Sonntag, 24. November 2024

was man unter Tränen sät

Predigt am Ewigkeitssonntag, 24.11.2024, über Psalm 126:

Als der Herr Zion wiederherstellte,
waren wir wie Träumende.
Damals erfüllte Lachen unseren Mund,
und Jubel unsere Zunge.
Damals sagte man bei den Völkern:
„Der Herr hat Großes für sie getan.”

Der Herr hatte Großes für uns getan,
und wir waren fröhlich.

Herr, stelle uns doch wieder her,
wie die Bäche in der Wüste wiederkehren.
Die mit Tränen säen, werden mit Jubel ernten.
Weinend geht man, trägt den Beutel mit Saatgut.
Jubelnd kommt man zurück, bringt seine Garben.

Liebe Schwestern und Brüder,

es gibt manche Texte in der Bibel,
die kennt man in- und auswendig:
Die Weihnachtsgeschichte, den 23. Psalm, die 10 Gebote.
Wir haben Martin Luthers Übersetzung im Ohr
und stutzen, wenn wir eine andere Übersetzung hören:
Das klingt nicht „richtig”,
das ist für uns nicht die Weihnachtsgeschichte.

So geht es den meisten wohl auch mit dem 126. Psalm:
Der Wortlaut ist uns vertraut.
Und auch, wer ihn nicht im Ohr hat, stutzt,
wenn der Psalm ganz anders klingt als gewohnt.

Wenn Texte so alte Bekannte sind,
erwartet man keine Überraschungen mehr von ihnen.
Da ist nichts, was man nicht schon wüsste.
Das ist schade; dadurch übersieht man möglicherweise etwas.
Darum möchte ich mit Ihnen heute den 126. Psalm
in einer eigenen Übersetzung betrachten.
Wir wollen sehen, ob wir dadurch den Psalm anders, neu hören.

Als der Herr Zion wiederherstellte,
waren wir wie Träumende.

Ein großer Unterschied zu Luthers Übersetzung.
Dort heißt es: „Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird.”
Aber das Wort, das Luther mit „erlösen” übersetzt,
steht in der Vergangenheit. Die Erlösung steht nicht aus,
sie ist schon passiert, man blickt auf sie zurück.

Es sind auch nicht Gefangene, die erlöst werden.
Vielmehr wird mit dem Wort, das Luther mit „Gefangene” wiedergibt,
bezeichnet, dass sich etwas geändert hatte -
und zwar so, dass es wieder so wurde, wie es einmal war.

In diesem einen Vers sind Vorentscheidungen getroffen
über die Entstehungszeit des Psalms und die Situation, die er voraussetzt:

Folgt man Luthers Übersetzung, ist er im Babylonischen Exil entstanden:
Die in Babylon Gefangenen träumen von ihrer Rückkehr nach Israel.
Damit wäre der Psalm um 587 vor Christus gedichtet worden,
nach der Zerstörung Jerusalems.

In der Vergangenheitsform blickt der Vers nicht voraus, sondern zurück:
Die Gefangenschaft ist vorüber, die Exilierten heimgekehrt.
538 erließ Kyrus ein Edikt, das den Exilierten die Rückkehr gestattete.
520 wurden die Stadtmauer, der Tempel in Jerusalem wieder aufgebaut.
Zion, der Tempelberg, war wiederhergestellt.
Damit wäre der Psalm zwei oder drei Generationen später entstanden;
nicht im babylonischen Exil, sondern in Israel.

Damals erfüllte Lachen unseren Mund,
und Jubel unsere Zunge.

Auch hier wird zurückgeblickt und nicht, wie bei Luther,
auf eine Zukunft gehofft, in der man wieder fröhlich werden wird.
Aber in diesem Fall macht es keinen Unterschied:
Ob man zurückblickt oder vorausschaut,
in der Gegenwart gibt es jedenfalls nichts zu Lachen.

Allerdings ist es ein größerer Schritt,
sich in düsteren Zeiten eine lichte Zukunft vorzustellen,
als sich an bessere Zeiten zu erinnern,
die man selbst schon erlebt hat
und an die man jetzt wehmütig zurückdenkt.

Damals sagte man bei den Völkern:
„Der Herr hat Großes für sie getan.”

Die Rückkehr der Exilierten nach Jerusalem,
der Wiederaufbau des Tempels
wurden durchaus von den Nachbarn registriert -
allerdings nicht wohlwollend und anerkennend, sondern mit Sorge,
dass ihnen da wieder ein Konkurrent ersteht.

Der Psalm sieht die Sache ein wenig anders:
das, was Gott getan hat - oder, in Luthers Übersetzung, tun wird -
ist so groß, dass es nicht unbemerkt bleibt
und sogar denen imponiert, die nicht an den Gott Israels glauben.

Der Herr hatte Großes für uns getan,
und wir waren fröhlich.

Der Psalm blickt nicht nur auf die Zeit zurück,
in der der Tempel wiederhergestellt wurde,
auch auf die Fröhlichkeit und Unbeschwertheit,
die diese Zeit ausmachte - zumindest in der Rückschau.

Die Erinnerung verharmlost und verschönert die Vergangenheit.
Sie blendet aus, was nicht schön war,
das Unangenehme, das Beschwerliche, die Lasten und Leiden.
Rückblickend wirkt alles heller, leichter, schöner,
vor allem, wenn die Gegenwart beschwerlich ist.

Aber natürlich war früher nicht alles besser.
Wenn man ehrlich mit sich selbst ist,
sieht man neben der scheinbar unbeschwerten Kinderzeit,
den fröhlichen Spielen mit den Freundinnen und Freunden
auch die Angst der Kriegs- und die Entbehrungen der Nachkriegsjahre.
Man erinnert sich an Willkür und Strenge der Lehrer,
Unverständnis und Lieblosigkeit mancher Älterer,
die eine:n wünschen ließen,
man möge möglichst schnell erwachsen werden.

Trotzdem gab es natürlich Gutes,
gab es Dinge, für die man dankbar sein kann -
und die gilt es, wahrzunehmen und festzuhalten.
Das Leben ist nie nur gut oder schlecht.
Es ist wichtig, auch in schweren Zeiten das Gute nicht zu übersehen.
Dabei kann die Dankbarkeit helfen,
die das Schöne, das Gute, das man erlebt hat, festhält
und so den Blick schärft für das Gute, das einem
auch und gerade in dunklen Zeiten begegnet.

Herr, stelle uns doch wieder her,
wie die Bäche in der Wüste wiederkehren.

Die Bäche in der Wüste sind ein treffendes Bild
für den Wunsch nach Wiederherstellung der ursprünglichen Verhältnisse.
Wenn es lange nicht geregnet hat, sind die Trockentäler,
Wadis genannt, nicht als Bach- oder Flussläufe zu erkennen.
Wenn aber einmal Regen fällt, füllen sie sich schnell mit Wasser
und es scheint für eine Weile, als sei da immer schon ein Fluss gewesen.

„Stelle uns wieder her” - es geht wohl um mehr
als nur den Wiederaufbau von Stadt und Tempel.
Die Traumata, die die Exilierten erlitten hatten -
die Zerstörung von Stadt und Tempel,
der Verlust von Haus und Hof,
von Besitztümern und liebevollen Erinnerungen,
die Verschleppung in ein fremdes Land -
diese Traumata brauchen Zeit, um zu heilen.

Die mit Tränen säen, werden mit Jubel ernten.

Um Traumata, um Schicksalsschläge, um Leid zu heilen,
muss man sich ihnen stellen und sie bearbeiten.
Und das heißt in erster Linie: Trauern.
Margarete und Alexander Mitscherlich haben 1967
das Buch „Die Unfähigkeit zu trauern” veröffentlicht.
Diese Unfähigkeit zu trauern ist das Dilemma des Umgangs
mit unserer Vergangenheit - bis heute.

Die unmenschlichen Grausamkeiten,
die während des sog. „Dritten Reiches” begangen wurden,
waren so verstörend, so unvorstellbar,
dass man sie nicht wahrnehmen, nicht wahrhaben konnte.
Sie wurden verdrängt.
Verdrängt wurden die eigenen schlimmen Taten,
das eigene Mitläufertum, der eigene Fanatismus.
Am Ende waren es „die Nazis” gewesen -
aber die Deutschen hatten sich nichts zu schulden kommen lassen.

Verdrängte Trauer, verdrängte Traumata aber kehren wieder.
Mitunter erst in der nächsten oder übernächsten Generation.
Was Eltern oder Großeltern nicht wahrhaben,
sich nicht eingestehen, nicht beweinen konnten,
das bricht sich bei Kindern oder Enkeln Bahn und belastet sie.

Darum denken wir heute noch einmal an unsere Gestorbenen:
Um sie zu ehren und auch, um der Trauer um sie Raum zu geben.
Trauer und Tränen, so schmerzhaft und quälend sie sind, heilen
und bereiten den Boden für neue Beziehungen -
auch zu den Menschen, von denen wir Abschied nehmen mussten.

Weinend geht man, trägt den Beutel mit Saatgut.
Jubelnd kommt man zurück, bringt seine Garben.

Das ist jetzt vielleicht ein ungewohnter Gedanke:
Es sind nicht unsere Tränen, die wir aussäen,
auch wenn in manchen Liedern von „Tränensaat” die Rede ist.
Das Saatgut, das wir im Beutel tragen,
sind unsere schlimmen Erfahrungen. Unser Leid.
Die Schmerzen, die wir erlitten und die Schmerzen,
die wir anderen zugefügt haben.

Wenn wir sie unter Tränen aussäen,
verlieren sie ihre Gewalt über uns.
Sie bestimmen nicht mehr, wer, was und wie wir sind.
Sie verwandeln sich und werden,
so unglaublich das erscheinen mag,
zu Früchten unseres Lebens, die wir einfahren.

Der 126. Psalm ermutigt zum Trauern, zum Weinen.
Er verspricht nicht, dass dadurch alles wieder so wird wie früher.
Das ist unser Wunsch, aber der kann sich nicht erfüllen:
Was beweint und betrauert wurde, verwandelt sich.
Es wird anders als früher, vielleicht sogar besser,
auf jeden Fall nicht schlechter.

Trauer ist der erste Schritt zurück ins Leben.
Die Saat dessen, worüber wir traurig sind,
wird aufgehen und uns verwandeln,
und wir werden eine reiche Ernte einfahren. 

Mittwoch, 20. November 2024

enttäuschte Erwartungen

Ansprache am Buss- und Bettag, 20.11.2024, über Lukas 13,6-9:

Jesus erzählte dieses Gleichnis:
Da besaß jemand einen Feigenbaum, der war in seinem Weinberg gepflanzt worden. Und er ging, nach Früchten zu suchen, fand aber keine. Er sagte zum Winzer: Jetzt sind es schon drei Jahre, dass ich an diesem Feigenbaum nach Früchten suche, aber keine finde. Darum hau ihn ab; wozu soll er noch den Boden auslaugen? Der antwortet: Herr, lass ihn noch dies Jahr, bis ich die Erde um ihn gelockert und Mist gestreut habe. Wenn er dann im kommenden Jahr Frucht trägt, ist es gut; andernfalls hau ihn ab.

Liebe Schwestern und Brüder,

der Feigenbaum steht im Mittelpunkt des Gleichnisses, bekommt alle Aufmerksamkeit, obwohl er sie nicht verdient hat: Er tut ja nicht, was man von ihm erwartet und wofür er einst gepflanzt wurde. Für den Besitzer des Weinbergs ist er eine einzige Enttäuschung. Jahr für Jahr hoffte er auf Feigen, aber da waren keine. Seine Geduld mit dem Feigenbaum ist jetzt zu Ende.
Er könnte ihn einfach sich selbst überlassen und es aufgeben, Früchte von ihm zu erwarten. Aber der Feigenbaum verbraucht die Nährstoffe im Boden, die dann den Reben fehlen; darum muss er weg. Ein Feigenbaum, der nicht trägt, hat in seinem Weinberg nichts zu suchen. Er befiehlt dem Winzer, ihn abzuhacken.
Aus wirtschaftlicher Perspektive ist das vernünftig. Es ist vernünftig, keine Arbeit, keine Mittel mehr an etwas zu verschwenden, das keinen Ertrag bringt.
Wenn vom Abhacken die Rede ist, erinnert das aber auch an die Bußpredigt Johannes des Täufers  (Lukas 3,9): „Es ist schon die Axt den Bäumen an die Wurzel gelegt; jeder Baum, der nicht gute Frucht bringt, wird abgehauen und ins Feuer geworfen.”
Jesus erzählt das Gleichnis nicht, um uns etwas über Ackerbau beizubringen, sondern über unseren Glauben. Mit der Bußpredigt Johannes des Täufers im Ohr, denken wir beim Feigenbaum an uns und fragen uns, ob der Weinbergbesitzer wohl mit uns zufrieden wäre.
Wie der Weinbergbesitzer erwarten kann, dass sein Feigenbaum Früchte trägt, und wie es wirtschaftlich vernünftig ist, den Feigenbaum abzuhacken, wenn er es nicht tut, so ist auch Gott enttäuscht, wenn Menschen keine Früchte bringen - und das hat Konsequenzen.
Aber nicht nur Gott ist enttäuscht. Auch wir erleben, dass unsere Erwartungen enttäuscht werden - von der Partnerin, dem Partner, von den Kindern, den Eltern, von Freundinnen oder Freunden, vom Arbeitgeber, den Kolleginnen und Kollegen oder den Angestellten, von der Regierung, den Politikerinnen und Politikern.
Wie der Weinbergbesitzer meint man, im Recht zu sein, zu recht erwarten zu dürfen, was einem zusteht. Wenn die Enttäuschung zu groß wird, wenn man, wie der Weinbergbesitzer,  mehrmals vergeblich gewartet hat - - - holt man nicht gleich die Axt, aber macht doch einen Schnitt: Man geht auf Distanz, wendet sich ab, man beendet die Beziehung und trennt sich.
Diese Erfahrungen, diesen Umgang mit Enttäuschungen finden wir im Gleichnis wieder. Wir meinen, Gott sei so, wie dort der Weinbergbesitzer beschrieben wird: Gott wird ebenso unzufrieden mit uns sein, wenn wir seine Erwartungen an uns enttäuschen, und dann droht uns vielleicht ein ähnliches Schicksal wie dem Feigenbaum.
Doch das Schicksal das Feigenbaums ist noch nicht besiegelt! Da ist ja noch der Winzer, der sich für den Feigenbaum stark macht. Der Winzer setzt sich für den Feigenbaum ein und will ihn auf keinen Fall abhacken. Es ist nicht schwer zu erraten, wer mit dem Winzer gemeint sein könnte: Es ist der, der das Gleichnis erzählt, Jesus.
Die Beschreibung des Weinbergbesitzers entspricht unseren Erfahrungen, entspricht dem, was wir für recht und billig halten. Der Winzer widerspricht ihm, widerspricht unserem Bild von Gott und setzt diesem Bild etwas entgegen. Der Weinbergbesitzer im Gleichnis ist nicht so, wie Gott ist, sondern so, wie wir uns Gott vorstellen. Eine Vorstellung, die nicht im Einklang steht mit Gottes Liebe zu uns, wie Jesus sie verkündet und verkörpert hat.
Wir hätten uns das denken, wir hätten das wissen können. Bei Jeremia heißt es (Jer 29,11): „Ich weiß wohl, was ich für Gedanken über euch habe, spricht Gott: Gedanken des Friedens und nicht des Leides, dass ich euch gebe Zukunft und Hoffnung.”
Unser Gott ist keiner, der das Beil schwingt. Unser Gott will, dass wir leben. Wir leben nicht nur für uns selbst. Wir leben in Verbindung und in Gemeinschaft mit anderen. Unsere Erwartungen an andere zerstören diese Gemeinschaft. Das heißt nicht, dass unsere Erwartungen nicht berechtigt wären. Aber der Widerspruch des Winzers zeigt uns, dass es Geduld braucht. Und ein Entgegenkommen, das der anderen, dem anderen die Möglichkeit gibt, die in ihn, in sie gesetzten Erwartungen zu erfüllen.
Der Winzer bereitet den Boden dafür, er sorgt dafür, dass die Voraussetzungen gegeben sind. Bevor er etwas vom Feigenbaum erwartet, tut er etwas für ihn. So ist unser Verhältnis zu Gott: Gott ist in Jesus Christus in Vorleistung gegangen. Sein Sohn ist der Winzer, der in unserem Leben den Boden bereitet und die Voraussetzungen erfüllt, dass wir Früchte bringen können.
Diese Früchte wachsen und reifen, ohne dass Gott uns Druck machen, uns drohen müsste. Sie wachsen und reifen auch, ohne dass wir uns Druck machen, uns anstrengen, uns fürchten oder uns schlecht  fühlen müssten. Sie wachsen und reifen von selbst, weil Christus sie in uns bewirkt. Wenn wir darauf vertrauen können, werden wir die Früchte sehen.

Sonntag, 10. November 2024

sich sammeln

Fenster „Lichtbogen“, eines von vier von Günter Uecker gestalteten Fenstern im Schweriner Dom. Zu sehen ist das Fenster im nördlichen Querhaus.


Predigt am Drittletzten Sonntag des Kirchenjahres, 10. November 2024, über Micha 4,1-5

Liebe Schwestern und Brüder,

zwei Männer sitzen in einer Gefängniszelle. Einer von ihnen ein Ausländer, noch nicht lange im Land. Er zeichnet ein Fenster an die Wand und fragt dann seinen Zellennachbarn: „Sagt man: Du guckst IN das Fenster, oder sagt man: Du guckst AUS das Fenster?” Der andere entgegnet: „In diesem Fall sagt man: Du guckst AUF das Fenster.”

Fenster lassen Licht herein, und sie lassen unsere Blicke schweifen. Kirchenfenster sind anders: Hinaus blicken kann man nicht; dazu sind sie zu hoch. Sie sind auch nicht wirklich durchsichtig; was draußen ist, erkennt man im besten Fall verschwommen.

Kirchenfenster sind anders: Sie geben selbst etwas zu sehen. Dadurch ziehen sie Blicke auf sich; sie sammeln, fokussieren unseren Blick. Man guckt tatsächlich AUF das Fenster, nicht AUS dem Fenster.

Indem die Fenster der Kirche selbst etwas zu sehen geben, werden wir gewahr, dass es ein Innen gibt und ein Außen. Das, was draußen ist, bleibt außen vor; auf das, was innen ist, kommt es an. Die Fenster trennen das Innen vom Außen, wie eine Membran.

Durch diese Membran wird die Kirche zu einer Zelle. Keine Gefängnis-, sondern sozusagen eine negative Zelle: Das Gute ist drinnen, das Böse bleibt draußen. Hier ist ein Raum, der die Welt, die uns bedrängt, aussperrt und uns die Weite des Himmels eröffnet. Wenn wir ihn betreten, lassen wir die Welt hinter uns. Wir sammeln uns zu einer Gemeinde, konzentrieren uns auf Gottes Wort.

Auch das Wort gibt uns etwas zu sehen: Das berühmte Bild vom Schwert, das zu einer Pflugschar geschmiedet wird. Symbol der kirchlichen Friedensbewegung, das auch hier im Dom zu entdecken ist.

Mindestens ebenso schön ist noch ein anderes Bild, das Micha beschreibt: Dass „jeder unter seinem Weinstock und Feigenbaum wohnen wird, und niemand wird sie schrecken.” Gegenüber von Lied Nr. 58, auf Seite 120 im Gesangbuch, finden Sie eine Zeichnung von Marc Chagall, die das zeigt.

Chagall hat allerdings nicht diese Bibelstelle illustriert; dargestellt ist Noah unterm Regenbogen. Der Regenbogen - auch ein Bild der Bibel. Und das Symbol einer Bewegung für Toleranz und Vielfalt, an dem sich Gleichgesinnte erkennen, wie früher an dem Aufnäher „Schwerter zu Pflugscharen.”

In der Bibel bekräftigt der Regenbogen Gottes Versprechen: „Solange die Erde steht, sollen nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.” Dieser Bogen aus Licht ist auch hier im Dom zu entdecken; inzwischen sind es vier Bögen auf vier Fenstern in den beiden Querhäusern, die Günter Uecker gestaltet hat.

Die Bilder der Bibel, die Bilder Michas sind Zukunftsbilder, ja, mehr noch: Das, was Micha beschreibt, geschieht „in den letzten Tagen”. Mit den letzten Tagen ist das Ende der Zukunft erreicht. Denn dass ALLE Menschen in Frieden leben, dass JEDE und JEDER ohne Angst unterm Weinstock und Feigenbaum wohnen kann, wird niemand jemals erleben. Das kann nur Gott bewirken, in den letzten Tagen dieser Welt.

Francis Fukuyama, ein amerikanischer Politikwissenschaftler, schrieb 1989 einen Aufsatz mit dem Titel: „Das Ende der Geschichte”, der 1992 als Buch erschien.  Darin vertrat er die Auffassung, dass die Zeit der totalitären Systeme, des Faschismus und des Kommunismus, vorbei sei; die liberale Demokratie habe endgültig gesiegt.

Im Freudentaumel der Maueröffnung konnte und wollte man das gerne glauben. Doch die Geschichte widerlegte Francis Fukuyama, und das viel schneller als gedacht.

Heute geschieht, was Viele sich lange nicht vorstellen konnten:
- Mitten in Europa wird ein Angriffskrieg geführt.
- Faschismus, Rassismus, Nationalismus kamen aus dem Abfallhaufen der Geschichte, in dem man sie begraben glaubte, und wurden salonfähig.
- In den USA wurde ein Mann zum Präsidenten gewählt, der all das NICHT ist und verkörpert, was man gemeinhin als Voraussetzung für die Führung eines Landes ansieht, noch dazu eines so mächtigen und einflussreichen.
- Und dann ist da noch der Klimawandel …

Auch das alles könnte man für Vorzeichen ansehen, dass die Geschichte an ihr Ende gekommen ist. Ein Ende mit Schrecken; nicht eines, wie Micha es uns vor Augen malt. Doch dagegen steht Gottes  Verheißung an die Menschheit, der Bogen aus Licht, den er in die Wolken stellt, dass es kein Ende der Geschichte geben wird.

Wir schreiben Geschichte, und wir schreiben Geschichte weiter. Dafür ziehen wir uns für Augenblicke in den Raum der Kirche zurück, um uns zu sammeln. Wie das Licht, das von draußen kommt, durch die Kirchenfenster gefiltert und fokussiert wird, filtern die Worte der Bibel unsere Wirklichkeit und fokussieren unseren Blick auf das, worauf es jetzt ankommt. Dadurch erkennen wir, wo unsere Wirklichkeit Gottes Willen widerspricht.

Die Worte der Bibel geben uns auch Bilder für eine Zukunft, die wir nicht herbeiführen und schaffen können. Die aber trotzdem Ziele sind, für die es sich zu leben, zu arbeiten und zu streiten lohnt.

Die Kirche ist keine Zelle, in die wir uns vor der bösen Welt verstecken. Sie ist ein Raum, der uns unsere Welt mit Gottes Augen sehen lässt. Wir erkennen, wie schlimm - und wie schön sie ist. Wir erkennen, was im Argen liegt - und was wir tun können. Wir erkennen, was unsere Welt ist - und was sie sein könnte.

Die Kirche ist ein Raum, der uns mit Kraft, mit Energie erfüllt, damit wir diese unsere Welt aushalten und gestalten können. Mit Kraft und Energie erfüllt uns das Abendmahl, erfüllt uns, dass wir eine Gemeinde sind - dass wir so viele sind.

Mit Kraft und Energie erfüllen uns die Bilder der Bibel, die Verheißungen Gottes, von denen sie erzählt. Erfüllt und das Licht, das uns einhüllt, wenn wir vor den Kirchenfenstern stehen, und das, was uns diese Fenster zu sehen geben. Erfüllen uns die Musik, die Lieder, in die wir einstimmen, wie das nun folgende Lied Nr. 426: Es wird sein in den letzten Tagen.

Sonntag, 3. November 2024

Untertan und Mitbürger

Predigt am 23. Sonntag nach Trinitatis, 3.11.2024, über Römer 13,1-7:

Jedermann soll sich der Obrigkeit unterordnen, die über ihn gesetzt ist. Denn es gibt keine Obrigkeit, die nicht von Gott eingesetzt ist. Wer sich daher der Obrigkeit widersetzt, widersetzt sich Gottes Gebot; wer so etwas tut, wird sein Urteil empfangen. Die Behörden sind ja nicht dazu da, die Guten  einzuschüchtern, sondern die Schlechten. Willst du die Obrigkeit nicht fürchten müssen? Tue Gutes, und du wirst Lob von ihr empfangen. Zu deinem Besten wird sie von Gott in Dienst genommen. Hüte dich aber, wenn du Schlechtes tust! Sie trägt das Schwert nicht umsonst. Als Gottes Magd straft sie den, der Schlechtes tut. Darum muss man sich ihr unterordnen - nicht allein der Strafe wegen, sondern weil man einsieht, dass es notwendig ist. Deswegen zahlt ihr ja auch Steuern. Die Obrigkeit ist Gottes Magd, auf diesen Dienst ständig bedacht. Erfüllt gegenüber jedem eure Pflicht: Leistet Abgaben, wem Abgaben zustehen, Zoll, wem Zoll zusteht, erweist Respekt, wem Respekt, und Ehre, wem Ehre gebührt.

Liebe Schwestern und Brüder,

ungewöhnliche Töne schlägt Paulus hier an: „Jedermann soll sich der Obrigkeit unterordnen!” Ungewöhnlich ist diese Forderung, weil Paulus sonst nur von der „herrlichen Freiheit der Kinder Gottes” (Röm 8,21) spricht. „Wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit“, schreibt er (2.Kor 3,17), und vor allem: „Zur Freiheit hat euch Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auferlegen!” (Gal 5,1). Wie passen die Freiheit eines Christenmenschen, die Paulus ansagt, und die Unterordnung unter die Obrigkeit zusammen?

Unterordnung kommt bei Paulus sonst nur noch zweimal vor. Einmal schreibt er, dass sich die Gemeinde in Korinth einem Kirchenältesten, dem Stephanas, unterordnen soll - im Grunde bestellt er ihn damit zum Gemeindeleiter (1.Kor 16,16). Und dann gibt es noch diese andere Stelle (1.Kor 14,34), an der mindestens genauso Anstoß genommen wurde und wird wie an unserem Predigttext: „Die Frauen sollen schweigen in der Gemeindeversammlung, denn es ist ihnen nicht gestattet zu reden, sondern sie sollen sich unterordnen, wie auch das Gesetz sagt.” 

Die Stelle im „Gesetz” - gemeint ist die Torah, die 5 Bücher Mose -, an die Paulus denkt, ist die Verfluchung nach dem Sündenfall: Die ersten Menschen, Adam und Eva, aßen, von der Schlange verführt, die verbotene Frucht vom Baum der Erkenntnis. Gott vertreibt sie deswegen aus dem Paradies und verflucht die Schlange, Eva und Adam. Zu Eva sagt er: „»Jedes Mal, wenn du schwanger bist, wirst du große Mühen haben. Unter Schmerzen wirst du Kinder zur Welt bringen. Es wird dich zu deinem Mann hinziehen, aber er wird über dich bestimmen.«”

Mit dieser Bibelstelle wird bis heute von sehr vielen Christen die angeblich gottgewollte Unterordnung der Frau begründet. Weil vom Sündenfall ganz zu Anfang der Bibel erzählt wird, unmittelbar nach der Schöpfungsgeschichte, spricht man dabei von „Schöpfungsordnung”. Damit will man suggerieren, Gott habe den Menschen bereits mit unterschiedlichen Rechten geschaffen; die Unterordnung der Frau unter den Mann gehöre von Anfang an zum Schöpfungsplan Gottes.

Die Geschichte vom Sündenfall sagt etwas anderes: Sie erklärt die Lasten und Beschwernisse des Lebens damit, dass der Mensch aus dem Paradies vertrieben wurde. Für die Frau folgen daraus Belastung durch die Schwangerschaft, Schmerzen bei der Geburt und - in einer Gesellschaft, in der die Männer die Macht haben - Übermacht des Mannes. Doch diese Lasten sind nicht gottgewollt, sind keine Strafen, sondern die Folge aus dem Verlust des Paradieses. Das heißt, man kann sie ändern, ohne damit gegen Gottes Gebot und Willen zu verstoßen.

Auch die Unterordnung unter die Obrigkeit scheint von Gott gewollt zu sein: „Es gibt keine Obrigkeit, die nicht von Gott eingesetzt ist”, schreibt Paulus. „Wer sich daher der Obrigkeit widersetzt, widersetzt sich Gottes Gebot.” 
Die Obrigkeit, das waren zur Zeit des Paulus die römischen Kaiser. Sie herrschten allein und konnten über Tod und Leben jeder und jedes Einzelnen ihrer Untertanen entscheiden. Der Staat, der in unserer Demokratie die Summe aller Bürgerinnen und Bürger ist, bestand nur aus einer Person: Dem Kaiser, später dem Monarchen. Sodass der „Sonnenkönig” Ludwig XIV. sagen konnte: „L'État, c'est moi” - der Staat bin ich.

Königinnen und Könige herrschten nicht nur, weil sie die Herrschaft an sich gerissen hatten, sie mit Gewalt gegen Konkurrenten und gegen ihr Volk verteidigten und an ihre Nachkommen weiter vererbten. Sie herrschten „von Gottes Gnaden” - und beriefen sich dabei auf diese Stelle im Römerbrief, in der Paulus erklärt, die Obrigkeit sei von Gott eingesetzt.

Aber so hatte Paulus es nicht gemeint. Man kann fragen, warum Paulus sich überhaupt veranlasst sah, diese Passage in seinen Römerbrief aufzunehmen. Denn im Grunde ist die Mahnung, sich dem Staat unterzuordnen, überflüssig - man hatte im römischen Reich ohnehin keine andere Wahl.
Diese Mahnung hat auch wenig mit dem Glauben zu tun. Den Christinnen und Christen ging es nicht darum, den Staat zu verändern oder gar den Herrscher zu stürzen. Sie wussten, dass das Reich Gottes nicht von dieser Welt ist. Sie erwarteten die Umkehr der Verhältnisse von Gott.

Man könnte sich vorstellen, dass Paulus, der im Gefängnis saß, so schrieb, weil er wusste, dass sein Brief von den Behörden gelesen werden würde. Er wollte sich damit vielleicht als „staatstragend” präsentieren, die Behörden beruhigen, die die Christen misstrauisch beobachteten und als potenzielle Unruhestifter und Aufrührer ansahen.

Aber wer genau hinsieht erkennt, dass Paulus nicht so staatstragend ist, wie es scheint. Er betont, dass die Obrigkeit von Gott eingesetzt ist. Das bedeutet, dass die Obrigkeit noch jemanden über sich hat - Gott -,dem sie Rechenschaft schuldig ist. Paulus nennt sie „Gottes Magd” - das stutzt einen absolutistischen Herrscher wie Ludwig XIV, der sich mit dem Zentralgestirn, der Sonne, verglich, auf das menschliche Maß zurück.
Die Obrigkeit ist von Gott eingesetzt, um zu dienen. Wenn sie das nicht mehr tut, hat sie ihre Legitimation verloren.

Das hinderte manche Könige nicht daran, „ich dien” als ihr Motto zu wählen - und dann doch nur auf den eigenen Vorteil bedacht zu sein.
Oder Friedrich den Großen, sich als „ersten Diener des Staates” zu bezeichnen - und dann doch blutige Kriege zu führen.
Es verhinderte auch nicht das schreckliche Missverständnis, der Staat sei ein Wert an sich, der über dem Wert eines Menschenlebens stehe, weshalb Millionen „für Volk und Vaterland” in den Tod geschickt wurden.

Zu Paulus’ Zeiten gab es eine Obrigkeit und Untertanen, die dieser Obrigkeit auf Gedeih und Verderb ausgeliefert waren. So war es im Kaiserreich, und so ist es heute noch in Diktaturen. Aber bei uns ist es zum Glück nicht mehr so. Der Staat ist nicht unser Gegner, wie er es für Paulus war, denn wir sind ein Teil von ihm. In unserer Demokratie sind wir nicht Untertanen; wir gestalten unser Zusammenleben mit.

Als Christinnen und Christen kommt uns dabei eine wichtige Rolle zu: Ernst Wolfgang Böckenförde prägte den Satz: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.” Was ein Staat nicht hervorbringen kann, ist Sinn, sind Wertmaßstäbe und Überzeugungen, die das Fundament für das staatliche Handeln bilden.

Der erste Artikel des Grundgesetzes, das in diesem Jahr 75 Jahre alt geworden ist, „Die Würde des Menschen ist unantastbar”, hat seine Wurzeln im jüdischen und christlichen Glauben.
So betont Jürgen Habermas, dass die Ideen von Freiheit, von einem solidarischem Zusammenleben, von Menschenrechten und Demokratie ein Erbe der jüdischen und der christlichen Ethik sind. 

Unser Staat braucht uns Christinnen und Christen als Gewissen und Korrektiv, die ihn an das Gebot der Nächstenliebe, an den Schutz von Fremden und Benachteiligten und an seine Verantwortung für unsere Umwelt erinnern.

Das Kirchenasyl erinnert daran, dass Flüchtlinge nicht als „Fälle” abgefertigt werden dürfen, weil zu jeder Flucht ein persönliches Schicksal gehört.
Die Friedensdekade erinnert daran, im Streben nach einem gerechten Frieden und nach einem Ende der Gewalt, der Hochrüstung und der Waffen nicht nachzulassen - auch und gerade dann, wenn die Chancen dafür heute so schlecht stehen wie lange nicht.
Der Kirchentag schafft bundesweite Aufmerksamkeit für wichtige Fragen und Themen, die sonst nicht gehört werden würden.

Jesus hat uns zugesagt, dass wir Salz der Erde sind und Licht der Welt. Als Christinnen und Christen sind wir die wichtige Würze und manchmal auch das Salz in den Wunden unseres Staates. Wir lassen unser Licht leuchten, damit Menschen gesehen werden, die man sonst übersieht, und ihren Anliegen Gehör schenkt. So gestalten wir unser Gemeinwesen mit zu einer Demokratie, in der jede und jeder in Freiheit leben kann.