Predigt am 1.Weihnachtstag, 25.12.2024, über Johannes 1,1-16
Liebe Schwestern und Brüder,
der Prolog des Johannesevangeliums ist der Anfang vor dem Anfang, die Vorrede, bevor der Vorhang des Stückes sich hebt.
Bevor wir von dem hören, was das Evangelium erzählt, vom Leben Jesu, von seinen Lehren, seinem Leiden, seinem Tod am Kreuz und seiner Auferstehung, werden wir zurück geführt an den Anbeginn der Welt. Von ihm heißt es im ersten Buch der Bibel: „Finsternis lag auf der Tiefe.” In diese Finsternis spricht Gott die ersten Worte: „Es werde Licht.” Gottes Wort erschafft das Licht. Dieses Wort nimmt bei Johannes Gestalt an, wird zu dem einen Wort Gottes, Christus, und dieses Wort ist Gott selbst: „Gott war das Wort.”
Christus ist das Wort Gottes, „Gott von Gott, Licht vom Licht, wahrer Gott vom wahren Gott”. Durch sein Wort, durch Christus, tritt Gott aus sich heraus. Dadurch entsteht eine Welt - unsere Welt. Mit der ersten Inkarnation, der Erschaffung durch das Wort, begibt sich das Wort Gottes in die Welt, wird Licht und Leben der Menschen. Die Geburt des göttlichen Kindes im Stall von Bethlehem ist die zweite Inkarnation: Das Wort wird Mensch und wohnt unter uns.
Der Johannes-Prolog führt uns zurück an den ersten, den Ur-Anfang. Er bildet zugleich die Einleitung in das Evangelium, den zweiten Anfang, den das Wort Gottes macht. Er führt ein in das, was nun erzählt werden wird. Führt auch uns ein in das Evangelium, im Wortsinne: Er verwickelt uns in das Geschehen. Das Wort wird Fleisch - in der Krippe in einem Stall von Bethlehem, und in uns. Das Evangelium schlägt Wurzel in uns. Aus einer Wurzel zart treibt es Blüten, macht uns zu einem Teil der Geschichte Gottes mit seinem Volk; so wird sie zu unserer Geschichte.
In die Geschichte Gottes mit seinem Volk verwickelt werden, das ist kein abstrakter Vorgang, der sich in unserer Einbildungskraft abspielt. Das berührt den ganzen Menschen, ergreift, und schafft ein Ergriffensein, wird zu einer Passion, wie es mit uns beim Hören einer Passion geschieht.
Darum hilft vielleicht der Vergleich mit der Johannespassion, sich vorzustellen, was mit diesem verwickelt Werden gemeint ist: Wer die Johannespassion von Bach singt oder hört, erlebt hautnah die Fleischwerdung des Wortes in sich: Erlebt, wie das Wort des Evangeliums uns mit Hilfe der Musik berührt und ergreift, vielleicht sogar zu Tränen rührt.
Darum könnte man den Johannesprolog auch eine Ouvertüre nennen. Eine Ouvertüre ist gewissermaßen die Vorwegnahme des Stückes, das gleich aufgeführt werden wird. In ihr klingen die musikalischen Themen des Stückes an; sie stellt etwas aus dem Stück vor, ohne die Handlung zu verraten. Allenfalls ahnt man, dass es dramatisch und düster, heiter und fröhlich oder traurig und melancholisch werden wird. Erst wenn man das ganze Stück erlebt hat, erkennt man rückblickend die Themen, die bereits in der Ouvertüre angeklungen waren.
Der Johannesprolog nennt Themen, die das Evangelium ausführen wird: „Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns” - „das Licht scheint in die Finsternis, aber die Finsternis hat’s nicht ergriffen” - „er kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf” - „aus seiner Fülle haben wir alle genommen Gnade um Gnade.” Diese Themen lassen sich leicht mit dem Leben Jesu verbinden, von dem das Evangelium erzählen wird.
Sein Leben liegt wie ausgebreitet vor uns. Es läuft unaufhaltsam auf die Passion zu, bis zum Tod am Kreuz. Die Johannespassion endet mit der Grablegung, wie auch wir am Ende eines Lebens am Grab stehen und dort das „In paradisum” singen oder beten: „Ins Paradies mögen Engel dich geleiten …” In der Johannespassion steht am Schluss der Choral: „Ach Herr, lass dein lieb Engelein am letzten End die Seele mein in Abrahams Schoß tragen.” Danach: Stille. Der Rest ist Schweigen.
In diese Todesstille hinein spricht Gott sein schöpferisches Wort. Gott fügt an das letzte Kapitel dieses Lebens noch ein Kapitel an: Die Auferstehung. Die Auferstehung bildet das gloriose Finale - und zugleich einen neuen, einen dritten Anfang. Die Auferstehung ist das Amen auf das Leben und die Predigt Jesu - ein Amen, das Gott spricht und das den neuen Anfang in Kraft setzt: Amen: So soll, so wird es sein. Nicht in den Passionen, aber z.B. in der h-Moll-Messe oder im Messias, bildet das Amen den jubelnden Abschluss der Komposition.
Das Amen der Auferstehung Jesu besiegelt sein Leben und seine Worte. Sie ist zugleich die Bankrotterklärung des Todes. Er hat nicht mehr das letzte Wort, die Finsternis kann das Licht nicht ergreifen. Das Licht wird zum Leben der Menschen, das schließlich alle Finsternisse hinter sich lässt.
Anders als das Leben Jesu, das wie eine Partitur vor uns ausgebreitet liegt und in dem wir die einzelnen musikalischen Themen verfolgen können bis zum grandiosen Finale der Auferstehung, ist unser Leben nicht von Anfang bis Ende durchkomponiert. Wir können seine Partitur nur sehen, wenn wir auf unser Leben zurückblicken; wie es weiter geht, wissen wir nicht.
Wenn wir uns die Partitur unseres Lebens anschauen, staunen wir, wie gewaltig sie ist, wie kompliziert, und doch kunstvoll. Wir erkennen, wie Disharmonien entstehen und sich auflösen, wie eine Melodie sich weiter entwickelt, wie Themen sich durchhalten oder von anderen abgelöst werden. Vor allem ist erstaunlich, wie viele Stimmen in der Partitur unseres Lebens erklingen. Es sind Worte, die in unserem Leben Fleisch geworden sind, in uns Gestalt angenommen haben.
Diese Worte sind nicht nur unsere eigenen. Es sind auch die ausgesprochenen oder unausgesprochenen Erwartungen und Wünsche unserer Eltern, unserer Lehrerinnen und Lehrer; die Schuld unserer Vorfahren, Leid und Lasten, die sie trugen, weitergegeben meist in Form von Geheimnissen, über die nicht gesprochen werden konnte oder durfte. Lob ist dabei, Anerkennung, Verständnis, Liebe; Gottes Worte waren und sind dabei, die uns auf den verschiedenen Stationen unseres Lebens mitgegeben wurden oder die wir uns selbst als Überschrift für einen Lebensabschnitt auswählten.
Beim Betrachten der Partitur unseres Lebens stellen wir fest: Komponistinnen und Komponisten unseres Lebens sind nicht wir allein. Viele haben an der Partitur unseres Lebens mitgeschrieben. Manchmal haben wir sogar das Gefühl, nicht wir führten das Stück unseres Lebens auf, sondern tanzten nach der Pfeife einer oder eines anderen. Dieses Gefühl rufen besonders die unausgesprochenen Worte hervor, die in unserem Leben Gestalt gewonnen haben: Die verborgenen Erwartungen und Wünsche, die geheimen Aufträge, die an uns weitergegeben wurden, das Leid oder die Schuld unserer Vorfahren.
Auch das Fleisch gewordene Wort Gottes, das in unserem Leben Gestalt gewonnen hat, stammt nicht von uns, sondern führt in unserem Leben ein Eigenleben. Aber anders als die vielen fremden Worte in unserem Leben bestimmt dieses Wort nicht über uns, zwingt unserem Leben keine fremden Tonarten oder Melodien auf. Vielmehr befreit es uns dazu, die Verfügungsmacht über die Partitur unseres Lebens zurückzuerlangen. Wir können die uns von fremder Hand eingeschriebenen Themen und Melodien zwar nicht ausradieren. Aber wir sind nicht mehr gezwungen, sie fortzuführen.
Wie das Wort das macht? Durch Gnade und Wahrheit. Christus, das Wort Gottes, lässt uns die Wahrheit erkennen. Die Wahrheit über uns: Dass er uns so annimmt, wie wir sind. Wir müssen keinen Normen genügen. Keinen Schönheits-, Größen- oder Verhaltensnormen, keinen Leistungs-, Lebens- oder Liebesnormen. Wir müssen keine Erwartungen erfüllen und keine Aufträge, seien sie ausgesprochen oder unausgesprochen. Wir dürfen sein, wie wir sind. So, wie wir sind, nimmt Christus uns an. So liebt er uns.
Im Licht dieser Wahrheit erkennen wir, welche Erwartungen an uns herangetragen, mit welchen Maßstäben wir gemessen werden. Wir erkennen, dass wir diese Erwartungen nicht erfüllen, diesen Maßstäben nicht genügen müssen, weil wir in den Augen Christi so gut sind, wie wir sind. Dadurch sind wir frei, zu entscheiden, ob wir das weiterhin wollen oder nicht.
Christus, das Wort Gottes, ist barmherzig mit uns. Barmherzig da, wo wir es selbst nicht sein können: wo wir uns selbst nicht annehmen, uns selbst nicht vergeben können. Wo wir über Fehler nicht hinwegkommen, Versäumnissen nachtrauern, falsche Entscheidungen bereuen; wo wir uns schuldig fühlen, ungenügend, unvollkommen. Im Licht seiner Gnade können wir uns selbst gnädig ansehen, können wir uns selbst vergeben. Dadurch können wir uns entscheiden, ob wir die alte Leier über uns weiterspielen, oder ein neues Lied anstimmen wollen.
Gottes Wort eröffnet uns die Freiheit, die Partitur unseres Lebens selbst zu gestalten. Weil es mehr und größer ist als die Worte unserer Vorfahren, Eltern und Mitmenschen. Weil dieses Wort in seiner ganzen Fülle und Herrlichkeit, seiner Gnade und Wahrheit in unserem Leben Fleisch geworden ist.
Gottes Wort bringt das Musikstück, das unser Leben ist, zu einem guten Ende. Das Finale, das nach dem Ende unseres Lebens kommt, steht schon fest; Gott hat es bereits komponiert: Es wird ein prächtiges, glanzvolles und vielstimmiges Amen sein. Gottes Amen zum Leben eines jeden und einer jeden von uns.