Dienstag, 31. Dezember 2024

Lob der Vergänglichkeit

Andacht zum Altjahrsabend, 31.12.2024, über Jesaja 51,4-6

Liebe Schwestern und Brüder,

„das Jahr geht still zu Ende, nun sei auch still, mein Herz.
        In Gottes treue Hände leg ich nun Freud und Schmerz
        und was dies Jahr umschlossen, was Gott der Herr nur weiß,
        die Tränen, die geflossen, die Wunden brennend heiß”,

dichtet Eleonore von Reuß (EG 63,1).

Das Jahr 2024 geht zu Ende, aber nicht still,
sondern mit lautem Böllern und Geknalle.
Hunderte von Euro lassen da manche in Rauch aufgehen,
für den einen, kurzen Moment des Staunens und der Verzückung,
wenn die Raketen ihren Funkenregen versprühen;
für den kurzen Schreck, den der laute Knall verursacht.

Wie soll man bei dem Krach Rückschau halten,
wie die bittere Wehmut verspüren, das Ziehen im Herzen
bei der Erinnerung an die vielen schönen Augenblicke,
die unwiderruflich dahin sind?
Wie sich der Trauer hingeben über die Menschen,
von denen man in diesem Jahr 2024 Abschied nehmen musste?

Man könnte meinen, die Knallerei sei eben dazu da,
unsere Gedanken zu übertönen, damit wir nicht zurückblicken,
damit Trauer und Schwermut uns nicht überkommen -
wenigstens heute Abend nicht.

Die Verse aus dem Propheten Jesaja,
die für die heutige Andacht vorgegeben sind,
bringen mich auf einen anderen Gedanken:
Die Silvesterknallerei muss keine Betäubung der Trauer,
sie könnte vielmehr ein Fest der Vergänglichkeit sein.
Annehmen der Vergänglichkeit -
das könnte ein Motto für das kommende Jahr werden:

Hör mir zu, mein Volk! Meine Leute, hört auf mich!
        Denn Weisung geht von mir aus,
        und meine Wahrheit mache ich zum Licht der Völker im Nu.
        Nah ist mein Recht, meine Hilfe kommt
        und meine Macht wird die Völker zurechtbringen.
        Auf mich hoffen die Inseln, meine Macht erwarten sie.
        Erhebt eure Augen zum Himmel und blickt hinunter auf die Erde:
        Ja, der Himmel wird wie Rauch zerflattern und die Erde wie Stoff zerfasern
und ihre Bewohner wie Mücken sterben.
Aber meine Hilfe wird in Ewigkeit bestehen
und mein Heil nicht enden.

„Der Himmel wird wie Rauch zerflattern und die Erde wie Stoff zerfasern
und ihre Bewohner wie Mücken sterben.”
Das klingt ziemlich düster. Apokalyptisch.
Solch finstere Gedanken müsste man wegballern,
damit sei einem nicht aufs Gemüt schlagen
und einem an Silvester nicht die Stimmung verderben.
Nüchtern betrachtet sprechen sie nur eine Binsenweisheit aus:
Diese Welt ist vergänglich, und:
Wir werden alle sterben - eines Tages.

Warum ist Vergänglichkeit so schmerzhaft, warum tut scheiden so weh?
Wir haben zu Menschen - auch zu Dingen oder Orten -,
die uns lieb sind, sehr starke Bindungen geknüpft.
Wenn eine solche besondere Bindung gekappt wird,
ist das sehr schmerzhaft - in seiner Schwere und seinen Auswirkungen
vergleichbar einer Verletzung,
bis hin zum Verlust eines Körpergliedes oder einer Fähigkeit.

Das kann man nicht kompensieren, dem kann man nicht ausweichen,
das ist einfach nur schmerzhaft.
Das einzig Gute, das man daran entdecken könnte:
Der schreckliche Schmerz zeigt uns,
wie wichtig dieser Mensch für uns war,
wie viel uns ein Ort oder ein Gegenstand bedeutet hat.

Schlimm an der Vergänglichkeit ist auch, dass es keine Wiederholung gibt.
Der Augenblick ist im Nu vorbei; wer nicht aufpasst, hat ihn verpasst.
Fotos oder Chat-Verlauf auf dem Handy geben die falsche Sicherheit,
als könne man zurückspulen und den Augenblick noch einmal erleben.
Aber sie bringen den Augenblick nicht zurück.
Sie machen nur schmerzhaft bewusst, dass er unwiederbringlich vorüber ist.

Alles vergeht - das ist eine Binsenweisheit.
Und doch ist es eine der Bedingungen unserer Existenz.
Das Kleingedruckte sozusagen, dass wir mit unserer Geburt unterschrieben,
ohne eine Wahl gehabt zu haben, ohne gefragt worden zu sein.
Man könnte darüber traurig oder wütend sein.
Man könnte nach Wegen suchen, der Vergänglichkeit zu entgehen
oder wenigstens den Abschied hinauszuschieben.

Man könnte auch akzeptieren, dass das eine Bedingung ist, die wir nicht ändern können,
die zum Leben gehört und unser Leben ausmacht -
ihm vielleicht sogar erst die Schönheit verleiht, die es hat.
Das würde uns vor der Traurigkeit über das Vergangene bewahren
und uns vielleicht auch helfen, die Trauer über einen Verlust besser zu bewältigen.
Das wiederum könnte Energien freisetzen,
die dann für das Leben und Erleben des Moments zur Verfügung stehen.
Morgen muss ich abreisen?
Aber heute bin ich noch da, kann hier und jetzt etwas erleben,
hier und jetzt Menschen treffen, die ich dort nicht um mich habe.

Das Akzeptieren der Vergänglichkeit setzt Energien frei,
die unsere Gegenwart und unsere Zukunft verändern.
„Meine Hilfe wird in Ewigkeit bestehen
und mein Heil nicht enden”
, sagt Gott.
In aller Veränderung, in aller Vergänglichkeit
ist Gott der Bleibende, der Konstante.
Gott schwebt nicht ungerührt und unberührbar über den Dingen.
Er ist der uns zugewandte Gott, der uns helfen und Gutes für uns will.

Gott ist Mensch geworden, um sich berührbar und verletzlich zu machen.
Nur wer selbst Liebe und Freude, Trauer und Leid empfindet,
kann mit anderen mitfühlen.
Empathie setzt voraus, dass man in Kauf nimmt, etwas zu erleiden.
Wer sich dem Leben und den Mitmenschen öffnet,
wird nicht nur Freude, Liebe und Glück,
sondern auch Trauer, Leid und Schmerz empfinden.
Vor diesen Gefühlen braucht man keine Angst zu haben.
Man muss sie auch nicht mit Geböllere übertönen.

Gott setzt den Bedingungen, die uns das Leben stellt,
seine Bedingungen entgegen: seine Hilfe und sein Heil.
Sie heben die Wirkung der Vergänglichkeit auf.
Dieser Augenblick jetzt ist zwar unwiederbringlich vorüber.
Aber da ist schon der nächste,
der mir Schönheit, Glück oder ein Wunder bescheren kann.
Und selbst, wenn er mir Leid bringt, Trauer oder Schmerz,
bin ich dem nicht allein ausgeliefert.
Gott ist bei mir und macht das Schwere erträglich,
verwandelt das Bittere in Süßes, die Trauer in Dankbarkeit.

Die Funkenblumen, die die Silversterraketen an den Himmel malen,
erinnern uns an die Vergänglichkeit alles Schönen.
Und sie zeigen uns, dass schon im nächsten Moment
wieder etwas ebenso Schönes entstehen kann.

Im kommenden Jahr 2025 erwarten uns mindestens 365 neue Anfänge.
365 Gelegenheiten, Schönheit, Freude, Liebe und Glück zu erleben.
Gott sei Dank, dass er uns diese Gelegenheiten schenkt, jeden Tag aufs Neue!

Donnerstag, 26. Dezember 2024

unser Schatz

Predigt am 2. Weihnachtstag, 26.12.2024, über „Der Sionitin Wiegenlied” von Johann Theile


Liebe Schwestern und Brüder,


als unsere Tochter ein Säugling war, konnte sie nicht einschlafen, 

ohne dass man ihr eine halbe Stunde lang Abendlieder vorsang.

Ich habe mir damals ein großes Repertoire an Abendliedern zugelegt -

man will ja nicht immer dasselbe singen.

Besonders beliebt waren bei mir „Nun ruhen alle Wälder” mit neun

und „Der Mond ist aufgegangen” mit sieben Strophen.


Auch das „Wunderwunderkind” in „Der Sionitin Wiegenlied” kann nicht schlafen.

Über alle Strophen hinweg hört man sein klägliches Weinen: „Ei, ei”.

Und so, wie ich versuchte, meine Tochter mit vielen Strophen zu ermüden -

und dabei meistens selbst fast einschlief -,

so versucht es das Wiegenlied mit der Aufzählung von Blumen und Edelsteinen.

In der vorletzten Strophe greift es gar zum süßen Wein aus Alicante -

wohl nicht, um das Kind, sondern um sich selbst zu betäuben.


Bei der Aufzählung der Blumen kommt einem das Weihnachtslied 

„Ich steh an deiner Krippen hier” von Paul Gerhardt in den Sinn.

In der siebten Strophe heißt es da:

„Nehmt weg das Stroh, nehmt weg das Heu,

ich will mir Blumen holen,

dass meines Heilands Lager sei

auf lieblichen Violen;

mit Rosen, Nelken, Rosmarin

aus schönen Gärten will ich ihn

von oben her bestreuen.”


Johann Theile holt Tulpen, Nelken, Amaranth,

Gänseblümchen und wilde Stiefmütterchen,

um damit den Schlaf des Kleinen zu befördern.

Ich habe noch nie davon gehört, 

dass diese Blumen schlaffördernd sein sollen.

Aber wenigstens bestreut Theile das Kind nicht damit,

wie Paul Gerhardt es tut.


Dieses Blumenstreuen war Paul Gerhardt leider sehr vertraut.

Er musste mehrere seiner Kinder zu Grabe tragen

und ihnen Blumen nachwerfen.

Diese Assoziation stellt sich beim Kind in der Krippe

nicht von ungefähr ein.

„Bald bist du groß, dann fließt dein Blut 

von Golgatha herab.

Ans Kreuz schlägt dich der Menschen Wut,

dann legt man dich ins Grab.

Hab immer deine Augen zu,

denn du bedarfst der süßen Ruh.

Schlafe, schlafe, Himmelssöhnchen, schlafe”,

heißt es in einem Weihnachtslied von Christian Friedrich Daniel Schubart.


Auch bei unserem Lied darf man annehmen,

dass die dringliche Aufforderung zu schlafen

nicht der Ungeduld geschuldet ist,

wie es damals bei mir und meiner Tochter der Fall war.

Sondern dass das Christuskind sich ausruhen soll,

weil es einmal die Sünde der Welt ans Kreuz tragen muss.

Darum heißt er in Theiles Lied „Erdenheiland, Gnadenthron”.


Der Gnadenthron, auf Hebräisch: Kapporet,

war ein Deckel auf der Bundeslade,

die im Allerheiligsten des Jerusalemer Tempels stand.

Diesen Gnadenthron besprengte der Hohepriester

am Großen Versöhnungstag, dem Jom Kippur,

mit Blut, um dadurch die Sünden des Volkes

und seine eigenen Sünden zu sühnen.

Jesus Christus, der Gnadenthron,

trägt die Sünde der Welt und wird dadurch der Heiland,

der Retter und Erlöser der Welt.


Aber noch ist es nicht so weit.

Noch ist er ein Kind, das nichts von seinem Schicksal weiß.

Ein Kind, das nicht einschlafen kann -

nicht, weil es schon jetzt von unserer Sündenlast erdrückt würde.

Sondern weil es Blähungen hat,

weil das Stroh in der Krippe piekt

oder weil es lieber im warmen Schoß seiner Mutter

als in der kalten, harten Krippe liegen möchte.


Nun ist es aber nicht seine Mutter, die dieses Wiegenlied singt,

auch wenn es „Der Sionitin Wiegenlied” heißt.

Die Sionitin oder Zionitin - wenn Sie sich fragen, was das bedeuten soll -

ist nach dem Grimm’schen Wörterbuch eine gläubige Christin.

In einem Gedicht Klopstocks wird Maria Magdalena eine „Sionitin” genannt.

Der Zion, der Tempelberg in Jerusalem, 

stand Pate für diese Bezeichnung.

(Nur der Vollständigkeit halber sei erwähnt,

dass beide Marias noch keine Christinnen waren,

sondern Jüdinnen - weshalb der Zion hier besonders gut passt).


Es ist nicht seine Mutter Maria, die dieses Wiegenlied singt.

Wir singen es - beziehungsweise die Mitglieder und Ehemaligen

der Jugendkantorei haben es gesungen.

Aber auch wir, indem wir den Text des Liedes mitlesen.

Wenn wir es singen, holen wir all die Blumen herbei,

die im Lied aufgezählt werden,

vergleichen das Kind mit wohlriechenden Blüten

und bunten Edelsteinen, weil es genau das ist:

Der Schatz, den wir gefunden haben,

und die Perle, für die wir alles hergeben, was wir besitzen.


Kein Ssschatz wie der Ring, den Gollum fand.

Ein Schatz, der von ihm Besitz ergriff,

ihn verzehrte und ihn schließlich verriet.

Sondern der Schatz, nach dem wir alle 

bewusst oder unbewusst auf der Suche sind:

Der Sinn und die Erfüllung unseres Lebens.

Wer diesen Schatz für sich gefunden hat,

mag wohl ins Schwärmen geraten, in einen Überschwang,

wie ihn das Wiegenlied zum Ausdruck bringt.


Die Edelsteine im Wiegenlied zeigen an,

was im Gleichnis Jesu der Schatz im Acker und die Perle sind.

Die duftenden Blumen erinnern an den besonderen Duft,

den ein Neugeborenes an sich hat.

In der griechischen Mythologie findet sich die Anschauung,

„dass unter allen Tieren der Panther

einen besonderen Wohlgeruch ausströmt,

mit dem er seine Beute anlockt, die er dann schlägt.

In der Symbolik des Mittelalters

hat man in der gefährlichen Attraktivität des Panthers

den Christus entdeckt, unheimlich im Reiz seines Geruchs,

gewaltig in der Macht seiner Auferstehung”.


Den Schatz, der das Kind in der Krippe ist,

findet man vielleicht so, „dass man eine Witterung aufnimmt.

Irgendwann schlägt der Panther dann zu.

Und man verfällt jener Macht, die das Leben ist”

(Manfred Josuttis, Der Geruch der Auferstehung, in: Ders., Offene Geheimnisse. Predigten, Gütersloh, 1999, 159, ISBN 3-579-03086-8).


„Der Sionitin Wiegenlied” besingt das Christuskind,

dessen Weg ans Kreuz schon besiegelt ist,

während es so ganz unschuldig, frisch und neu

in der Krippe liegt.

Das dadurch unser Retter, unser Heiland wird.

Und das zugleich mit seinem besonderen Duft des Neugeborenen

den Geruch der Auferstehung verströmt,

der uns in seinen Bann zieht,

sodass alles andere nebensächlich wird,

wenn wir nur diese Perle, diesen Edelstein, diesen Schatz haben.

Mittwoch, 25. Dezember 2024

die Partitur unseres Lebens

Predigt am 1.Weihnachtstag, 25.12.2024, über Johannes 1,1-16

Liebe Schwestern und Brüder,

der Prolog des Johannesevangeliums ist der Anfang vor dem Anfang, die Vorrede, bevor der Vorhang des Stückes sich hebt.

Bevor wir von dem hören, was das Evangelium erzählt, vom Leben Jesu, von seinen Lehren, seinem Leiden,  seinem Tod am Kreuz und seiner Auferstehung, werden wir zurück geführt an den Anbeginn der Welt. Von ihm heißt es im ersten Buch der Bibel: „Finsternis lag auf der Tiefe.” In diese Finsternis spricht Gott die ersten Worte: „Es werde Licht.” Gottes Wort erschafft das Licht. Dieses Wort nimmt bei Johannes Gestalt an, wird zu dem einen Wort Gottes, Christus, und dieses Wort ist Gott selbst: „Gott war das Wort.”

Christus ist das Wort Gottes, „Gott von Gott, Licht vom Licht, wahrer Gott vom wahren Gott”. Durch sein Wort, durch Christus, tritt Gott aus sich heraus. Dadurch entsteht eine Welt - unsere Welt. Mit der ersten Inkarnation, der Erschaffung durch das Wort, begibt sich das Wort Gottes in die Welt, wird Licht und Leben der Menschen. Die Geburt des göttlichen Kindes im Stall von Bethlehem  ist die zweite Inkarnation: Das Wort wird Mensch und wohnt unter uns.

Der Johannes-Prolog führt uns zurück an den ersten, den Ur-Anfang. Er bildet zugleich die Einleitung in das Evangelium, den zweiten Anfang, den das Wort Gottes macht. Er führt ein in das, was nun erzählt werden wird. Führt auch uns ein in das Evangelium, im Wortsinne: Er verwickelt uns in das Geschehen. Das Wort wird Fleisch - in der Krippe in einem Stall von Bethlehem,  und in uns. Das Evangelium schlägt Wurzel in uns. Aus einer Wurzel zart treibt es Blüten, macht uns zu einem Teil der Geschichte Gottes mit seinem Volk; so wird sie zu unserer Geschichte.

In die Geschichte Gottes mit seinem Volk verwickelt werden, das ist kein abstrakter Vorgang, der sich in unserer Einbildungskraft abspielt. Das berührt den ganzen Menschen, ergreift, und schafft ein Ergriffensein, wird zu einer Passion, wie es mit uns beim Hören einer Passion geschieht.

Darum hilft vielleicht der Vergleich mit der Johannespassion, sich vorzustellen, was mit diesem verwickelt Werden gemeint ist: Wer die Johannespassion von Bach singt oder hört, erlebt hautnah die Fleischwerdung des Wortes in sich: Erlebt, wie das Wort des Evangeliums uns mit Hilfe der Musik berührt und ergreift, vielleicht sogar zu Tränen rührt.

Darum könnte man den Johannesprolog auch eine Ouvertüre nennen. Eine Ouvertüre ist gewissermaßen die Vorwegnahme des Stückes, das gleich aufgeführt werden wird. In ihr klingen die musikalischen Themen des Stückes an; sie stellt etwas aus dem Stück vor, ohne die Handlung zu verraten. Allenfalls ahnt man, dass es dramatisch und düster,  heiter und fröhlich oder traurig und melancholisch werden wird. Erst wenn man das ganze Stück erlebt hat, erkennt man rückblickend die Themen, die bereits in der Ouvertüre angeklungen waren.

Der Johannesprolog nennt Themen, die das Evangelium ausführen wird: „Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns” - „das Licht scheint in die Finsternis, aber die Finsternis hat’s nicht ergriffen” -  „er kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf” - „aus seiner Fülle haben wir alle genommen Gnade um Gnade.” Diese Themen lassen sich leicht mit dem Leben Jesu verbinden, von dem das Evangelium erzählen wird.

Sein Leben liegt wie ausgebreitet vor uns. Es läuft unaufhaltsam auf die Passion zu, bis zum Tod am Kreuz. Die Johannespassion endet mit der Grablegung, wie auch wir am Ende eines Lebens am Grab stehen und dort das In paradisum singen oder beten: „Ins Paradies mögen Engel dich geleiten …” In der Johannespassion steht am Schluss der Choral: „Ach Herr, lass dein lieb Engelein  am letzten End die Seele mein  in Abrahams Schoß tragen.” Danach: Stille. Der Rest ist Schweigen.

In diese Todesstille hinein spricht Gott sein schöpferisches Wort. Gott fügt an das letzte Kapitel dieses Lebens noch ein Kapitel an: Die Auferstehung. Die Auferstehung bildet das gloriose Finale - und zugleich einen neuen, einen dritten Anfang. Die Auferstehung ist das Amen auf das Leben und die Predigt Jesu - ein Amen, das Gott spricht und das den neuen Anfang in Kraft setzt: Amen: So soll, so wird es sein. Nicht in den Passionen, aber z.B. in der h-Moll-Messe oder im Messias, bildet das Amen den jubelnden Abschluss der Komposition.

Das Amen der Auferstehung Jesu besiegelt sein Leben und seine Worte. Sie ist zugleich die Bankrotterklärung des Todes. Er hat nicht mehr das letzte Wort, die Finsternis kann das Licht nicht ergreifen. Das Licht wird zum Leben der Menschen, das schließlich alle Finsternisse hinter sich lässt.

Anders als das Leben Jesu, das wie eine Partitur vor uns ausgebreitet liegt   und in dem wir die einzelnen musikalischen Themen verfolgen können bis zum grandiosen Finale der Auferstehung, ist unser Leben nicht von Anfang bis Ende durchkomponiert. Wir können seine Partitur nur sehen,  wenn wir auf unser Leben zurückblicken; wie es weiter geht, wissen wir nicht.

Wenn wir uns die Partitur unseres Lebens anschauen, staunen wir, wie gewaltig sie ist, wie kompliziert, und doch kunstvoll. Wir erkennen, wie Disharmonien entstehen und sich auflösen, wie eine Melodie sich weiter entwickelt,  wie Themen sich durchhalten oder von anderen abgelöst werden. Vor allem ist erstaunlich, wie viele Stimmen  in der Partitur unseres Lebens erklingen. Es sind Worte, die in unserem Leben Fleisch geworden sind, in uns Gestalt angenommen haben.

Diese Worte sind nicht nur unsere eigenen. Es sind auch die ausgesprochenen oder unausgesprochenen  Erwartungen und Wünsche unserer Eltern, unserer Lehrerinnen und Lehrer; die Schuld unserer Vorfahren, Leid und Lasten, die sie trugen, weitergegeben meist in Form von Geheimnissen, über die nicht gesprochen werden konnte oder durfte. Lob ist dabei, Anerkennung, Verständnis, Liebe; Gottes Worte waren und sind dabei, die uns auf den verschiedenen Stationen unseres Lebens mitgegeben wurden oder die wir uns selbst als Überschrift für einen Lebensabschnitt auswählten.

Beim Betrachten der Partitur unseres Lebens stellen wir fest:  Komponistinnen und Komponisten unseres Lebens sind nicht wir allein. Viele haben an der Partitur unseres Lebens mitgeschrieben. Manchmal haben wir sogar das Gefühl,  nicht wir führten das Stück unseres Lebens auf, sondern tanzten nach der Pfeife einer oder eines anderen. Dieses Gefühl rufen besonders die unausgesprochenen Worte hervor, die in unserem Leben Gestalt gewonnen haben: Die verborgenen Erwartungen und Wünsche, die geheimen Aufträge, die an uns weitergegeben wurden, das Leid oder die Schuld unserer Vorfahren.

Auch das Fleisch gewordene Wort Gottes, das in unserem Leben Gestalt gewonnen hat, stammt nicht von uns, sondern führt in unserem Leben ein Eigenleben. Aber anders als die vielen fremden Worte in unserem Leben bestimmt dieses Wort nicht über uns,  zwingt unserem Leben keine fremden Tonarten oder Melodien auf. Vielmehr befreit es uns dazu, die Verfügungsmacht über die Partitur unseres Lebens zurückzuerlangen. Wir können die uns von fremder Hand eingeschriebenen Themen und Melodien zwar nicht ausradieren. Aber wir sind nicht mehr gezwungen, sie fortzuführen.

Wie das Wort das macht? Durch Gnade und Wahrheit. Christus, das Wort Gottes, lässt uns die Wahrheit erkennen. Die Wahrheit über uns: Dass er uns so annimmt, wie wir sind. Wir müssen keinen Normen genügen. Keinen Schönheits-, Größen- oder Verhaltensnormen, keinen Leistungs-, Lebens- oder Liebesnormen. Wir müssen keine Erwartungen erfüllen und keine Aufträge, seien sie ausgesprochen oder unausgesprochen. Wir dürfen sein, wie wir sind. So, wie wir sind, nimmt Christus uns an. So liebt er uns.

Im Licht dieser Wahrheit erkennen wir, welche Erwartungen an uns herangetragen, mit welchen Maßstäben wir gemessen werden. Wir erkennen, dass wir diese Erwartungen nicht erfüllen, diesen Maßstäben nicht genügen müssen, weil wir in den Augen Christi so gut sind, wie wir sind. Dadurch sind wir frei, zu entscheiden, ob wir das weiterhin wollen oder nicht.

Christus, das Wort Gottes, ist barmherzig mit uns. Barmherzig da, wo wir es selbst nicht sein können: wo wir uns selbst nicht annehmen, uns selbst nicht vergeben können. Wo wir über Fehler nicht hinwegkommen, Versäumnissen nachtrauern, falsche Entscheidungen bereuen; wo wir uns schuldig fühlen, ungenügend, unvollkommen. Im Licht seiner Gnade können wir uns selbst gnädig ansehen, können wir uns selbst vergeben. Dadurch können wir uns entscheiden, ob wir die alte Leier über uns weiterspielen, oder ein neues Lied anstimmen wollen.

Gottes Wort eröffnet uns die Freiheit, die Partitur unseres Lebens selbst zu gestalten. Weil es mehr und größer ist als die Worte unserer Vorfahren, Eltern und Mitmenschen. Weil dieses Wort in seiner ganzen Fülle und Herrlichkeit, seiner Gnade und Wahrheit in unserem Leben Fleisch geworden ist.

Gottes Wort bringt das Musikstück, das unser Leben ist, zu einem guten Ende. Das Finale, das nach dem Ende unseres Lebens kommt, steht schon fest; Gott hat es bereits komponiert: Es wird ein prächtiges, glanzvolles und vielstimmiges Amen sein. Gottes Amen zum Leben eines jeden und einer jeden von uns.