Predigt am 23. Sonntag nach Trinitatis, 3.11.2024, über Römer 13,1-7:
Jedermann soll sich der Obrigkeit unterordnen, die über ihn gesetzt ist. Denn es gibt keine Obrigkeit, die nicht von Gott eingesetzt ist. Wer sich daher der Obrigkeit widersetzt, widersetzt sich Gottes Gebot; wer so etwas tut, wird sein Urteil empfangen. Die Behörden sind ja nicht dazu da, die Guten einzuschüchtern, sondern die Schlechten. Willst du die Obrigkeit nicht fürchten müssen? Tue Gutes, und du wirst Lob von ihr empfangen. Zu deinem Besten wird sie von Gott in Dienst genommen. Hüte dich aber, wenn du Schlechtes tust! Sie trägt das Schwert nicht umsonst. Als Gottes Magd straft sie den, der Schlechtes tut. Darum muss man sich ihr unterordnen - nicht allein der Strafe wegen, sondern weil man einsieht, dass es notwendig ist. Deswegen zahlt ihr ja auch Steuern. Die Obrigkeit ist Gottes Magd, auf diesen Dienst ständig bedacht. Erfüllt gegenüber jedem eure Pflicht: Leistet Abgaben, wem Abgaben zustehen, Zoll, wem Zoll zusteht, erweist Respekt, wem Respekt, und Ehre, wem Ehre gebührt.
Liebe Schwestern und Brüder,
ungewöhnliche Töne schlägt Paulus hier an: „Jedermann soll sich der Obrigkeit unterordnen!” Ungewöhnlich ist diese Forderung, weil Paulus sonst nur von der „herrlichen Freiheit der Kinder Gottes” (Röm 8,21) spricht. „Wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit“, schreibt er (2.Kor 3,17), und vor allem: „Zur Freiheit hat euch Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auferlegen!” (Gal 5,1). Wie passen die Freiheit eines Christenmenschen, die Paulus ansagt, und die Unterordnung unter die Obrigkeit zusammen?
Unterordnung kommt bei Paulus sonst nur noch zweimal vor. Einmal schreibt er, dass sich die Gemeinde in Korinth einem Kirchenältesten, dem Stephanas, unterordnen soll - im Grunde bestellt er ihn damit zum Gemeindeleiter (1.Kor 16,16). Und dann gibt es noch diese andere Stelle (1.Kor 14,34), an der mindestens genauso Anstoß genommen wurde und wird wie an unserem Predigttext: „Die Frauen sollen schweigen in der Gemeindeversammlung, denn es ist ihnen nicht gestattet zu reden, sondern sie sollen sich unterordnen, wie auch das Gesetz sagt.”
Die Stelle im „Gesetz” - gemeint ist die Torah, die 5 Bücher Mose -, an die Paulus denkt, ist die Verfluchung nach dem Sündenfall: Die ersten Menschen, Adam und Eva, aßen, von der Schlange verführt, die verbotene Frucht vom Baum der Erkenntnis. Gott vertreibt sie deswegen aus dem Paradies und verflucht die Schlange, Eva und Adam. Zu Eva sagt er: „»Jedes Mal, wenn du schwanger bist, wirst du große Mühen haben. Unter Schmerzen wirst du Kinder zur Welt bringen. Es wird dich zu deinem Mann hinziehen, aber er wird über dich bestimmen.«”
Mit dieser Bibelstelle wird bis heute von sehr vielen Christen die angeblich gottgewollte Unterordnung der Frau begründet. Weil vom Sündenfall ganz zu Anfang der Bibel erzählt wird, unmittelbar nach der Schöpfungsgeschichte, spricht man dabei von „Schöpfungsordnung”. Damit will man suggerieren, Gott habe den Menschen bereits mit unterschiedlichen Rechten geschaffen; die Unterordnung der Frau unter den Mann gehöre von Anfang an zum Schöpfungsplan Gottes.
Die Geschichte vom Sündenfall sagt etwas anderes: Sie erklärt die Lasten und Beschwernisse des Lebens damit, dass der Mensch aus dem Paradies vertrieben wurde. Für die Frau folgen daraus Belastung durch die Schwangerschaft, Schmerzen bei der Geburt und - in einer Gesellschaft, in der die Männer die Macht haben - Übermacht des Mannes. Doch diese Lasten sind nicht gottgewollt, sind keine Strafen, sondern die Folge aus dem Verlust des Paradieses. Das heißt, man kann sie ändern, ohne damit gegen Gottes Gebot und Willen zu verstoßen.
Auch die Unterordnung unter die Obrigkeit scheint von Gott gewollt zu sein: „Es gibt keine Obrigkeit, die nicht von Gott eingesetzt ist”, schreibt Paulus. „Wer sich daher der Obrigkeit widersetzt, widersetzt sich Gottes Gebot.”
Die Obrigkeit, das waren zur Zeit des Paulus die römischen Kaiser. Sie herrschten allein und konnten über Tod und Leben jeder und jedes Einzelnen ihrer Untertanen entscheiden. Der Staat, der in unserer Demokratie die Summe aller Bürgerinnen und Bürger ist, bestand nur aus einer Person: Dem Kaiser, später dem Monarchen. Sodass der „Sonnenkönig” Ludwig XIV. sagen konnte: „L'État, c'est moi” - der Staat bin ich.
Königinnen und Könige herrschten nicht nur, weil sie die Herrschaft an sich gerissen hatten, sie mit Gewalt gegen Konkurrenten und gegen ihr Volk verteidigten und an ihre Nachkommen weiter vererbten. Sie herrschten „von Gottes Gnaden” - und beriefen sich dabei auf diese Stelle im Römerbrief, in der Paulus erklärt, die Obrigkeit sei von Gott eingesetzt.
Aber so hatte Paulus es nicht gemeint. Man kann fragen, warum Paulus sich überhaupt veranlasst sah, diese Passage in seinen Römerbrief aufzunehmen. Denn im Grunde ist die Mahnung, sich dem Staat unterzuordnen, überflüssig - man hatte im römischen Reich ohnehin keine andere Wahl.
Diese Mahnung hat auch wenig mit dem Glauben zu tun. Den Christinnen und Christen ging es nicht darum, den Staat zu verändern oder gar den Herrscher zu stürzen. Sie wussten, dass das Reich Gottes nicht von dieser Welt ist. Sie erwarteten die Umkehr der Verhältnisse von Gott.
Man könnte sich vorstellen, dass Paulus, der im Gefängnis saß, so schrieb, weil er wusste, dass sein Brief von den Behörden gelesen werden würde. Er wollte sich damit vielleicht als „staatstragend” präsentieren, die Behörden beruhigen, die die Christen misstrauisch beobachteten und als potenzielle Unruhestifter und Aufrührer ansahen.
Aber wer genau hinsieht erkennt, dass Paulus nicht so staatstragend ist, wie es scheint. Er betont, dass die Obrigkeit von Gott eingesetzt ist. Das bedeutet, dass die Obrigkeit noch jemanden über sich hat - Gott -,dem sie Rechenschaft schuldig ist. Paulus nennt sie „Gottes Magd” - das stutzt einen absolutistischen Herrscher wie Ludwig XIV, der sich mit dem Zentralgestirn, der Sonne, verglich, auf das menschliche Maß zurück.
Die Obrigkeit ist von Gott eingesetzt, um zu dienen. Wenn sie das nicht mehr tut, hat sie ihre Legitimation verloren.
Das hinderte manche Könige nicht daran, „ich dien” als ihr Motto zu wählen - und dann doch nur auf den eigenen Vorteil bedacht zu sein.
Oder Friedrich den Großen, sich als „ersten Diener des Staates” zu bezeichnen - und dann doch blutige Kriege zu führen.
Es verhinderte auch nicht das schreckliche Missverständnis, der Staat sei ein Wert an sich, der über dem Wert eines Menschenlebens stehe, weshalb Millionen „für Volk und Vaterland” in den Tod geschickt wurden.
Zu Paulus’ Zeiten gab es eine Obrigkeit und Untertanen, die dieser Obrigkeit auf Gedeih und Verderb ausgeliefert waren. So war es im Kaiserreich, und so ist es heute noch in Diktaturen. Aber bei uns ist es zum Glück nicht mehr so. Der Staat ist nicht unser Gegner, wie er es für Paulus war, denn wir sind ein Teil von ihm. In unserer Demokratie sind wir nicht Untertanen; wir gestalten unser Zusammenleben mit.
Als Christinnen und Christen kommt uns dabei eine wichtige Rolle zu: Ernst Wolfgang Böckenförde prägte den Satz: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.” Was ein Staat nicht hervorbringen kann, ist Sinn, sind Wertmaßstäbe und Überzeugungen, die das Fundament für das staatliche Handeln bilden.
Der erste Artikel des Grundgesetzes, das in diesem Jahr 75 Jahre alt geworden ist, „Die Würde des Menschen ist unantastbar”, hat seine Wurzeln im jüdischen und christlichen Glauben.
So betont Jürgen Habermas, dass die Ideen von Freiheit, von einem solidarischem Zusammenleben, von Menschenrechten und Demokratie ein Erbe der jüdischen und der christlichen Ethik sind.
Unser Staat braucht uns Christinnen und Christen als Gewissen und Korrektiv, die ihn an das Gebot der Nächstenliebe, an den Schutz von Fremden und Benachteiligten und an seine Verantwortung für unsere Umwelt erinnern.
Das Kirchenasyl erinnert daran, dass Flüchtlinge nicht als „Fälle” abgefertigt werden dürfen, weil zu jeder Flucht ein persönliches Schicksal gehört.
Die Friedensdekade erinnert daran, im Streben nach einem gerechten Frieden und nach einem Ende der Gewalt, der Hochrüstung und der Waffen nicht nachzulassen - auch und gerade dann, wenn die Chancen dafür heute so schlecht stehen wie lange nicht.
Der Kirchentag schafft bundesweite Aufmerksamkeit für wichtige Fragen und Themen, die sonst nicht gehört werden würden.
Jesus hat uns zugesagt, dass wir Salz der Erde sind und Licht der Welt. Als Christinnen und Christen sind wir die wichtige Würze und manchmal auch das Salz in den Wunden unseres Staates. Wir lassen unser Licht leuchten, damit Menschen gesehen werden, die man sonst übersieht, und ihren Anliegen Gehör schenkt. So gestalten wir unser Gemeinwesen mit zu einer Demokratie, in der jede und jeder in Freiheit leben kann.