Predigt am 2. Weihnachtstag, 26.12.2024, über „Der Sionitin Wiegenlied” von Johann Theile
Liebe Schwestern und Brüder,
als unsere Tochter ein Säugling war, konnte sie nicht einschlafen,
ohne dass man ihr eine halbe Stunde lang Abendlieder vorsang.
Ich habe mir damals ein großes Repertoire an Abendliedern zugelegt -
man will ja nicht immer dasselbe singen.
Besonders beliebt waren bei mir „Nun ruhen alle Wälder” mit neun
und „Der Mond ist aufgegangen” mit sieben Strophen.
Auch das „Wunderwunderkind” in „Der Sionitin Wiegenlied” kann nicht schlafen.
Über alle Strophen hinweg hört man sein klägliches Weinen: „Ei, ei”.
Und so, wie ich versuchte, meine Tochter mit vielen Strophen zu ermüden -
und dabei meistens selbst fast einschlief -,
so versucht es das Wiegenlied mit der Aufzählung von Blumen und Edelsteinen.
In der vorletzten Strophe greift es gar zum süßen Wein aus Alicante -
wohl nicht, um das Kind, sondern um sich selbst zu betäuben.
Bei der Aufzählung der Blumen kommt einem das Weihnachtslied
„Ich steh an deiner Krippen hier” von Paul Gerhardt in den Sinn.
In der siebten Strophe heißt es da:
„Nehmt weg das Stroh, nehmt weg das Heu,
ich will mir Blumen holen,
dass meines Heilands Lager sei
auf lieblichen Violen;
mit Rosen, Nelken, Rosmarin
aus schönen Gärten will ich ihn
von oben her bestreuen.”
Johann Theile holt Tulpen, Nelken, Amaranth,
Gänseblümchen und wilde Stiefmütterchen,
um damit den Schlaf des Kleinen zu befördern.
Ich habe noch nie davon gehört,
dass diese Blumen schlaffördernd sein sollen.
Aber wenigstens bestreut Theile das Kind nicht damit,
wie Paul Gerhardt es tut.
Dieses Blumenstreuen war Paul Gerhardt leider sehr vertraut.
Er musste mehrere seiner Kinder zu Grabe tragen
und ihnen Blumen nachwerfen.
Diese Assoziation stellt sich beim Kind in der Krippe
nicht von ungefähr ein.
„Bald bist du groß, dann fließt dein Blut
von Golgatha herab.
Ans Kreuz schlägt dich der Menschen Wut,
dann legt man dich ins Grab.
Hab immer deine Augen zu,
denn du bedarfst der süßen Ruh.
Schlafe, schlafe, Himmelssöhnchen, schlafe”,
heißt es in einem Weihnachtslied von Christian Friedrich Daniel Schubart.
Auch bei unserem Lied darf man annehmen,
dass die dringliche Aufforderung zu schlafen
nicht der Ungeduld geschuldet ist,
wie es damals bei mir und meiner Tochter der Fall war.
Sondern dass das Christuskind sich ausruhen soll,
weil es einmal die Sünde der Welt ans Kreuz tragen muss.
Darum heißt er in Theiles Lied „Erdenheiland, Gnadenthron”.
Der Gnadenthron, auf Hebräisch: Kapporet,
war ein Deckel auf der Bundeslade,
die im Allerheiligsten des Jerusalemer Tempels stand.
Diesen Gnadenthron besprengte der Hohepriester
am Großen Versöhnungstag, dem Jom Kippur,
mit Blut, um dadurch die Sünden des Volkes
und seine eigenen Sünden zu sühnen.
Jesus Christus, der Gnadenthron,
trägt die Sünde der Welt und wird dadurch der Heiland,
der Retter und Erlöser der Welt.
Aber noch ist es nicht so weit.
Noch ist er ein Kind, das nichts von seinem Schicksal weiß.
Ein Kind, das nicht einschlafen kann -
nicht, weil es schon jetzt von unserer Sündenlast erdrückt würde.
Sondern weil es Blähungen hat,
weil das Stroh in der Krippe piekt
oder weil es lieber im warmen Schoß seiner Mutter
als in der kalten, harten Krippe liegen möchte.
Nun ist es aber nicht seine Mutter, die dieses Wiegenlied singt,
auch wenn es „Der Sionitin Wiegenlied” heißt.
Die Sionitin oder Zionitin - wenn Sie sich fragen, was das bedeuten soll -
ist nach dem Grimm’schen Wörterbuch eine gläubige Christin.
In einem Gedicht Klopstocks wird Maria Magdalena eine „Sionitin” genannt.
Der Zion, der Tempelberg in Jerusalem,
stand Pate für diese Bezeichnung.
(Nur der Vollständigkeit halber sei erwähnt,
dass beide Marias noch keine Christinnen waren,
sondern Jüdinnen - weshalb der Zion hier besonders gut passt).
Es ist nicht seine Mutter Maria, die dieses Wiegenlied singt.
Wir singen es - beziehungsweise die Mitglieder und Ehemaligen
der Jugendkantorei haben es gesungen.
Aber auch wir, indem wir den Text des Liedes mitlesen.
Wenn wir es singen, holen wir all die Blumen herbei,
die im Lied aufgezählt werden,
vergleichen das Kind mit wohlriechenden Blüten
und bunten Edelsteinen, weil es genau das ist:
Der Schatz, den wir gefunden haben,
und die Perle, für die wir alles hergeben, was wir besitzen.
Kein Ssschatz wie der Ring, den Gollum fand.
Ein Schatz, der von ihm Besitz ergriff,
ihn verzehrte und ihn schließlich verriet.
Sondern der Schatz, nach dem wir alle
bewusst oder unbewusst auf der Suche sind:
Der Sinn und die Erfüllung unseres Lebens.
Wer diesen Schatz für sich gefunden hat,
mag wohl ins Schwärmen geraten, in einen Überschwang,
wie ihn das Wiegenlied zum Ausdruck bringt.
Die Edelsteine im Wiegenlied zeigen an,
was im Gleichnis Jesu der Schatz im Acker und die Perle sind.
Die duftenden Blumen erinnern an den besonderen Duft,
den ein Neugeborenes an sich hat.
In der griechischen Mythologie findet sich die Anschauung,
„dass unter allen Tieren der Panther
einen besonderen Wohlgeruch ausströmt,
mit dem er seine Beute anlockt, die er dann schlägt.
In der Symbolik des Mittelalters
hat man in der gefährlichen Attraktivität des Panthers
den Christus entdeckt, unheimlich im Reiz seines Geruchs,
gewaltig in der Macht seiner Auferstehung”.
Den Schatz, der das Kind in der Krippe ist,
findet man vielleicht so, „dass man eine Witterung aufnimmt.
Irgendwann schlägt der Panther dann zu.
Und man verfällt jener Macht, die das Leben ist”
(Manfred Josuttis, Der Geruch der Auferstehung, in: Ders., Offene Geheimnisse. Predigten, Gütersloh, 1999, 159, ISBN 3-579-03086-8).
„Der Sionitin Wiegenlied” besingt das Christuskind,
dessen Weg ans Kreuz schon besiegelt ist,
während es so ganz unschuldig, frisch und neu
in der Krippe liegt.
Das dadurch unser Retter, unser Heiland wird.
Und das zugleich mit seinem besonderen Duft des Neugeborenen
den Geruch der Auferstehung verströmt,
der uns in seinen Bann zieht,
sodass alles andere nebensächlich wird,
wenn wir nur diese Perle, diesen Edelstein, diesen Schatz haben.