Predigt am Drittletzten Sonntag des Kirchenjahres, 10. November 2024, über Micha 4,1-5
Liebe Schwestern und Brüder,
zwei Männer sitzen in einer Gefängniszelle. Einer von ihnen ein Ausländer, noch nicht lange im Land. Er zeichnet ein Fenster an die Wand und fragt dann seinen Zellennachbarn: „Sagt man: Du guckst IN das Fenster, oder sagt man: Du guckst AUS das Fenster?” Der andere entgegnet: „In diesem Fall sagt man: Du guckst AUF das Fenster.”
Fenster lassen Licht herein, und sie lassen unsere Blicke schweifen. Kirchenfenster sind anders: Hinaus blicken kann man nicht; dazu sind sie zu hoch. Sie sind auch nicht wirklich durchsichtig; was draußen ist, erkennt man im besten Fall verschwommen.
Kirchenfenster sind anders: Sie geben selbst etwas zu sehen. Dadurch ziehen sie Blicke auf sich; sie sammeln, fokussieren unseren Blick. Man guckt tatsächlich AUF das Fenster, nicht AUS dem Fenster.
Indem die Fenster der Kirche selbst etwas zu sehen geben, werden wir gewahr, dass es ein Innen gibt und ein Außen. Das, was draußen ist, bleibt außen vor; auf das, was innen ist, kommt es an. Die Fenster trennen das Innen vom Außen, wie eine Membran.
Durch diese Membran wird die Kirche zu einer Zelle. Keine Gefängnis-, sondern sozusagen eine negative Zelle: Das Gute ist drinnen, das Böse bleibt draußen. Hier ist ein Raum, der die Welt, die uns bedrängt, aussperrt und uns die Weite des Himmels eröffnet. Wenn wir ihn betreten, lassen wir die Welt hinter uns. Wir sammeln uns zu einer Gemeinde, konzentrieren uns auf Gottes Wort.
Auch das Wort gibt uns etwas zu sehen: Das berühmte Bild vom Schwert, das zu einer Pflugschar geschmiedet wird. Symbol der kirchlichen Friedensbewegung, das auch hier im Dom zu entdecken ist.
Mindestens ebenso schön ist noch ein anderes Bild, das Micha beschreibt: Dass „jeder unter seinem Weinstock und Feigenbaum wohnen wird, und niemand wird sie schrecken.” Gegenüber von Lied Nr. 58, auf Seite 120 im Gesangbuch, finden Sie eine Zeichnung von Marc Chagall, die das zeigt.
Chagall hat allerdings nicht diese Bibelstelle illustriert; dargestellt ist Noah unterm Regenbogen. Der Regenbogen - auch ein Bild der Bibel. Und das Symbol einer Bewegung für Toleranz und Vielfalt, an dem sich Gleichgesinnte erkennen, wie früher an dem Aufnäher „Schwerter zu Pflugscharen.”
In der Bibel bekräftigt der Regenbogen Gottes Versprechen: „Solange die Erde steht, sollen nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.” Dieser Bogen aus Licht ist auch hier im Dom zu entdecken; inzwischen sind es vier Bögen auf vier Fenstern in den beiden Querhäusern, die Günter Uecker gestaltet hat.
Die Bilder der Bibel, die Bilder Michas sind Zukunftsbilder, ja, mehr noch: Das, was Micha beschreibt, geschieht „in den letzten Tagen”. Mit den letzten Tagen ist das Ende der Zukunft erreicht. Denn dass ALLE Menschen in Frieden leben, dass JEDE und JEDER ohne Angst unterm Weinstock und Feigenbaum wohnen kann, wird niemand jemals erleben. Das kann nur Gott bewirken, in den letzten Tagen dieser Welt.
Francis Fukuyama, ein amerikanischer Politikwissenschaftler, schrieb 1989 einen Aufsatz mit dem Titel: „Das Ende der Geschichte”, der 1992 als Buch erschien. Darin vertrat er die Auffassung, dass die Zeit der totalitären Systeme, des Faschismus und des Kommunismus, vorbei sei; die liberale Demokratie habe endgültig gesiegt.
Im Freudentaumel der Maueröffnung konnte und wollte man das gerne glauben. Doch die Geschichte widerlegte Francis Fukuyama, und das viel schneller als gedacht.
Heute geschieht, was Viele sich lange nicht vorstellen konnten:
- Mitten in Europa wird ein Angriffskrieg geführt.
- Faschismus, Rassismus, Nationalismus kamen aus dem Abfallhaufen der Geschichte, in dem man sie begraben glaubte, und wurden salonfähig.
- In den USA wurde ein Mann zum Präsidenten gewählt, der all das NICHT ist und verkörpert, was man gemeinhin als Voraussetzung für die Führung eines Landes ansieht, noch dazu eines so mächtigen und einflussreichen.
- Und dann ist da noch der Klimawandel …
Auch das alles könnte man für Vorzeichen ansehen, dass die Geschichte an ihr Ende gekommen ist. Ein Ende mit Schrecken; nicht eines, wie Micha es uns vor Augen malt. Doch dagegen steht Gottes Verheißung an die Menschheit, der Bogen aus Licht, den er in die Wolken stellt, dass es kein Ende der Geschichte geben wird.
Wir schreiben Geschichte, und wir schreiben Geschichte weiter. Dafür ziehen wir uns für Augenblicke in den Raum der Kirche zurück, um uns zu sammeln. Wie das Licht, das von draußen kommt, durch die Kirchenfenster gefiltert und fokussiert wird, filtern die Worte der Bibel unsere Wirklichkeit und fokussieren unseren Blick auf das, worauf es jetzt ankommt. Dadurch erkennen wir, wo unsere Wirklichkeit Gottes Willen widerspricht.
Die Worte der Bibel geben uns auch Bilder für eine Zukunft, die wir nicht herbeiführen und schaffen können. Die aber trotzdem Ziele sind, für die es sich zu leben, zu arbeiten und zu streiten lohnt.
Die Kirche ist keine Zelle, in die wir uns vor der bösen Welt verstecken. Sie ist ein Raum, der uns unsere Welt mit Gottes Augen sehen lässt. Wir erkennen, wie schlimm - und wie schön sie ist. Wir erkennen, was im Argen liegt - und was wir tun können. Wir erkennen, was unsere Welt ist - und was sie sein könnte.
Die Kirche ist ein Raum, der uns mit Kraft, mit Energie erfüllt, damit wir diese unsere Welt aushalten und gestalten können. Mit Kraft und Energie erfüllt uns das Abendmahl, erfüllt uns, dass wir eine Gemeinde sind - dass wir so viele sind.
Mit Kraft und Energie erfüllen uns die Bilder der Bibel, die Verheißungen Gottes, von denen sie erzählt. Erfüllt und das Licht, das uns einhüllt, wenn wir vor den Kirchenfenstern stehen, und das, was uns diese Fenster zu sehen geben. Erfüllen uns die Musik, die Lieder, in die wir einstimmen, wie das nun folgende Lied Nr. 426: Es wird sein in den letzten Tagen.