass diese Bilder den Übergang zeigen:
die Wende von der staatlich verordneten Sicht auf die Welt
hin zum Erkennen der Hintergründe und Absichten,
der Fehler, der Gemeinheiten und der Verbrechen:
die Entdeckung des zweiten Blicks.

Der Malersaal im Staatstheater zum Beispiel:
Ein leerer, unscheinbarer, langweiliger Raum.
Erst mit dem zweiten Blick sieht man,
was auf diesem Foto abgebildet ist: 
Der Raum, in dem im Oktober 1989 
die Plakate für die erste große Demonstration gemalt wurden. 
Die erste Demonstration, die nicht der Staat, 
sondern Bürgerinnen und Bürgern organisiert hatten.
Mit diesem zweiten Blick spürt man, 
dass dieser Raum für kurze Zeit ein Freiraum war,
in dem Hoffnung und Wut geäußert und geteilt wurden.
Und zugleich spürt man die Angst vor der Staatsmacht,
die jeder und jedem im Nacken saß.

„Bin ich nicht deine Eselin, auf der du geritten bist von jeher?
War es je meine Art, mich so zu verhalten?”

Bileams Augen werden geöffnet,
weil er merkt, dass seine Eselin sich anders verhält als sonst.
Es dauert lange, bis er es endlich merkt.
Dabei ändert sich das Verhalten der Eselin schlagartig,
nicht schleichend und allmählich, 
wie Veränderungen sonst vonstatten gehen.

Die Fähigkeit, zu zweifeln an dem,
was als Wirklichkeit erscheint,
was als unvermeidlich oder unveränderlich dargestellt 
oder als Meinung der Mehrheit ausgegeben wird,
diese Fähigkeit erwacht, wenn man Veränderungen bemerkt.

Veränderungen des gesellschaftlichen Klimas,
der Art, wie wir miteinander reden - oder nicht mehr reden.
Veränderungen, wie wir über Andere denken
und wie wir mit ihnen umgehen.
Veränderungen der politischen Streitkultur.
Veränderungen unserer Umwelt.

Um solche Veränderungen zu bemerken, braucht es den zweiten Blick.
Weil der erste Blick getrübt ist.
Abgestumpft von den immer gleichen Bildern;
eingelullt von Wiederholungen der ewig gleichen Stereotype,
über die man sich anfangs noch aufregt,
bis man sie schließlich als etwas Unvermeidliches hinnimmt.

Dieser zweite Blick ist ein Wissen, kein Sehen.
Ein Wissen, das sich aus einer Quelle speist,
die nicht getrübt werden kann: Aus Gottes Wort.
„Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist
und was Gott von dir fordert”
(Micha 6,8).

Gottes Wort ist der Maßstab, 
den wir an die Wirklichkeit anlegen
und an dem wir sie messen.

Gottes Wort ist die Goldwaage,
mit der wir die Worte abwägen, die Parolen,
die Etiketten, die Menschen verpasst werden, und - ja,
auch diese Predigt.

Und Gottes Wort ist der Kompass,
der uns den Weg zeigt,
wenn wir die Orientierung verlieren
oder wenn uns jemand eine Richtung aufzwingen will.

Gottes Wort finden wir in der Bibel.
Und manchmal, wie in der Geschichte von Bileam,
begegnet es uns als Engel.

Zu Engeln werden uns Menschen, die uns wohl wollen.
Und zu Engeln werden wir, wenn wir anderen wohlwollen.
„Wie lieblich sind die Füße der Freudenboten,
die da Frieden verkünden, Gutes predigen, Heil verkündigen”
(Jes 52,7).

Da sind sie, die Engel.
Wir sehen sie nicht, weil wir sie uns anders vorstellen, als sie sind:
als kleine, niedliche Putten oder blonde, dauergewellte Flügelwesen.
Erst der zweite Blick zeigt sie uns.

Der zweite Blick ist nicht nur der kritische Blick,
der infrage stellt, was uns als wahr und wirklich erscheint.
Der zweite Blick ist auch der Blick,
der Schönheit erkennt, und dass jeder Mensch liebenswert ist.
Er blickt durch die Brille der biblischen Verheißungen auf unsere Welt
und sieht, was möglich wäre:
dass Schwerter zu Pflugscharen und Spieße zu Sicheln werden
und jeder Mensch in Frieden 
unter seinem Weinstock und Feigenbaum wohnen könnte,
und niemand würde sie schrecken (Micha 4,3-4).

Diese Brille der biblischen Verheißungen ist keine rosarote Brille,
die alles schön färbt.
Sie verstellt nicht den Blick auf das, was ist und wie es ist.
Sie lässt aber zugleich die Möglichkeiten erkennen,
die in allen Dingen schlummern.
Sie lässt uns den Menschen sehen, um den es in Wahrheit geht,
um den es Gott geht.
Den Menschen, der in allen politischen Gegnern,
in allen uns Fremden und auch in unseren Feinden steckt
und der so ist wie wir:
So verletzlich. So bedürftig. So liebenswert.

Jede und jeder, der so auf die Welt blickt,
kann für andere zu einem Engel werden.
Ein Engel, der anderen als Schutzengel zur Seite steht.
Ein Engel, der andere glücklich macht durch ein Lächeln,
durch Gutes, das sie oder er tut,
durch Schönheit, die sie oder er erleben lässt.
Ein Engel, der anderen den Weg verstellt,
der Nein! sagt und ihnen dadurch die Augen öffnet,
damit sie umkehren können.

Solche Engel könnten wir füreinander sein,
wenn wir uns Gottes Wort zu Herzen nehmen,
es zu unserem Maßstab und zu unserer Richtschnur machen.
Gottes Wort öffnet uns die Augen für den zweiten Blick,
mit dem wir die Welt sehen, wie sie wirklich ist:
So leidvoll. So gefährdet. So ungerecht.
Und zugleich so schön. So voller Möglichkeiten. So voller Hoffnung.