Dienstag, 31. Dezember 2024

Lob der Vergänglichkeit

Andacht zum Altjahrsabend, 31.12.2024, über Jesaja 51,4-6

Liebe Schwestern und Brüder,

„das Jahr geht still zu Ende, nun sei auch still, mein Herz.
        In Gottes treue Hände leg ich nun Freud und Schmerz
        und was dies Jahr umschlossen, was Gott der Herr nur weiß,
        die Tränen, die geflossen, die Wunden brennend heiß”,

dichtet Eleonore von Reuß (EG 63,1).

Das Jahr 2024 geht zu Ende, aber nicht still,
sondern mit lautem Böllern und Geknalle.
Hunderte von Euro lassen da manche in Rauch aufgehen,
für den einen, kurzen Moment des Staunens und der Verzückung,
wenn die Raketen ihren Funkenregen versprühen;
für den kurzen Schreck, den der laute Knall verursacht.

Wie soll man bei dem Krach Rückschau halten,
wie die bittere Wehmut verspüren, das Ziehen im Herzen
bei der Erinnerung an die vielen schönen Augenblicke,
die unwiderruflich dahin sind?
Wie sich der Trauer hingeben über die Menschen,
von denen man in diesem Jahr 2024 Abschied nehmen musste?

Man könnte meinen, die Knallerei sei eben dazu da,
unsere Gedanken zu übertönen, damit wir nicht zurückblicken,
damit Trauer und Schwermut uns nicht überkommen -
wenigstens heute Abend nicht.

Die Verse aus dem Propheten Jesaja,
die für die heutige Andacht vorgegeben sind,
bringen mich auf einen anderen Gedanken:
Die Silvesterknallerei muss keine Betäubung der Trauer,
sie könnte vielmehr ein Fest der Vergänglichkeit sein.
Annehmen der Vergänglichkeit -
das könnte ein Motto für das kommende Jahr werden:

Hör mir zu, mein Volk! Meine Leute, hört auf mich!
        Denn Weisung geht von mir aus,
        und meine Wahrheit mache ich zum Licht der Völker im Nu.
        Nah ist mein Recht, meine Hilfe kommt
        und meine Macht wird die Völker zurechtbringen.
        Auf mich hoffen die Inseln, meine Macht erwarten sie.
        Erhebt eure Augen zum Himmel und blickt hinunter auf die Erde:
        Ja, der Himmel wird wie Rauch zerflattern und die Erde wie Stoff zerfasern
und ihre Bewohner wie Mücken sterben.
Aber meine Hilfe wird in Ewigkeit bestehen
und mein Heil nicht enden.

„Der Himmel wird wie Rauch zerflattern und die Erde wie Stoff zerfasern
und ihre Bewohner wie Mücken sterben.”
Das klingt ziemlich düster. Apokalyptisch.
Solch finstere Gedanken müsste man wegballern,
damit sei einem nicht aufs Gemüt schlagen
und einem an Silvester nicht die Stimmung verderben.
Nüchtern betrachtet sprechen sie nur eine Binsenweisheit aus:
Diese Welt ist vergänglich, und:
Wir werden alle sterben - eines Tages.

Warum ist Vergänglichkeit so schmerzhaft, warum tut scheiden so weh?
Wir haben zu Menschen - auch zu Dingen oder Orten -,
die uns lieb sind, sehr starke Bindungen geknüpft.
Wenn eine solche besondere Bindung gekappt wird,
ist das sehr schmerzhaft - in seiner Schwere und seinen Auswirkungen
vergleichbar einer Verletzung,
bis hin zum Verlust eines Körpergliedes oder einer Fähigkeit.

Das kann man nicht kompensieren, dem kann man nicht ausweichen,
das ist einfach nur schmerzhaft.
Das einzig Gute, das man daran entdecken könnte:
Der schreckliche Schmerz zeigt uns,
wie wichtig dieser Mensch für uns war,
wie viel uns ein Ort oder ein Gegenstand bedeutet hat.

Schlimm an der Vergänglichkeit ist auch, dass es keine Wiederholung gibt.
Der Augenblick ist im Nu vorbei; wer nicht aufpasst, hat ihn verpasst.
Fotos oder Chat-Verlauf auf dem Handy geben die falsche Sicherheit,
als könne man zurückspulen und den Augenblick noch einmal erleben.
Aber sie bringen den Augenblick nicht zurück.
Sie machen nur schmerzhaft bewusst, dass er unwiederbringlich vorüber ist.

Alles vergeht - das ist eine Binsenweisheit.
Und doch ist es eine der Bedingungen unserer Existenz.
Das Kleingedruckte sozusagen, dass wir mit unserer Geburt unterschrieben,
ohne eine Wahl gehabt zu haben, ohne gefragt worden zu sein.
Man könnte darüber traurig oder wütend sein.
Man könnte nach Wegen suchen, der Vergänglichkeit zu entgehen
oder wenigstens den Abschied hinauszuschieben.

Man könnte auch akzeptieren, dass das eine Bedingung ist, die wir nicht ändern können,
die zum Leben gehört und unser Leben ausmacht -
ihm vielleicht sogar erst die Schönheit verleiht, die es hat.
Das würde uns vor der Traurigkeit über das Vergangene bewahren
und uns vielleicht auch helfen, die Trauer über einen Verlust besser zu bewältigen.
Das wiederum könnte Energien freisetzen,
die dann für das Leben und Erleben des Moments zur Verfügung stehen.
Morgen muss ich abreisen?
Aber heute bin ich noch da, kann hier und jetzt etwas erleben,
hier und jetzt Menschen treffen, die ich dort nicht um mich habe.

Das Akzeptieren der Vergänglichkeit setzt Energien frei,
die unsere Gegenwart und unsere Zukunft verändern.
„Meine Hilfe wird in Ewigkeit bestehen
und mein Heil nicht enden”
, sagt Gott.
In aller Veränderung, in aller Vergänglichkeit
ist Gott der Bleibende, der Konstante.
Gott schwebt nicht ungerührt und unberührbar über den Dingen.
Er ist der uns zugewandte Gott, der uns helfen und Gutes für uns will.

Gott ist Mensch geworden, um sich berührbar und verletzlich zu machen.
Nur wer selbst Liebe und Freude, Trauer und Leid empfindet,
kann mit anderen mitfühlen.
Empathie setzt voraus, dass man in Kauf nimmt, etwas zu erleiden.
Wer sich dem Leben und den Mitmenschen öffnet,
wird nicht nur Freude, Liebe und Glück,
sondern auch Trauer, Leid und Schmerz empfinden.
Vor diesen Gefühlen braucht man keine Angst zu haben.
Man muss sie auch nicht mit Geböllere übertönen.

Gott setzt den Bedingungen, die uns das Leben stellt,
seine Bedingungen entgegen: seine Hilfe und sein Heil.
Sie heben die Wirkung der Vergänglichkeit auf.
Dieser Augenblick jetzt ist zwar unwiederbringlich vorüber.
Aber da ist schon der nächste,
der mir Schönheit, Glück oder ein Wunder bescheren kann.
Und selbst, wenn er mir Leid bringt, Trauer oder Schmerz,
bin ich dem nicht allein ausgeliefert.
Gott ist bei mir und macht das Schwere erträglich,
verwandelt das Bittere in Süßes, die Trauer in Dankbarkeit.

Die Funkenblumen, die die Silversterraketen an den Himmel malen,
erinnern uns an die Vergänglichkeit alles Schönen.
Und sie zeigen uns, dass schon im nächsten Moment
wieder etwas ebenso Schönes entstehen kann.

Im kommenden Jahr 2025 erwarten uns mindestens 365 neue Anfänge.
365 Gelegenheiten, Schönheit, Freude, Liebe und Glück zu erleben.
Gott sei Dank, dass er uns diese Gelegenheiten schenkt, jeden Tag aufs Neue!